Die Flucht ohne Ende. Йозеф РотЧитать онлайн книгу.
erscheint. Wir sind keine Opfer, und wir bringen keine Opfer für die Revolution. Wir sind selbst die Revolution.«
»Eine bürgerliche Ideologie«, sagte Natascha. »Welchen Arbeiter lockst du damit hinter seinem Ofen hervor? Du redest verstiegenes Zeug, ich wundere mich, woher du es hast. Du redest, als hättest du mindestens sechs Semester Philosophie. Ein Glück, daß deine Artikel nicht so geschrieben sind. Ein paar sind ganz gut.«
Für die Liebe bezeugte Natascha immer weniger Interesse. Die Liebe gehörte ja zu den Gebräuchen des Bürgerkrieges, zu den Sitten im Felde, der friedlichen Kulturpropaganda konnte sie abträglich sein. Natascha kam um Mitternacht nach Hause, bis zwei Uhr dauerten ihre Diskussionen, um sieben Uhr früh mußte sie aufstehen. Die Liebe hätte zur Folge gehabt, daß sie eine Stunde später ihr Tagewerk begonnen hätte.
Auch langweilte sie Tunda, ein Mann ohne Energie, dessen Rückfälle in die bourgeoise Ideologie allein schon in seiner stärkeren Liebesbereitschaft deutlich wurden. Nikita Kolohin, ein ukrainischer Kommunist, der für die nationale Autonomie der Ukraine kämpfte und die Großrussen verachtete, weil sie nicht alle Worte des ukrainischen Dialekts verstanden, hatte in den letzten Tagen mit Natascha viele Stunden lang die Lage der ukrainischen Nation besprochen und bei dieser Gelegenheit bewiesen, wie hoch er über einem österreichischen Offizier stand. Natascha erinnerte sich, daß sie ja in Kiew zur Welt gekommen, also eigentlich Ukrainerin war, daß in Kiew ihr Posten war und nirgendwo sonst. Sie reiste mit Nikita nach Kiew – – was war da anderes zu machen?
Sie lernte ein paar kernige ukrainische Ausdrücke, fuhr durch die Dörfer, erinnerte die Bauern an ihre nationalen Pflichten und traf mit Nikita wieder in Charkow zusammen, das nunmehr Charkiw hieß und in dem ein kleines Zimmer für sie und Nikita bei Freunden vorbereitet war.
Leider vergaß Natascha, Tunda rechtzeitig von ihrem längeren Aufenthalt in der Ukraine zu verständigen. Daher kam es, daß Tunda zuerst eifersüchtig wurde und annahm, ein Mann oder mehrere würden Natascha verhindern, in der Nacht nach Hause zu kommen. Er suchte sie in allen Klubs, allen Heimen, allen Redaktionen, allen Büros. Dann wurde er wehmütig; es war der erste Schritt zur Erkenntnis. Er vergaß, Artikel zu schreiben, das nötige Geld für die nächsten Tage zu verdienen, er hungerte fast. Ein paar bekannten Genossen erzählte er von Nataschas Abwesenheit. Sie sahen ihn gleichgültig an. Jeder von ihnen hatte in diesen Monaten ähnliche Erfahrungen gemacht. Aber es stand ja fest, daß die Welt neu eingerichtet werden mußte und daß kleine private Schmerzen lächerlich waren.
Nur Iwan Alexejewitsch, Iwan der Grausame genannt, weil er im Bürgerkrieg den gefangenen Popen aus ihren langen Haaren Zöpfe geflochten, einige an den Zöpfen zusammengebunden und jeden dann in eine andere Richtung hatte laufen lassen, Iwan Alexejewitsch, der jetzt noch bei der Kavallerie diente, eigentlich gutmütig war und Grausamkeiten nur aus Überfluß an Phantasie beging, Iwan allein ließ sich in ein längeres Gespräch über die Liebe ein.
»Die Liebe«, so sagte Iwan, »ist gar nicht abhängig von der Revolution. Im Krieg hast du mit Natascha geschlafen, sie war ein Soldat, du warst ein Soldat, ob Revolution oder nicht, ob Kapitalismus oder Sozialismus, die Liebe hält nur bei gleich und gleich einige Jahre. Jetzt ist Natascha kein Soldat mehr, sie ist eine Politikerin, und du bist – – das weiß ich nicht, was du bist. Früher einmal hat man die Frau geschlagen, wenn sie nicht nach Hause kam, aber wie willst du diese Frau schlagen, die wie zwanzig Männer gekämpft hat? Sie hat nicht nur gleiche Rechte, sie hat mehr Rechte als du. Deshalb bin ich gar nicht in mein Dorf zurück. Dort lebt meine Frau mit fünf Kindern (wenn sie nicht noch einige hat, aber die ersten fünf sind von mir). Bevor ich zur Roten Armee ging, habe ich alle geschlagen, alle fünf und die Frau, jetzt bin ich aufgeklärt, wenn ich nach Hause käme, müßte ich selbst sagen: mit dem Prügeln ist es aus. Aber es wäre gegen meine Natur, ich hätte doch fortwährend Lust, diesen und jenen in meiner Familie zu verprügeln, und ich dürfte es nicht. Daraus könnten sich dann Konflikte entwickeln, und ein anständiges Familienleben käme nicht zustande, wenn ich mich fortwährend beherrschen müßte.«
Nicht einmal die Rückkehr Nataschas tröstete Tunda. Sie kam nach einigen Wochen, mußte zu einem Arzt und dachte weder an Tunda mehr noch an die ukrainische Nation. Sie blieb acht Tage im Bett, Tunda bediente den Spirituskocher. Wer diese Tätigkeit kennt, wird wissen, daß keine andere wie sie geeignet ist, auch sentimentale Männer zur Kritik zu erziehen. In diesen acht Tagen wurde Tunda seiner Liebe, die sich in Kochen verwandelt hatte, einfach müde.
Mit Hilfe einiger alter Freunde aus der Zeit des Kriegskommunismus fand er einen Schreibtisch. Er saß in dem Büro eines neubegründeten Instituts, dessen Aufgabe es war, einige kleine Völker des Kaukasus mit einem neuen Alphabet, mit Fibeln, mit primitiven Zeitungen zu versehen, neue nationale Kulturen zu schaffen. Tunda bekam den Auftrag, mit Probezeitungen, Zeitschriften, Propagandamaterial nach dem Kaukasus zu reisen, an den Fluß Terek, an dessen Ufer ein Völkchen lebte, das nach alten Statistiken zwölftausend Seelen zählen sollte.
Er wohnte einige Wochen im Hause eines besser situierten Kumyken, der aus religiösen Gründen Gastfreundschaft übte und den unbequemen Fremden mit freundlicher Fürsorge behandelte.
Es blieb Tunda nicht viel zu tun übrig. Einige junge Leute hatten sich schon der Kultur bemächtigt, Klubs gegründet und Wandzeitungen verfaßt.
Es stellte sich heraus, daß die Leute nicht schnell genug lernten. Man mußte ihnen mit Filmen nachhelfen. Tunda wurde Leiter eines Kinos, das allerdings nur dreimal in der Woche spielen konnte.
Zu seinen ständigen Gästen gehörte ein Mädchen namens Alja, Tochter eines Grusiniers und einer Tattin.
Das Mädchen lebte bei ihrem Onkel, einem Töpfer, der seine Arbeit unter freiem Himmel verrichtete und dank einer bestimmten Veranlagung, aber auch infolge des eintönigen Lebens, ein bißchen stumpfsinnig geworden war. Er verstand keine Sprache, er verwendete, um sich zu verständigen, nur ein paar Brocken, die er langsam mit den Fingern aus seinem Hirn herauszuholen schien.
Das Mädchen war schön und still. Sie ging in der Stille herum wie in einem Schleier. Manche Tiere erzeugen so eine Stille, in der sie dann ihr Leben verbringen, als hätten sie ein Gelübde getan, einem geheimen und höheren Zweck zu dienen. Das Mädchen schwieg, ihre großen braunen Pupillen lagen in dunkelblauem Augenweiß, sie ging so aufrecht, als trüge sie einen Krug auf dem Kopf, ihre Hände lagen immer auf dem Schoß, wie unter einer Schürze.
Dieses Mädchen war Tundas zweite Liebe.
6
Tunda führte sein Beruf manchmal nach Moskau. Er ging jede Nacht auf den Roten Platz. Der Rote Platz war still, alle Tore waren geschlossen, die Posten in den Eingängen zum Kreml standen in langen Mänteln wie aus Holz, das Mausoleum Lenins war schwarz, rechts auf dem Dach züngelte die rote Fahne gegen den Himmel, von unten her beleuchtet. Hier war der einzige Ort, auf dem man noch die Revolution fühlte, und Mitternacht die einzige Stunde, in der man sie fühlen durfte.
Tunda dachte an den roten Krieg, an die Jahre, in denen man nur zu sterben wußte und in denen das Leben, die Sonne, der Mond, die Erde, der Himmel nur Rahmen oder Hintergrund für den Tod waren. Der Tod, der rote Tod, marschierte Tag und Nacht über die Erde mit einer großartigen Marschmusik, mit großen Trommeln, die klangen wie galoppierende Hufe über Eisen und zertrümmertes Glas, Scherben schüttete er aus seinen Händen, die Schüsse hörte man wie ferne Rufe marschierender Massen.
Jetzt bemächtigte sich die Ordnung des Tags dieses großen, roten Todes, er wurde ein ganz gewöhnlicher Tod, der von Haus zu Haus schlich wie ein Bettler und sich seine Toten holte wie Almosen. Man begrub sie in roten Särgen, Gesangvereine warfen Strophen in die Gräber, die Lebenden gingen zurück und setzten sich wieder in die Büros, schrieben Register und Statistiken, Aufnahmebogen für die neuen Mitglieder und Urteile gegen Ausgeschlossene.
Es ist kein Trost zu denken, daß man ohne Schreibtisch und Federn, ohne Büsten aus Gips und ohne revolutionär drapierte Schaufenster, ohne Denkmäler und Tintenlöscher mit dem Kopf von Bebel als Griff wahrscheinlich keine neue Welt einrichten kann; es ist kein Trost, es ist keine Hilfe.
»Aber eine Revolution