Die Welt von Gestern. Stefan ZweigЧитать онлайн книгу.
allem den Einsatz einer rücksichtslosen, blind dreinschlagenden Sturmtruppe und damit das Prinzip, durch Terror einer kleinen Gruppe die zahlenmäßig weit überlegene, aber human-passivere Majorität einzuschüchtern. Was für den Nationalsozialismus die SA-Männer leisteten, die Versammlungen mit Gummiknüppeln zersprengten, Gegner nachts überfielen und zu Boden hieben, besorgten für die Deutschnationalen die Corpsstudenten, die unter dem Schutz der akademischen Immunität einen Prügelterror ohnegleichen etablierten und bei jeder politischen Aktion auf Ruf und Pfiff militärisch organisiert aufmarschierten. Zu sogenannten ›Burschenschaften‹ gruppiert, zerschmissenen Gesichts, versoffen und brutal, beherrschten sie die Aula, weil sie nicht wie die andern bloß Bänder und Mützen trugen, sondern mit harten, schweren Stöcken bewehrt waren; unablässig provozierend, hieben sie bald auf die slawischen, bald auf die jüdischen, die katholischen, die italienischen Studenten ein und trieben die Wehrlosen aus der Universität. Bei jedem ›Bummel‹ (so hieß jener Samstag der Studentenparade) floß Blut. Die Polizei, die dank dem alten Privileg der Universität die Aula nicht betreten durfte, mußte von außen tatenlos zusehen, wie diese feigen Radaubrüder wüteten, und durfte sich ausschließlich darauf beschränken, die Verletzten, die blutend von den nationalen Rowdies die Treppe hinab auf die Straße geschleudert wurden, fortzutragen. Wo immer die winzige, aber maulaufreißerische Partei der Deutschnationalen in Österreich etwas erzwingen wollte, schickte sie diese studentische Sturmtruppe vor; als Graf Badeni unter Zustimmung des Kaisers und des Parlaments eine Sprachenverordnung beschlossen hatte, die Frieden zwischen den Nationen Österreichs schaffen sollte und wahrscheinlich den Bestand der Monarchie noch um Jahrzehnte verlängert hätte, besetzte diese Handvoll junger, verhetzter Burschen die Ringstraße. Kavallerie mußte ausrücken, es wurde mit dem Säbel zugeschlagen und geschossen. Aber so groß war in jener tragisch schwachen und rührend humanen liberalen Ära der Abscheu vor jedem gewalttätigen Tumult und jedem Blutvergießen, daß die Regierung vor dem deutschnationalen Terror zurückwich. Der Ministerpräsident demissionierte, und die durchaus loyale Sprachenverordnung wurde aufgehoben. Der Einbruch der Brutalität in die Politik hatte seinen ersten Erfolg zu verzeichnen. Alle die unterirdischen Risse und Sprünge zwischen den Rassen und Klassen, die das Zeitalter der Konzilianz so mühsam verkleistert hatte, brachen auf und wurden Abgründe und Klüfte. In Wirklichkeit hatte in jenem letzten Jahrzehnt vor dem neuen Jahrhundert der Krieg aller gegen alle in Österreich schon begonnen.
Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat: wir blickten nur auf Bücher und Bilder. Wir hatten nicht das geringste Interesse für politische und soziale Probleme: was bedeuteten diese grellen Zänkereien in unserem Leben? Die Stadt erregte sich bei den Wahlen, und wir gingen in die Bibliotheken. Die Massen standen auf, und wir schrieben und diskutierten Gedichte. Wir sahen nicht die feurigen Zeichen an der Wand, wir tafelten wie weiland König Belsazar unbesorgt von all den kostbaren Gerichten der Kunst, ohne ängstlich vorauszublicken. Und erst als Jahrzehnte später Dach und Mauern über uns einstürzten, erkannten wir, daß die Fundamente längst unterhöhlt gewesen waren und mit dem neuen Jahrhundert zugleich der Untergang der individuellen Freiheit in Europa begonnen hatte.
1 In bezug auf den jung verstorbenen August Oehler liegt hier eine Gedächtnistäuschung Stefan Zweigs vor.
Eros Matutinus
Während dieser acht Jahre der höheren Schule ereignete sich für jeden von uns ein höchst persönliches Faktum: wir wurden aus zehnjährigen Kindern allmählich sechzehnjährige, siebzehnjährige, achtzehnjährige mannbare junge Menschen, und die Natur begann ihre Rechte anzumelden. Dieses Erwachen der Pubertät scheint nun ein durchaus privates Problem, das jeder heranwachsende Mensch auf seine eigene Weise mit sich auszukämpfen hat, und für den ersten Blick keineswegs zu öffentlicher Erörterung geeignet. Für unsere Generation aber wuchs jene Krise über ihre eigentliche Sphäre hinaus. Sie zeigte zugleich ein Erwachen in einem anderen Sinne, denn sie lehrte uns zum erstenmal jene gesellschaftliche Welt, in der wir aufgewachsen waren, und ihre Konventionen mit kritischerem Sinn zu beobachten. Kinder und selbst junge Leute sind im allgemeinen geneigt, sich zunächst den Gesetzen ihres Milieus respektvoll anzupassen. Aber sie unterwerfen sich den ihnen anbefohlenen Konventionen nur insolange, als sie sehen, daß diese auch von allen andern ehrlich innegehalten werden. Eine einzige Unwahrhaftigkeit bei Lehrern oder Eltern treibt den jungen Menschen unvermeidlich an, seine ganze Umwelt mit mißtrauischem und damit schärferem Blick zu betrachten. Und wir brauchten nicht lange, um zu entdecken, daß alle jene Autoritäten, denen wir bisher Vertrauen geschenkt, daß Schule, Familie und die öffentliche Moral in diesem einen Punkt der Sexualität sich merkwürdig unaufrichtig gebärdeten – und sogar mehr noch: daß sie auch von uns in diesem Belange Heimlichkeit und Hinterhältigkeit forderten.
Denn man dachte anders über die Dinge vor dreißig und vierzig Jahren als in unserer heutigen Welt. Vielleicht auf keinem Gebiete des öffentlichen Lebens hat sich durch eine Reihe von Faktoren – die Emanzipation der Frau, die Freudsche Psychoanalyse, den sportlichen Körperkult, die Verselbständigung der Jugend – innerhalb eines einzigen Menschenalters eine so totale Verwandlung vollzogen wie in den Beziehungen der Geschlechter zueinander. Versucht man den Unterschied der bürgerlichen Moral des neunzehnten Jahrhunderts, die im wesentlichen eine victorianische war, gegenüber den heute gültigen, freieren und unbefangeneren Anschauungen zu formulieren, so kommt man der Sachlage vielleicht am nächsten, wenn man sagt, daß jene Epoche dem Problem der Sexualität aus dem Gefühl der inneren Unsicherheit ängstlich auswich. Frühere, noch ehrlich religiöse Zeitalter, insbesondere die streng puritanischen, hatten es sich leichter gemacht. Durchdrungen von der redlichen Überzeugung, daß sinnliches Verlangen der Stachel des Teufels sei und körperliche Lust Unzucht und Sünde, hatten die Autoritäten des Mittelalters das Problem gerade angegangen und mit schroffem Verbot und – besonders im calvinistischen Genf – mit grausamen Strafen ihre harte Moral durchgezwungen. Unser Jahrhundert dagegen, als eine tolerante, längst nicht mehr teufelsgläubige und kaum mehr gottgläubige Epoche brachte nicht mehr den Mut auf zu einem solchen radikalen Anathema, aber es empfand die Sexualität als ein anarchisches und darum störendes Element, das sich nicht in ihre Ethik eingliedern ließ, und das man nicht am lichten Tage schalten lassen dürfe, weil jede Form einer freien, einer außerehelichen Liebe dem bürgerlichen ›Anstand‹ widersprach. In diesem Zwiespalt erfand nun jene Zeit ein sonderbares Kompromiß. Sie beschränkte ihre Moral darauf, dem jungen Menschen zwar nicht zu verbieten, seine vita sexualis auszuüben, aber sie forderte, daß er diese peinliche Angelegenheit in irgendeiner unauffälligen Weise erledigte. War die Sexualität schon nicht aus der Welt zu schaffen, so sollte sie wenigstens innerhalb ihrer Welt der Sitte nicht sichtbar sein. Es wurde also die stillschweigende Vereinbarung getroffen, den ganzen ärgerlichen Komplex weder in der Schule, noch in der Familie, noch in der Öffentlichkeit zu erörtern und alles zu unterdrücken, was an sein Vorhandensein erinnern könnte.
Für uns, die wir seit Freud wissen, daß, wer natürliche Triebe aus dem Bewußtsein zu verdrängen sucht, sie damit keineswegs beseitigt, sondern nur ins Unterbewußtsein gefährlich verschiebt, ist es leicht, heute über die Unbelehrtheit jener naiven Verheimlichungstechnik zu lächeln. Aber das ganze neunzehnte Jahrhundert war redlich in dem Wahn befangen, man könne mit rationalistischer Vernunft alle Konflikte lösen, und je mehr man das Natürliche verstecke, desto mehr temperiere man seine anarchischen Kräfte; wenn man also junge Leute durch nichts über ihr Vorhandensein aufkläre, würden sie ihre eigene Sexualität vergessen. In diesem Wahn, durch Ignorieren zu temperieren, vereinten sich alle Instanzen zu einem gemeinsamen Boykott durch hermetisches Schweigen. Schule und kirchliche Seelsorge, Salon und Justiz, Zeitung und Buch, Mode und Sitte vermieden prinzipiell jedwede Erwähnung des Problems, und schmählicherweise schloß sich sogar die Wissenschaft, deren eigentliche Aufgabe es doch sein sollte, an alle Probleme gleich unbefangen heranzutreten, diesem ›naturalia sunt turpia‹ an. Auch sie kapitulierte unter dem Vorwand, es sei unter der Würde der Wissenschaft, solche skabrösen Themen zu behandeln. Wo immer man in den Büchern jener Zeit nachblättert, in den philosophischen, juristischen und sogar in den medizinischen, wird man übereinstimmend finden, daß jeder Erörterung ängstlich aus dem Wege gegangen wird. Wenn Strafrechtsgelehrte bei Kongressen die Humanisierungsmethoden in den Gefängnissen und