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Die Welt von Gestern. Stefan ZweigЧитать онлайн книгу.

Die Welt von Gestern - Stefan Zweig


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von Bürgerhäusern sah man noch nach Jahrzehnten diese unscheinbaren Holzsplitter in kostbarer Kassette bewahrt, wie in den Kirchen die Splitter des heiligen Kreuzes. Wir selbst handelten nicht viel vernünftiger, als der sogenannte Bösendorfer Saal niedergerissen wurde.

      An sich war dieser kleine Konzertsaal, der ausschließlich der Kammermusik vorbehalten war, ein ganz unbedeutendes, unkünstlerisches Bauwerk, die frühere Reitschule des Fürsten Liechtenstein, und nur durch eine Holzverschalung völlig prunklos zu musikalischen Zwecken adaptiert. Aber er hatte die Resonanz einer alten Violine, er war den Liebhabern der Musik geheiligte Stätte, weil Chopin und Brahms, Liszt und Rubinstein darin konzertiert, weil viele der berühmten Quartette hier zum ersten Male erklungen. Und nun sollte er einem neuen Zweckbau weichen; es war unfaßbar für uns, die hier unvergeßliche Stunden erlebt. Als die letzten Takte Beethovens verklangen, vom Roséquartett herrlicher als jemals gespielt, verließ keiner seinen Platz. Wir lärmten und applaudierten, einige Frauen schluchzten vor Erregung, niemand wollte es wahrhaben, daß es ein Abschied war. Man verlöschte im Saal die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner von den vier- oder fünfhundert der Fanatiker wich von seinem Platz. Eine halbe Stunde, eine Stunde blieben wir, als ob wir es erzwingen könnten durch unsere Gegenwart, daß der alte geheiligte Raum gerettet würde. Und wie haben wir als Studenten mit Petitionen, mit Demonstrationen, mit Aufsätzen darum gekämpft, daß Beethovens Sterbehaus nicht demoliert würde! Jedes dieser historischen Häuser in Wien war wie ein Stück Seele, das man uns aus dem Leibe riß.

      Dieser Fanatismus für die Kunst und insbesondere für die theatralische Kunst ging in Wien durch alle Stände. An sich war Wien durch seine hundertjährige Tradition eigentlich eine deutlich geschichtete und zugleich – wie ich einmal schrieb – wunderbar orchestrierte Stadt. Das Pult gehörte noch immer dem Kaiserhaus. Die kaiserliche Burg war das Zentrum nicht nur im räumlichen Sinn, sondern auch im kulturellen der Übernationalität der Monarchie. Um diese Burg bildeten die Palais des österreichischen, polnischen, tschechischen, ungarischen Hochadels gewissermaßen den zweiten Wall. Dann kam die ›gute Gesellschaft‹, bestehend aus dem kleineren Adel, der hohen Beamtenschaft, der Industrie und den ›alten Familien‹, darunter dann das Kleinbürgertum und das Proletariat. Alle diese Schichten lebten in ihrem eigenen Kreise und sogar in eigenen Bezirken, der Hochadel in seinen Palästen im Kern der Stadt, die Diplomatie im dritten Bezirk, die Industrie und die Kaufmannschaft in der Nähe der Ringstraße, das Kleinbürgertum in den inneren Bezirken, dem zweiten bis neunten, das Proletariat in dem äußeren Kreis; alles aber kommunizierte im Theater und bei den großen Festlichkeiten wie etwa dem Blumenkorso im Prater, wo dreimal hunderttausend Menschen die ›oberen Zehntausend‹ begeistert in ihren wunderbar geschmückten Wagen akklamierten. In Wien wurde alles zum festlichen Anlaß, was Farbe oder Musik entäußerte, die religiösen Umzüge wie das Fronleichnamsfest, die Militärparaden, die ›Burgmusik‹; selbst die Begräbnisse fanden begeisterten Zulauf, und es war der Ehrgeiz jedes rechten Wieners, eine ›schöne Leich‹ mit prunkvollem Aufzug und vielen Begleitern zu haben; sogar seinen Tod verwandelte ein richtiger Wiener noch in eine Schaufreude für die andern. In dieser Empfänglichkeit für alles Farbige, Klingende, Festliche, in dieser Lust am Schauspielhaften als Spiel- und Spiegelform des Lebens, gleichgültig ob auf der Bühne oder im realen Raum, war die ganze Stadt einig.

      Über diese ›Theatromanie‹ der Wiener, die wirklich mit ihrer Nachspürerei nach den winzigsten Lebensumständen ihrer Lieblinge manchmal ins Groteske ausartete, war zu spotten keineswegs schwer, und unsere österreichische Indolenz im Politischen, das Zurückbleiben im Wirtschaftlichen gegenüber dem resoluten deutschen Nachbarreich mag tatsächlich zum Teil dieser genießerischen Überschätzung zuzuschreiben sein. Aber kulturell hat diese Überwertung der künstlerischen Geschehnisse etwas Einzigartiges gezeitigt – eine ungemeine Ehrfurcht vorerst vor jeder künstlerischen Leistung, dann in ihrer jahrhundertelangen Übung ein Kennertum ohnegleichen und dank dieses Kennertums wiederum schließlich ein überragendes Niveau auf allen kulturellen Gebieten. Immer fühlt sich der Künstler dort am wohlsten und zugleich am angeregtesten, wo er geschätzt und sogar überschätzt wird. Immer erreicht Kunst dort ihren Gipfel, wo sie Lebensangelegenheit eines ganzen Volkes wird. Und so wie Florenz, wie Rom in der Renaissance die Maler an sich heranzog und zur Größe erzog, weil jeder fühlte, daß er in einem ständigen Wettstreit vor der ganzen Bürgerschaft die andern und sich selbst ununterbrochen übertreffen mußte, so wußten auch die Musiker, die Schauspieler in Wien um ihre Wichtigkeit in der Stadt. In der Wiener Oper, im Wiener Burgtheater wurde nichts übersehen; jede falsche Note wurde sofort bemerkt, jeder unrichtige Einsatz, jede Kürzung gerügt, und diese Kontrolle nicht etwa nur bei den Premieren durch die professionellen Kritiker geübt, sondern Tag für Tag durch das wachsame und durch ständiges Vergleichen geschärfte Ohr des ganzen Publikums. Während im Politischen, im Administrativen, in den Sitten alles ziemlich gemütlich zuging, und man gutmütig gleichgültig war gegen jede ›Schlamperei‹ und nachsichtig gegen jeden Verstoß, gab es in künstlerischen Dingen keinen Pardon; hier war die Ehre der Stadt im Spiel. Jeder Sänger, jeder Schauspieler, jeder Musiker mußte ununterbrochen sein Äußerstes geben, sonst war er verloren. Es war herrlich, in Wien ein Liebling zu sein, aber es war nicht leicht, Liebling zu bleiben; ein Nachlassen wurde nicht verziehen. Und dieses Wissen um das ständige und mitleidlose Überwachtsein zwang jedem Künstler in Wien sein Äußerstes ab und gab dem Ganzen das wunderbare Niveau. Jeder von uns hat von diesen Jugendjahren ein strenges, ein unerbittliches Maß für künstlerische Darbietung in sein Leben mitgenommen. Wer in der Oper unter Gustav Mahler eisernste Disziplin bis ins kleinste Detail, bei den Philharmonikern Schwungkraft mit Akribie als selbstverständlich verbunden gekannt, der ist eben heute selten von einer theatralischen oder musikalischen Aufführung voll befriedigt. Aber damit haben wir gelernt, auch gegen uns selbst bei jeder Kunstdarbietung streng zu sein; ein Niveau war und blieb uns vorbildlich, wie es in wenigen Städten der Welt dem werdenden Künstler anerzogen wurde. Aber auch tief in das Volk hinab ging dieses Wissen um richtigen Rhythmus und Schwung, denn selbst der kleinste Bürger, der beim ›Heurigen‹ saß, verlangte von der Kapelle ebenso gute Musik wie vom Wirt guten Wein; im Prater wiederum wußte das Volk genau, welche Militärkapelle den meisten ›Schmiß‹ hatte, ob die ›Deutschmeister‹ oder die ›Ungarn‹; wer in Wien lebte, bekam gleichsam aus der Luft das Gefühl für Rhythmus in sich. Und so wie diese Musikalität sich bei uns Schriftstellern in einer besonders gepflegten Prosa ausdrückte, drang das Taktgefühl bei den andern in die gesellschaftliche Haltung und in das tägliche Leben ein. Ein Wiener ohne Kunstsinn und Formfreude war undenkbar in der sogenannten ›guten‹ Gesellschaft, aber selbst in den unteren Ständen nahm der Ärmste einen gewissen Instinkt für Schönheit schon aus der Landschaft, aus der menschlich heiteren Sphäre in sein Leben mit; man war kein wirklicher Wiener ohne diese Liebe zur Kultur, ohne diesen gleichzeitig genießenden und prüfenden Sinn für diese heiligste Überflüssigkeit des Lebens.

      Nun ist Anpassung an das Milieu des Volkes oder des Landes, inmitten dessen sie wohnen, für Juden nicht nur eine äußere Schutzmaßnahme, sondern ein tief innerliches Bedürfnis. Ihr Verlangen nach Heimat, nach Ruhe, nach Rast, nach Sicherheit, nach Unfremdheit drängt sie, sich der Kultur ihrer Umwelt leidenschaftlich zu verbinden. Und kaum verwirklichte sich – außer in Spanien im fünfzehnten Jahrhundert – eine solche Bindung glücklicher und fruchtbarer als in Österreich. Seit mehr als zweihundert Jahren eingesessen in der Kaiserstadt, begegneten die Juden hier einem leichtlebigen, zur Konzilianz geneigten Volke, dem unter dieser scheinbar lockeren Form derselbe tiefe Instinkt für geistige und ästhetische Werte, wie sie ihnen selbst so wichtig waren, innewohnte. Und sie begegneten sogar noch mehr in Wien; sie fanden hier eine persönliche Aufgabe. In dem letzten Jahrhundert hatte die Kunstpflege in Österreich ihre alten traditionellen Hüter und Protektoren verloren: das Kaiserhaus und die Aristokratie. Während im achtzehnten Jahrhundert Maria Theresia ihre Töchter von Gluck in Musik unterweisen ließ, Joseph II. mit Mozart dessen Opern als Kenner diskutierte, Leopold III. selbst komponierte, hatten die späteren Kaiser Franz II. und Ferdinand keinerlei Interessen an künstlerischen Dingen mehr, und unser Kaiser Franz Joseph, der in seinen achtzig Jahren nie ein Buch außer dem Armeeschematismus gelesen oder auch nur in die Hand genommen, bezeigte sogar eine ausgesprochene Antipathie gegen Musik. Ebenso hatte der Hochadel seine einstige Protektorstellung aufgegeben; vorbei waren die glorreichen Zeiten, da die Esterházys einen Haydn beherbergten, die Lobkowitz und Kinskys und Waldsteins wetteiferten,


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