Das Geld. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
Der Gedanke an Gewinn hat keinen Sinn mehr. Die Quellen der Spekulation, der ohne Arbeit gewonnenen Renten, sind versiegt.«
»Hoho«, unterbrach ihn Saccard, »das würde die Gewohnheiten von sehr vielen Leuten verteufelt verändern! Aber was machen Sie mit denen, die heute Renten haben? ... Mit Gundermann zum Beispiel, nehmen Sie ihm seine Milliarde weg?«
»Keineswegs, wir sind keine Diebe. Wir würden von ihm für in jährliche Leibrenten aufgeteilte Gutscheine seine Milliarde, alle seine Wert- und Staatspapiere zurückkaufen. Und stellen Sie sich bloß dieses ungeheure Kapital vor, das auf diese Weise durch einen beklemmenden Reichtum an Konsumgütern ersetzt wird: in weniger als hundert Jahren wären die Nachkommen Ihres Gundermann wieder darauf angewiesen, selbst zu arbeiten wie alle anderen Bürger auch; denn die Leibrenten würden sich schließlich doch einmal erschöpfen, und sie könnten ihre erzwungenen Ersparnisse, den Überschuß dieser erdrückenden Masse von Vorräten nicht zum Kapital schlagen, selbst wenn man annimmt, daß das Erbrecht unangetastet bliebe ... Ich sage Ihnen, daß das auf einen Schlag nicht nur die Einzelunternehmen, die Aktiengesellschaften und alle anderen Vereinigungen von Privatkapital, sondern auch alle mittelbaren Quellen für Renten, alle Kreditformen, Darlehen, Mieten und Pachten hinwegfegt ... Es gibt nur noch die Arbeit als Maß für den Wert. Der Lohn fällt natürlich weg, weil er im gegenwärtigen kapitalistischen System nicht dem genauen Produkt der Arbeit entspricht und immer nur das darstellt, was der Arbeiter für seinen täglichen Unterhalt unbedingt braucht. Und man muß einsehen, daß allein der gegenwärtige Zustand schuld ist, wenn auch der anständigste Unternehmer, um leben zu können, einfach gezwungen wird, dem harten Konkurrenzgesetz zu folgen und seine Arbeiter auszubeuten. Unser ganzes Gesellschaftssystem muß zerstört werden ... Gundermann, der unter der Last seiner Gutscheine erstickt! Und Gundermanns Erben, die gar nicht alles auffressen können, die genötigt sein werden, den anderen etwas abzugeben und wieder zur Hacke oder zum Werkzeug zu greifen, wie die Arbeiter!«
Und Sigismond brach in das harmlose Lachen eines spielenden Kindes aus, während er immer noch am Fenster stand und auf die Börse hinabsah, wo der schwarze Ameisenhaufen der Spekulation wimmelte. Brennende Röte stieg ihm in die Wangen, er hatte kein anderes Vergnügen, als sich auf diese Weise die spaßigen Ironien der Gerechtigkeit von morgen vorzustellen.
Saccards Unbehagen war gewachsen. Sollte dieser Mann, der wachend träumte, doch die Wahrheit sagen? Sollte er die Zukunft erraten haben? Er erklärte Dinge, die sehr klar und vernünftig schienen.
»Ach was!« murmelte er, um sich zu beruhigen. »Nächstes Jahr wird das alles noch nicht passieren.«
»Gewiß nicht!« versetzte der junge Mann, der wieder ernst und müde geworden war. »Wir sind in der Übergangszeit, in der Periode der Agitation. Vielleicht wird es revolutionäre Gewalttätigkeiten geben, die sind oft unvermeidlich. Aber die Übertreibungen, die Ausschreitungen sind nur vorübergehend ... Oh, ich verhehle mir nicht die unmittelbaren großen Schwierigkeiten. Diese ganze erträumte Zukunft scheint unmöglich, unsereins kann den Leuten keinen vernünftigen Begriff von dieser künftigen Gesellschaft vermitteln, von dieser Gesellschaft der gerechten Arbeit, deren Sitten so verschieden von den unseren sein werden. Das ist wie eine andere Welt auf einem anderen Planeten ... Und dann müssen wir wohl auch zugeben, daß die Neugestaltung noch nicht fertig ist, wir suchen noch. Ich finde kaum noch Zeit zum Schlafen und verbringe meine Nächte über diesem Problem. Zum Beispiel steht fest, daß man uns sagen kann: ›Wenn die Dinge sind, wie sie sind, so hat die Logik der menschlichen Handlungen sie dazu gemacht.‹ Was für eine Mühsal bereitet es folglich, den Strom zu seiner Quelle zurückzubringen und in ein anderes Tal umzuleiten! ... Gewiß verdankt die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ihre hundert Jahre währende Prosperität dem individualistischen Prinzip, das aus dem Wettbewerb und dem persönlichen Interesse durch eine unaufhörlich erneuerte Fruchtbarkeit der Produktion entsteht. Wird der Kollektivismus je zu dieser Fruchtbarkeit gelangen, und wodurch soll man die Produktivität des Arbeiters anregen, wenn der Gedanke an den Gewinn zerstört ist? Da besteht für mich der Zweifel, die Angst, der schwache Punkt, wo wir uns schlagen müssen, wenn wir wollen, daß der Sozialismus eines Tages den Sieg davonträgt ... Aber wir werden siegen, weil die Gerechtigkeit mit uns ist. Da! Sehen Sie dieses Gebäude vor uns ... Sehen Sie es?«
»Die Börse?« fragte Saccard. »Ja, natürlich sehe ich sie!«
»Nun gut! Es wäre dumm, sie in die Luft zu sprengen, weil man sie woanders wieder aufbauen würde ... Allein ich sage Ihnen voraus, daß sie von selber in die Luft fliegen wird, wenn der Staat sie enteignet hat, wenn sie logischerweise die einzige, universale Bank der Nation geworden ist, und dann dient sie vielleicht – wer kann es wissen? – als öffentlicher Speicher für unsere zu großen Reichtümer, als eine jener Kornkammern, in denen unsere Enkel die üppige Fülle für ihre Festtage finden werden!«
Mit einer weit ausholenden Gebärde erschloß Sigismond diese Zukunft eines allgemeinen Glücks für alle. Und er hatte sich derart in Begeisterung geredet, daß ihn ein neuerlicher Hustenanfall schüttelte. Er war an seinen Tisch zurückgekehrt, stemmte die Ellbogen zwischen seine Papiere und stützte den Kopf in die Hände, um das peinigende Röcheln aus seiner Brust zu ersticken. Aber diesmal gelang es ihm nicht. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Busch, der die Méchain verabschiedet hatte, eilte mit bestürzter Miene herbei, als litte er selbst an diesem abscheulichen Husten. Sogleich beugte er sich über seinen Bruder, nahm ihn in seine großen Arme wie ein Kind, dessen Schmerz man einlullt.
»Aber, aber, mein Kleiner, was hast du bloß, daß du bald erstickst? Du weißt, ich will, daß du einen Arzt kommen läßt. Das ist doch unvernünftig ... Du hast bestimmt zuviel geschwatzt.«
Und er warf einen schiefen Blick auf Saccard, der mitten im Zimmer stehengeblieben war, sichtlich aufgewühlt von dem, was er soeben aus dem Munde dieses leidenschaftlichen, kranken großen Teufels vernommen hatte, welcher hier oben von seinem Fenster aus mit seinem Gerede, alles hinwegzufegen, um alles wieder aufzubauen, einen Zauberspruch über die Börse murmelte.
»Danke, ich lasse Sie nun allein«, sagte der Besucher und hatte es eilig, nach draußen zu kommen. »Schicken Sie mir meinen Brief mit den zehn Zeilen der Übersetzung ... Ich erwarte noch mehr, wir regeln dann das Ganze zusammen.«
Aber da der Anfall vorüber war, hielt ihn Busch noch einen Augenblick zurück.
»Ach ja, was ich noch sagen wollte, die Dame, die eben hier war, kennt Sie von früher. Oh, es ist schon lange her.«
»Ach! Woher denn?«
»Rue de la Harpe, 1852.«
Sosehr Saccard auch Herr seiner selbst war, er wurde doch blaß. Ein nervöses Zucken verzog ihm den Mund. Zwar erinnerte er sich in dieser Minute keineswegs an das junge Ding, das er auf der Treppe umgelegt hatte. Er wußte nicht einmal, daß sie schwanger geworden war, und er wußte auch nichts von der Existenz des Kindes. Aber die Erinnerung an die elenden Jahre seines Anfangs war ihm immer noch sehr unangenehm.
»Rue de la Harpe. Oh, dort habe ich nach meiner Ankunft in Paris bloß acht Tage gewohnt, gerade die Zeit, um eine Wohnung zu suchen ... Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen!« sagte Busch mit Nachdruck; er sah in dieser Verwirrung irrtümlicherweise ein Geständnis und grübelte schon, wie er das Abenteuer am besten ausschlachten könnte.
Wieder auf der Straße, kehrte Saccard mechanisch auf den Platz vor der Börse zurück. Er zitterte noch am ganzen Leib, und er schaute nicht einmal auf die kleine Frau Conin, deren hübscher Blondkopf lächelnd in der Tür der Papierwarenhandlung zu sehen war. Auf dem Platz hatte die Unruhe zugenommen, der Aufruhr des Börsenspiels tobte mit der entfesselten Gewalt einer Sturmflut gegen die Bürgersteige, die von Leuten wimmelten. Das war das Gebrüll von Viertel vor drei, die Schlacht der letzten Kurse, das rasende Verlangen, zu erfahren, wer mit vollen Händen nach Hause gehen würde. Als er gegenüber der Vorhalle an der Ecke der Rue de la Bourse stand, glaubte er in dem wirren Gedränge unter den Säulen den Baissier38 Moser und den Haussier Pillerault zu erkennen, die sich beide in den Haaren lagen. Und er vermeinte auch, aus dem Hintergrund des großen Saales die helle Stimme des Wechselmaklers Mazaud zu vernehmen, die für Augenblicke die gellenden Rufe Nathansohns übertönte, der unter der Uhr bei der Kulisse