Krieg und Frieden. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
gab seinem Pferd die Sporen, rief den Unteroffizier Fedtschenko und noch zwei Husaren herbei, befahl ihnen, hinter ihm herzureiten, und ritt im Trab bergab auf das immer noch fortdauernde Geschrei zu. Es war ihm ängstlich und froh zugleich zumute, wie er da so allein mit seinen drei Husaren dahinritt in diese geheimnisvolle, gefährliche, neblige Ferne, wo vor ihm noch niemand gewesen war. Bagration rief ihm von oben her noch nach, er solle nicht weiter als bis an den Bach reiten; aber Rostow tat, als hätte er diese Weisung nicht mehr gehört, und ritt, ohne anzuhalten, weiter und weiter, wobei er sich fortwährend irrte, indem er Büsche für Bäume und Wasserrinnsale für Menschen hielt, und dann fortwährend seines Irrtums innewurde. Als er im Trab am Fuße des Berges angelangt war, sah er weder die Lagerfeuer der Unsrigen noch die der Feinde mehr, hörte aber das Schreien der Franzosen lauter und deutlicher. Im Talgrund erblickte er etwas vor sich, was wie ein Fluß aussah; aber als er hingelangt war, sah er, daß es ein Fahrweg war. Er ritt auf den Weg und hielt unschlüssig sein Pferd an: sollte er den Weg verfolgen oder ihn kreuzen und über das schwarze Feld bergauf reiten? Auf dem im Nebel hellschimmernden Weg zu reiten war minder gefährlich, weil es hier eher möglich war, menschliche Gestalten zu unterscheiden. »Mir nach!« kommandierte er, kreuzte den Weg und ritt im Galopp bergauf nach dem Ort hin, wo am Abend ein französisches Pikett gestanden hatte.
»Euer Wohlgeboren, da ist er«, sagte hinter ihm einer der Husaren.
Und Rostow hatte noch nicht Zeit gehabt, einen schwärzlichen Gegenstand, der plötzlich im Nebel sichtbar wurde, zu erkennen, als ein Feuerschein aufblitzte, ein Schuß knallte und die Kugel mit einer Art von klagendem Pfeifen oben durch den Nebel flog und sich aus der Hörweite verlor. Ein zweites Gewehr ging nicht los; es blitzte nur das Pulver auf der Zündpfanne auf. Rostow warf sein Pferd herum und ritt im Galopp zurück. Noch vier Schüsse ertönten in verschiedenen Zeitabständen, und mit verschiedenartig singenden Tönen flogen die Kugeln irgendwo durch den Nebel. Rostow hielt sein Pferd zurück, das, ebenso wie er selbst, durch die Schüsse in eine fröhliche Erregung gekommen war, und ritt im Schritt weiter. »Schießt nur immer weiter, immer weiter!« sagte eine vergnügte Stimme in seinem Innern. Aber es erfolgten keine weiteren Schüsse mehr.
Erst als er sich dem Fürsten Bagration näherte, setzte Rostow sein Pferd wieder in Galopp und ritt, die Hand an den Mützenschirm legend, zu ihm heran.
Dolgorukow hatte inzwischen immer noch hartnäckig seine Ansicht verfochten, daß die Franzosen abgezogen wären und nur um uns zu täuschen, Feuer angezündet hätten.
»Was beweist denn das?« sagte er gerade in dem Augenblick, als Rostow zu ihnen herangeritten kam. »Sie werden abgezogen sein und ein paar Piketts zurückgelassen haben.«
»Es scheint doch, daß sie noch nicht alle abgezogen sind, Fürst«, erwiderte Bagration. »Warten wir bis morgen früh; morgen werden wir über alles ins klare kommen.«
»Euer Durchlaucht, das Pikett steht auf dem Berg immer noch an derselben Stelle, wo es am Abend stand«, meldete Rostow sich vorbeugend und die Hand an den Mützenschirm haltend; er war nicht imstande, ein fröhliches Lächeln zu unterdrücken, das sein Rekognoszierungsritt und besonders das Pfeifen der Kugeln auf seinem Gesicht hervorgerufen hatten.
»Gut, gut«, antwortete Bagration. »Ich danke Ihnen, Herr Offizier.«
»Euer Durchlaucht«, sagte Rostow, »gestatten Sie mir eine Bitte.«
»Nämlich?«
»Meine Eskadron ist morgen zur Reserve bestimmt; gestatten Sie mir die Bitte um Abkommandierung zur ersten Eskadron.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Graf Rostow.«
»Ah, schön. Sie können als Ordonnanzoffizier bei mir bleiben.«
»Ein Sohn von Ilja Andrejewitsch?« fragte Dolgorukow.
Aber Rostow gab ihm keine Antwort.
»Also darf ich hoffen, Euer Durchlaucht?«
»Ich werde Befehl geben.«
»Morgen kann es leicht so kommen«, dachte Rostow, »daß ich mit irgendeiner Meldung zum Kaiser geschickt werde. Gott sei Dank!«
Das Geschrei und die Feuer in der feindlichen Armee waren dadurch veranlaßt worden, daß, während den Truppen der Tagesbefehl Napoleons vorgelesen wurde, der Kaiser selbst durch ihre Biwaks hindurchritt. Sobald die Soldaten den Kaiser erblickten, zündeten sie Strohbüschel an und liefen ihm mit dem Ruf: »Vive l'empereur!« nach. Der Tagesbefehl Napoleons lautete folgendermaßen:
»Soldaten! Die russische Armee zieht gegen uns, um die Niederlage zu rächen, die wir der österreichischen Armee bei Ulm beigebracht haben. Dies sind dieselben Bataillone, die ihr bei Hollabrunn geschlagen und seitdem ununterbrochen bis zu diesem Punkt verfolgt habt. Die Positionen, die wir innehaben, sind stark, und wenn die Feinde versuchen sollten, mich auf der rechten Seite zu umgehen, so werden sie mir ihre Flanke zum Angriff darbieten! Soldaten! Ich selbst werde eure Bataillone führen. Ich werde mich außerhalb des Feuers halten, wenn ihr mit eurer gewohnten Tapferkeit Unordnung und Verwirrung in die Reihen der Feinde tragen werdet; sollte aber der Sieg auch nur für einen Augenblick zweifelhaft werden, so werdet ihr euren Kaiser unter den Vordersten sich den Streichen des Feindes aussetzen sehen; denn der Sieg darf nicht ins Schwanken kommen, namentlich an einem Tag, an dem es sich um die Ehre des französischen Infanteristen handelt, die für die Ehre der Nation so notwendig und unentbehrlich ist.
Niemand darf Reih und Glied verlassen unter dem Vorwand der Wegschaffung Verwundeter! Möge ein jeder sich ganz von dem Gedanken durchdringen lassen, daß wir diese Mietlinge Englands besiegen müssen, die von solchem Haß gegen unsere Nation erfüllt sind. Dieser Sieg wird unsern Feldzug beendigen, und wir werden in die Winterquartiere zurückkehren können, wo die neuen französischen Truppen zu uns stoßen werden, welche ich jetzt in Frankreich formieren lasse; und dann wird der Friede, den ich schließen werde, meines Volkes und euer und meiner selbst würdig sein.
Napoleon.«
XIV
Um fünf Uhr morgens war es noch ganz dunkel. Die Truppen des Zentrums, die Reserven, sowie der von Bagration kommandierte rechte Flügel verharrten noch regungslos; aber auf dem linken Flügel war schon Leben. Die dort stehenden Infanterie-, Kavallerie- und Artilleriekolonnen, welche als die ersten von den Höhen hinabsteigen sollten, um den rechten Flügel der Franzosen anzugreifen und der Disposition gemäß in die böhmischen Berge zurückzuwerfen, rührten sich bereits und erhoben sich von ihrem Nachtlager. Der Rauch von den Lagerfeuern, in die sie alles Überflüssige hineinwarfen, biß in die Augen. Es war kalt und dunkel. Die Offiziere tranken eilig ihren Tee und frühstückten; die Soldaten kauten ihren Zwieback, trampelten umher, um sich zu erwärmen, und drängten sich um die Feuer, in denen sie Stühle, Tische, Räder, Fässer, Reste von den Baracken, kurz alles verbrannten, was nicht mitgenommen werden konnte. Höhere österreichische Offiziere eilten zwischen den russischen Truppen umher und konnten als Vorboten des Aufbruchs dienen. Sowie ein solcher österreichischer Offizier sich bei dem Quartier eines Regimentskommandeurs gezeigt hatte, geriet das Regiment in hastige Bewegung: die Soldaten liefen von den Feuern weg, steckten ihre Tabakspfeifen in die Stiefelschäfte, legten die Brotbeutel auf die Fuhrwerke, brachten ihre Gewehre in Ordnung und stellten sich auf. Die Offiziere knöpften die Uniformen zu, legten Degen und Ränzchen an und gingen, ab und zu einen Soldaten anschreiend, an den Reihen entlang; die Fuhrleute und Burschen spannten an, luden die Gepäckstücke auf und banden sie fest. Die Adjutanten, die Bataillons- und Regimentskommandeure stiegen zu Pferd, bekreuzten sich, erteilten den zurückbleibenden Fuhrleuten die letzten Befehle, Anweisungen und Aufträge, und nun ertönte der gleichmäßige, stampfende Tritt mehrerer tausend Füße. Die Kolonnen marschierten ab, ohne zu wissen wohin, und infolge der sie umgebenden Kameraden und des Rauches und des zunehmenden Nebels sahen sie weder die Örtlichkeit, die sie jetzt verließen, noch die, nach der sie hinzogen.
Der Soldat wird auf dem Marsch von seinem Regiment ebenso umgeben, beschränkt und mitgezogen, wie der Seemann von dem Schiff, auf dem er sich befindet. Wie weit er auch fortmarschieren, in welche fremdartigen, unbekannten, gefährlichen Gegenden er auch gelangen mag, um sich hat