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Krieg und Frieden. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.

Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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zwanzig Jahre alt war, Unterricht in der Algebra und der Geometrie und hatte ihre ganze Zeit so eingeteilt, daß immer eine Beschäftigung die andere ablöste. Er selbst war unaufhörlich tätig: bald schrieb er an seinen Memoiren, bald beschäftigte er sich mit Aufgaben aus dem Gebiet der höheren Mathematik, bald drechselte er Tabaksdosen auf der Drehbank, bald arbeitete er im Garten und beaufsichtigte die Bauten, die auf seinem Gut niemals aufhörten. Da die wichtigste Voraussetzung beim Fleiß die Ordnung ist, so war auch die Ordnung in seiner Lebensweise bis aufs äußerste getrieben. Sein Erscheinen zu den Mahlzeiten erfolgte stets in genau derselben, unveränderlichen Weise, und nicht nur zu derselben Stunde, sondern sogar zu derselben Minute. Mit den Personen seiner Umgebung, von der Tochter angefangen bis zu der Dienerschaft, verkehrte der Fürst in scharfem Ton und stellte an einen jeden hohe Ansprüche, von denen er nie abging; so kam es, daß er, ohne grausam zu sein, allen eine Furcht und einen Respekt eingeflößt hatte, wie sie selbst der grausamste Haustyrann nicht leicht hätte hervorrufen können. Obwohl er nicht mehr im Dienst war und jetzt keinerlei Einfluß auf die Regierungsangelegenheiten besaß, so hielt es doch jeder Chef des Gouvernements, in welchem das Gut des Fürsten lag, für seine Pflicht, sich ihm vorzustellen, und wartete geradeso wie der Baumeister und der Gärtner und die Prinzessin Marja in dem hohen Geschäftszimmer auf den Zeitpunkt, für welchen der Fürst sein Erscheinen in Aussicht gestellt hatte. Und jeder empfand in diesem Geschäftszimmer das gleiche Gefühl des Respektes, ja sogar der Furcht, wenn sich nun die gewaltig hohe Tür des Arbeitszimmers öffnete und die ziemlich kleine Gestalt des alten Herrn erschien, mit gepuderter Perücke, mit den kleinen, dürren Händen und den grauen, überhängenden Brauen, die manchmal, wenn er sie zusammenzog, den Glanz seiner klugen und noch ganz jugendlich blitzenden Augen verdeckten.

      Am Vormittag desjenigen Tages, an welchem die Ankunft des jungen Ehepaares nachher wirklich stattfand, betrat Prinzessin Marja wie gewöhnlich zu der für den Unterricht angesetzten Stunde das Geschäftszimmer zum Zweck der Morgenbegrüßung, bekreuzte sich mit einer gewissen Bangigkeit und sprach im stillen ein Gebet. So trat sie täglich hier herein und betete täglich, daß diese Begegnung glücklich vonstatten gehen möge.

      Der alte, gepuderte Diener, der im Geschäftszimmer saß, stand leise auf und sagte flüsternd: »Haben Sie die Güte einzutreten.«

      Durch die Tür war das gleichmäßige Geräusch einer Drehbank zu hören. Die Prinzessin zog schüchtern an der leicht und glatt sich öffnenden Tür und blieb an der Schwelle stehen. Der Fürst arbeitete an der Drehbank; er sah sich um und fuhr in seiner Tätigkeit fort.

      Das ungewöhnlich große Arbeitszimmer war mit lauter Gegenständen angefüllt, die augenscheinlich fortwährend benutzt wurden. Ein großer Tisch, auf welchem Bücher und Pläne lagen, hohe, mit Büchern vollgestellte Glasschränke, in deren Türen die Schlüssel steckten, ein Stehpult, auf dem ein aufgeschlagenes Heft lag, eine Drehbank, auf der die nötigen Instrumente handgerecht geordnet waren und um die ringsherum der Boden mit Abfallspänen bedeckt war: alles zeugte von einer beständigen, mannigfaltigen, wohlgeordneten Tätigkeit des Bewohners. Und aus den Bewegungen des kleinen Fußes, den ein silbergesticktes tatarisches Stiefelchen umschloß, sowie aus dem festen Andrücken der sehnigen, mageren Hand konnte man ersehen, daß in dem Fürsten noch die zähe, widerstandsfähige Kraft eines frischen Greisenalters steckte. Nachdem er das Rad noch ein paar Umdrehungen hatte machen lassen, nahm er den Fuß vom Trittbrett der Drehbank herunter, wischte den Drehstahl ab, warf ihn in eine an der Drehbank angebrachte Ledertasche, ging an den Tisch und rief seine Tochter heran. Er segnete seine Kinder niemals; so hielt er ihr denn nur seine stachlige, an diesem Tag noch nicht rasierte Wange hin, musterte sie mit einem prüfenden Blick und sagte in strengem Ton, aus dem aber doch eine gewisse Zärtlichkeit herauszuhören war: »Wohl und munter? Nun, dann setz dich!« Er griff nach einem von ihm eigenhändig geschriebenen Geometrieheft und zog sich mit dem Fuß seinen Sessel heran.

      »Für morgen!« sagte er, indem er schnell eine Seite aufschlug und mit seinem harten Nagel von einem Paragraphen bis zu einem andern einen Strich als Zeichen eindrückte. Die Prinzessin beugte sich über den Tisch und das Heft.

      »Warte; da ist ein Brief für dich«, sagte der alte Mann, holte aus einer oberhalb des Tisches befestigten Tasche einen Brief, dessen Adresse eine weibliche Hand erkennen ließ, und warf ihn auf den Tisch.

      Beim Anblick des Briefes erschienen auf dem Gesicht der Prinzessin rote Flecke. Eilig griff sie nach ihm und bückte sich über ihn.

      »Von deiner Héloïse?« fragte der Fürst kühl lächelnd, wobei seine starken, gelblichen Zähne sichtbar wurden.

      »Ja, von Julja«, antwortete die Prinzessin; sie blickte den Vater schüchtern an und lächelte zaghaft.

      »Noch zwei Briefe will ich durchlassen; aber den dritten werde ich lesen«, sagte der Fürst in strengem Ton. »Ich fürchte, ihr schreibt einander viel dummes Zeug. Den dritten Brief werde ich lesen.«

      »Sie können ja auch diesen schon lesen, Väterchen«, antwortete die Prinzessin, noch stärker errötend, und reichte ihm den Brief hin.

      »Den dritten; ich habe gesagt: den dritten!« rief der Fürst kurz und stieß den Brief zurück. Dann stützte er den Ellbogen auf den Tisch und zog das Heft mit den geometrischen Figuren näher heran.

      »Nun, mein Fräulein«, begann der Alte, beugte sich dicht neben seiner Tochter über das Heft und legte den einen Arm auf die Lehne des Sessels, auf dem die Prinzessin saß, so daß diese sich von allen Seiten von einer ihr schon längst bekannten Atmosphäre, gemischt aus Tabaksgeruch und jener scharfen Hautausdünstung, wie sie alten Leuten eigen ist, umgeben fühlte. »Nun, mein Fräulein, diese Dreiecke sind einander ähnlich; du siehst: der Winkel A B C ...«

      Die Prinzessin blickte ängstlich nach den so nahe neben ihr blitzenden Augen des Vaters; rote Flecke erschienen auf ihrem Gesicht, und es war klar, daß sie nichts verstand und sich dermaßen fürchtete, daß diese Angst sie auch hindern würde, alle weiteren Darlegungen des Vaters zu begreifen, mochten sie an sich auch noch so klar sein. Ob nun die Schuld an dem Lehrer lag oder an der Schülerin, genug, jeden Tag wiederholte sich derselbe Vorgang: es wurde der Prinzessin dunkel vor den Augen, sie sah und hörte nichts mehr, sie fühlte nur in ihrer nächsten Nähe das hagere Gesicht des strengen Vaters, sie empfand seinen Atem und seinen Geruch und hatte nur den einen Gedanken, wie sie wohl am schnellsten aus dem Arbeitszimmer des Vaters herauskommen und auf ihrer eigenen Stube sich die Aufgabe in Ruhe zum Verständnis bringen könne. Der Alte geriet in Erregung, schob den Sessel, auf dem er saß, mit Gepolter vom Tisch zurück und wieder heran, suchte sich zu beherrschen, um nicht heftig zu werden, und wurde es doch fast jedesmal, schalt und schleuderte manchmal ärgerlich das Heft auf den Tisch.

      Die Prinzessin hatte eine falsche Antwort gegeben.

      »Na, du bist aber doch auch zu dumm!« rief der Fürst, stieß das Heft von sich und wandte sich schnell ab. Im nächsten Augenblick stand er auf, ging ein paarmal im Zimmer hin und her, berührte leise mit den Händen das Haar der Prinzessin und setzte sich wieder hin.

      Er rückte seinen Sessel an den Tisch heran und fuhr in seinen Erläuterungen fort.

      »Ja, das muß sein, Prinzessin, das muß sein«, sagte er, als die Prinzessin das Heft mit den Aufgaben für das nächste Mal genommen und zugemacht hatte und bereits im Begriff war wegzugehen. »Die Mathematik ist eine wichtige Sache, mein Fräulein. Ich möchte nicht, daß du unsern dummen jungen Damen ähnlich bist. Nur Ernst und Ausdauer; dann gewinnt man die Sache lieb.« Er streichelte ihr mit der Hand die Wange. »Die Mathematik macht den Kopf klar.«

      Sie wollte hinausgehen; aber er hielt sie durch eine Handbewegung zurück und nahm von dem Stehpult ein neues, unaufgeschnittenes Buch herunter.

      »Da ist noch ein Buch mit dem Titel ›Der Schlüssel des Geheimnisses‹; das schickt dir deine Héloïse. Sie ist wohl sehr religiös. Nun, ich lasse jeden Menschen glauben, was er will, und menge mich da nicht ein. Ich habe nur ein wenig hineingesehen. Nimm! Nun, dann geh nur, geh!«

      Er klopfte ihr auf die Schulter und machte selbst hinter ihr die Tür zu.

      Prinzessin Marja kehrte mit der trüben, verschüchterten Miene, die nur selten von ihr wich und


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