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Krieg und Frieden. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.

Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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      Boris runzelte die Stirn.

      »Wenn du es durchaus willst«, erwiderte er.

      Er trat an sein Bett, holte unter den reinen Kopfkissen eine Börse hervor und gab Befehl, Wein zu holen.

      »Ja, und hier hast du das Geld und den Brief«, fügte er hinzu.

      Rostow nahm den Brief, warf das Geld auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und fing an zu lesen. Er las ein paar Zeilen und warf Berg einen ärgerlichen Blick zu. Als aber ihre Blicke einander trafen, verbarg Rostow sein Gesicht hinter dem Brief.

      »Sie haben ja eine gehörige Menge Geld geschickt bekommen«, sagte Berg im Hinblick auf die schwere Börse, die das Sofapolster niederdrückte. »Unsereiner schlägt sich so mit seinem Gehalt durch. Ich kann Ihnen, was mich selbst anbelangt, sagen ...«

      »Wissen Sie was, mein liebster Berg«, sagte Rostow, »wenn Sie einmal einen Brief von zu Hause bekommen und mit einem guten Freund wieder zusammentreffen, den Sie über allerlei Dinge ausfragen möchten, und wenn ich dann dabei bin, dann werde ich sofort weggehen, um Sie nicht zu stören. Hören Sie, gehen Sie weg, ich bitte Sie darum, irgendwohin, irgendwohin ... meinetwegen zum Teufel!« schrie er. Aber sofort faßte er ihn auch an der Schulter, sah ihm freundlich ins Gesicht und fügte in dem sichtlichen Bemühen, die Grobheit seiner Worte zu mildern, hinzu: »Sie kennen mich ja, seien Sie mir nicht böse, Liebster, Bester; ich rede frisch von der Leber weg, wie zu einem alten Bekannten.«

      »Ach, ich bitte Sie, Graf, ich finde es sehr verständlich«, erwiderte Berg mit seiner gutturalen Aussprache und stand auf.

      »Sie könnten ja zu den Wirtsleuten gehen; Sie sind ja von denen eingeladen, zu ihnen zu kommen«, fügte Boris hinzu.

      Berg zog einen ganz saubern Rock, ohne das geringste Fleckchen oder Stäubchen, an, bürstete vor dem Spiegel das Haar an den Schläfen nach oben, so wie es der Kaiser Alexander Pawlowitsch trug, und nachdem er aus Rostows Blick die Überzeugung gewonnen hatte, daß sein feiner Rock gebührend beachtet war, verließ er mit einem angenehmen Lächeln das Zimmer.

      »Ach, was bin ich für ein Rindvieh!« sagte Rostow, während er den Brief las, vor sich hin.

      »Wieso denn?«

      »Ach, was bin ich für ein Schurke, daß ich kein einziges Mal geschrieben und sie durch mein Schweigen so geängstigt habe. Ach, was bin ich für ein Schurke!« sagte er noch einmal und errötete plötzlich. »Na also, schicke doch deinen Gawriil nach Wein! Wollen eins trinken!« sagte er.

      Den Briefen seiner Angehörigen lag ein Empfehlungsschreiben an den Fürsten Bagration bei, welches sich die alte Gräfin auf Anna Michailownas Rat durch Vermittlung von Bekannten verschafft und ihrem Sohn geschickt hatte, mit der Bitte, es an den Adressaten gelangen zu lassen und es nach Möglichkeit auszunutzen.

      »So ein Unsinn! Dessen bedarf ich auch gerade!« rief Rostow und warf den Brief unter den Tisch.

      »Warum wirfst du denn das da weg?« fragte Boris.

      »Es ist ein Empfehlungsbrief. Hol das Ding der Teufel!«

      »Wie kannst du so reden?« sagte Boris, der den Brief aufhob und die Adresse las. »Dieser Brief ist für dich außerordentlich wertvoll.«

      »All so etwas hat für mich keinen Wert; ich will bei niemandem Adjutant werden.«

      »Warum denn nicht?« fragte Boris.

      »Das ist ein Lakaiendienst.«

      »Du bist, wie ich sehe, immer noch derselbe Idealist«, sagte Boris kopfschüttelnd.

      »Und du bist immer noch derselbe Diplomat. Na, aber darüber wollen wir jetzt nicht reden; wie geht es dir denn eigentlich?« fragte Rostow.

      »Nun, das siehst du ja. Bis jetzt geht es mir ganz gut; aber ich muß dir gestehen, ich möchte sehr gern Adjutant werden und nicht im Frontdienst bleiben.«

      »Warum?«

      »Nun, wenn man einmal die militärische Laufbahn einschlägt, dann muß man sich doch bemühen, eine möglichst glänzende Karriere zu machen.«

      »So, so, deshalb!« sagte Rostow, der augenscheinlich an etwas anderes dachte.

      Er blickte seinen Freund unverwandt und fragend in die Augen; er suchte offenbar vergeblich eine Antwort auf eine ihm vorschwebende Frage.

      Der alte Gawriil brachte Wein.

      »Sollen wir jetzt nicht Alfons Karlowitsch wieder herrufen lassen?« fragte Boris. »Er kann dann mit dir trinken; ich für meine Person bin dazu nicht imstande.«

      »Schön, schön, laß ihn rufen! Was ist dieser Deutsche denn eigentlich für ein Patron?« fragte Rostow mit geringschätzigem Lächeln.

      »Er ist ein sehr, sehr guter, ehrenhafter und angenehmer Mensch«, antwortete Boris.

      Rostow blickte ihm noch einmal forschend in die Augen und seufzte. Berg kehrte zurück, und bei der Flasche Wein wurde das Gespräch der drei Offiziere bald lebhafter. Die beiden Gardeoffiziere erzählten dem jungen Rostow von ihrem Marsch, wie man sie in Rußland, in Polen und im Ausland fetiert habe. Sie berichteten auch mancherlei über die Ausdrucksweise und das Benehmen ihres Kommandeurs, des Großfürsten, und erzählten Anekdoten von seiner Herzensgüte und seinem auffahrenden Wesen. Berg schwieg wie gewöhnlich, solange das Gespräch ihn nicht persönlich betraf; aber anläßlich der Geschichten von der Heftigkeit des Großfürsten erzählte er mit großem Behagen, wie er in Galizien das Glück gehabt habe, mit dem Großfürsten zu reden, als dieser an den Regimentern vorbeigeritten sei und sich über die Unregelmäßigkeit des Marschierens geärgert habe. Mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht erzählte Berg, wie der Großfürst, sehr zornig, zu ihm herangeritten sei und geschrien habe: »Ihr Arnauten!« (»Arnauten« war das Lieblingsschimpfwort des hohen Herrn, wenn er grimmig war) und den Kompaniechef vorgerufen habe.

      »Können Sie es glauben, Graf, ich war nicht im geringsten erschrocken; denn ich wußte, daß ich nichts falsch gemacht hatte. Wissen Sie, Graf, ich kann, ohne mich zu rühmen, sagen, daß ich alle Regimentsbefehle auswendig kann und auch das Reglement so gut kenne wie das Vaterunser. Nachlässigkeiten kommen daher in meiner Kompanie nicht vor, Graf. Mein Gewissen konnte vollkommen ruhig sein. Ich trat also vor ihn hin.« (Berg stand auf und stellte schauspielerisch dar, wie er mit der Hand am Mützenschirm vor den Großfürsten hingetreten war. In der Tat hätte nicht leicht jemand in seinem Gesicht mehr Respekt und mehr Selbstzufriedenheit zum Ausdruck bringen können.) »Da hat er mich nun heruntergemacht, heruntergemacht, heruntergemacht; wie man zu sagen pflegt: in Grund und Boden hat er mich heruntergemacht; ›Arnauten‹ und ›nichtswürdige Kerle‹ und ›nach Sibirien‹, das prasselte nur so«, erzählte Berg mit schlauem Lächeln. »Aber ich wußte, daß ich nichts falsch gemacht hatte, und darum schwieg ich; tat ich daran nicht ganz recht, Graf? ›Bist du stumm? Was?‹ schrie er. Ich schwieg immer noch. Und was meinen Sie, Graf? Am andern Tag war die Sache im Tagesbefehl überhaupt nicht erwähnt; so wertvoll ist es, wenn man sich nicht aus der Fassung bringen läßt. Ja, so ist es, Graf«, schloß Berg, rauchte seine Pfeife an und blies Rauchringe in die Luft.

      »Ja, das haben Sie vorzüglich gemacht«, antwortete Rostow lächelnd.

      Aber Boris, der merkte, daß Rostow vorhatte, sich über Berg lustig zu machen, lenkte geschickt das Gespräch auf einen andern Gegenstand. Er bat Rostow, zu erzählen, wie und wo er verwundet worden sei. Diese Aufforderung war Rostow willkommen, und so begann er denn zu erzählen und geriet während der Erzählung immer mehr in Eifer. Er erzählte seinen Zuhörern von dem Kampf bei Schöngrabern in derselben Weise, in welcher Leute, die an Kämpfen teilgenommen haben, gewöhnlich von diesen Kämpfen erzählen, das heißt so, wie sie wünschen würden, daß die Sache gewesen wäre, so, wie sie es von andern Erzählern gehört haben, so, wie es in der Erzählung sich schön ausnimmt, aber ganz und gar nicht so, wie es sich wirklich zugetragen hat. Rostow war ein wahrheitsliebender junger Mann und hätte um keinen Preis absichtlich eine Unwahrheit gesagt. Er begann seine Erzählung mit der Absicht, alles genau so darzustellen, wie es


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