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Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.

Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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du keine eigentliche Krankheit, sondern deinen Zustand gemeint hast. Wann wird es denn soweit sein?«

      Der spöttische Glanz erlosch in ihren Augen; aber ein anderes Lächeln, ein stilles, trauriges Lächeln, wie wenn sie etwas wüßte, wovon er nichts ahnte, trat an die Stelle jenes früheren Ausdrucks.

      »Bald, sehr bald. Du sagst, daß unsere Lage qualvoll sei und ihr ein Ende gemacht werden müsse. Wenn du wüßtest, wie drückend sie für mich ist! Alles würde ich dafür hingeben, wenn ich dich frei und, ohne die Augen niederzuschlagen, lieben dürfte. Ich würde mich und dich nicht mit meiner Eifersucht quälen ... Und das wird bald eintreten, aber nicht so, wie wir es uns denken.«

      Bei dem Gedanken daran, wie das alles kommen werde, erschien sie sich selbst so bemitleidenswert, daß ihr die Tränen in die Augen traten und sie nicht weiterzureden vermochte. Sie legte ihre Hand, an der im Lampenlichte die weiße Haut schimmerte und die Ringe blitzten, auf seinen Arm.

      »Es wird nicht so werden, wie wir es uns denken. Ich hatte es dir nicht sagen wollen; aber du zwingst mich dazu. Bald, sehr bald wird das alles ein Ende finden, und wir alle, alle werden zur Ruhe kommen und uns nicht länger quälen.«

      »Ich verstehe dich nicht«, antwortete er, obgleich er sie verstand.

      »Du fragtest, wann? Bald. Ich werde es nicht überleben. Unterbrich mich nicht!« Sie fing an, hastig zu sprechen. »Ich weiß das, und ich weiß es bestimmt. Ich werde sterben, und ich bin sehr froh darüber, daß ich sterben und mich und euch erlösen werde.«

      Die Tränen strömten ihr aus den Augen; er beugte sich über ihre Hand, bedeckte sie mit Küssen und versuchte, seine Aufregung zu verbergen, die, wie er wußte, keinen tatsächlichen Grund hatte, deren er aber doch nicht Herr werden konnte.

      »So wird es kommen, so ist es das beste«, sagte sie und drückte ihm kräftig die Hand. »Das ist das einzige, das einzige, was uns noch übriggeblieben ist.«

      Er hatte sich wieder gefaßt und hob den Kopf in die Höhe.

      »Was ist das für Torheit! Was für sinnlose Torheit redest du da!«

      »Nein, das ist die Wahrheit.«

      »Was soll die Wahrheit sein, was denn?«

      »Daß ich sterben werde. Ich habe es geträumt.«

      »Geträumt?« wiederholte Wronski und mußte im gleichen Augenblick an den Bauer denken, von dem er selbst geträumt hatte.

      »Ja, geträumt«, sagte sie. »Diesen Traum habe ich schon vor längerer Zeit gehabt. Mir träumte, ich lief in mein Schlafzimmer; ich mußte da etwas holen oder nachsehen: du weißt, das kommt im Traum so oft vor«, bemerkte sie und öffnete vor Grausen weit die Augen, »und da stand im Schlafzimmer etwas in der Ecke ...«

      »Ach, was für Unsinn! Wie kann man nur an so etwas glauben ...«

      Aber sie ließ sich nicht unterbrechen. Das, was sie da erzählte, war ihr zu wichtig.

      »Und dieses Ding drehte sich um, und ich sah, daß es ein kleiner, furchtbar aussehender Bauer mit zerzaustem Barte war. Ich wollte weglaufen; aber er bückte sich über einen Sack und wühlte mit den Händen darin herum ...«

      Sie machte nach, wie er mit den Händen darin herumgewühlt hatte. Entsetzen malte sich auf ihrem Gesichte, und Wronski, der sich seines eigenen Traumes erinnerte, fühlte, wie das gleiche Entsetzen seine Seele erfüllte.

      »Er wühlte darin herum und sagte dabei etwas auf französisch, ganz schnell, ganz schnell, und, weißt du, er schnarrte dabei das R: ›Il faut le battre le fer, le broyer, le pétrir ...‹ Vor Angst wünschte ich aufzuwachen, und ich wachte auch auf ... aber es träumte mir nur, daß ich aufwachte. Und nun fragte ich mich, immer noch im Traume, was das zu bedeuten habe. Und der Kammerdiener Kornei sagte mir: ›Im Wochenbette werden Sie sterben, Mütterchen, im Wochenbette, jawohl, im Wochenbette werden Sie sterben.‹ ... Und da erwachte ich.«

      »Was für Unsinn! Was für Unsinn!« rief Wronski; aber er fühlte selbst, daß seiner Stimme der Ton eigener Überzeugung mangelte.

      »Aber wir wollen nicht mehr davon reden. Klingle; ich möchte Tee bringen lassen. Ja, warte nur, jetzt dauert es nicht mehr lange; ich ...«

      Aber plötzlich hielt sie inne. Der Ausdruck ihres Gesichtes änderte sich in einem Augenblicke. An die Stelle der Aufregung und des Entsetzens trat auf einmal der Ausdruck eines stillen, ernsten, beglückten Aufmerkens. Wronski konnte die Bedeutung dieser Verwandlung nicht verstehen. Anna hatte in sich die Regung eines neuen Lebens gespürt.

      4

      Nachdem Alexei Alexandrowitsch in seiner Haustür mit Wronski zusammengetroffen war, fuhr er, wie es auch seine Absicht gewesen war, in die Italienische Oper. Er saß dort zwei Akte ab und begrüßte alle die, die zu begrüßen ihm wichtig war. Nach Hause zurückgekehrt, musterte er aufmerksam den Kleiderständer, und als er festgestellt hatte, daß sich daran kein Militärmantel befand, begab er sich wie gewöhnlich in sein Zimmer. Aber gegen seine Gewohnheit legte er sich nicht schlafen, sondern wanderte bis drei Uhr morgens in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Der Zorn ließ ihm keine Ruhe, der Zorn gegen seine Frau, die die Gebote des Anstandes nicht beobachten und die einzige von ihm gestellte Bedingung, ihren Liebhaber nicht in diesem Hause zu empfangen, nicht erfüllen wollte. Sie hatte seine Forderung nicht erfüllt, und er mußte sie daher jetzt bestrafen und seine Drohung zur Ausführung bringen, das heißt, er mußte die Scheidung verlangen und ihr den Sohn wegnehmen. Er kannte alle Schwierigkeiten, mit denen dieses Verfahren verknüpft war; aber er hatte gesagt, daß er es tun werde, und mußte jetzt seine Drohung ausführen. Die Gräfin Lydia Iwanowna hatte ihm eine leise Andeutung gemacht, daß dies der beste Ausweg aus seiner Lage sein werde, und in letzter Zeit hatten die Rechtsanwälte ihre Methode in Ehescheidungsprozessen derart vervollkommnet, daß Alexei Alexandrowitsch es für möglich erachtete, die förmlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Außerdem hatte er, wie denn ein Unglück selten allein kommt, von der Angelegenheit der Verwaltungseinrichtungen der Fremdvölker und von der Angelegenheit der Berieselung der Felder im Gouvernement Saraisk solche Unannehmlichkeiten in dienstlicher Hinsicht gehabt, daß er sich während der ganzen letzten Zeit in äußerst gereizter Stimmung befunden hatte.

      Er schlief die ganze Nacht nicht, und sein Zorn, der in gewaltiger Steigerung wuchs, hatte am Morgen die denkbar größte Höhe erreicht. Er kleidete sich eilig an und ging zu seiner Frau, sobald er erfahren hatte, daß sie aufgestanden sei. Er trug ihr gleichsam die volle Schale seines Zornes hin, besorgt, etwas davon zu verschütten und mit dem Zorne zugleich Einbuße an der Energie zu erleiden, deren er bei der Auseinandersetzung mit seiner Frau bedurfte.

      Obgleich Anna ihren Mann so genau zu kennen glaubte, war sie doch, als er in ihr Zimmer trat, von seinem Aussehen überrascht. Seine Stirn war gerunzelt; die Augen blickten finster vor sich hin und wichen ihrem Blicke aus; der Mund war fest und verächtlich zusammengepreßt. In seinem Gange, in sei nen Bewegungen und im Ton seiner Stimme lag eine Entschlossenheit und Festigkeit, wie Anna sie noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Er trat ins Zimmer, ging, ohne sie zu begrüßen, gerade auf ihren Schreibtisch zu, ergriff die Schlüssel und öffnete eine Schublade.

      »Was suchen Sie da?« rief sie.

      »Die Briefe Ihres Liebhabers«, antwortete er.

      »Die sind nicht hier«, sagte sie und schob die Schublade wieder zu; aber an dieser Bewegung bemerkte er, daß seine Vermutung richtig gewesen war. Heftig stieß er Ihre Hand zur Seite und ergriff schnell eine Mappe, in der sie, wie er wußte, ihre wichtigsten Papiere aufbewahrte. Sie wollte ihm die Mappe entreißen; aber er stieß sie zurück.

      »Setzen Sie sich! Ich habe mit Ihnen zu reden!« sagte er. Die Mappe hatte er unter den Arm genommen und preßte sie mit dem Ellbogen so stark an sich, daß sich seine Schulter in die Höhe hob.

      Erstaunt und ängstlich blickte sie ihn an und schwieg.

      »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihnen nicht gestatte, Ihren Liebhaber in diesem Hause zu empfangen.«


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