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Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.

Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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sah, daß Wronski weinte, merkte er, daß ihn wieder jene seelische Verwirrung überkam, die der Anblick des Leidens anderer bei ihm regelmäßig hervorrief; er wandte das Gesicht ab und ging, ohne das, was jener sagte, zu Ende zu hören, rasch auf die Tür zu. Aus dem Schlafzimmer war Annas Stimme zu vernehmen, die irgend etwas sagte. Ihre Stimme klang heiter, lebhaft und außerordentlich fein abgetönt. Alexei Alexandrowitsch trat in das Schlafzimmer und näherte sich dem Bette. Sie lag so, daß sie ihm das Gesicht zuwandte. Ihre Wangen brannten dunkelrot; die Augen blitzten; die kleinen weißen Hände, die aus den Manschetten der Nachtjacke hervorschauten, spielten mit einem Zipfel der Bettdecke, den sie bald zusammenwickelten, bald wieder aufrollten. Anscheinend war sie nicht nur gesund und frisch, sondern auch in der allerbesten Gemütsstimmung. Sie sprach schnell, mit klangreicher Stimme und sehr richtigem, gefühlvollem Tonfall.

      »Weil Alexei, ich meine Alexei Alexandrowitsch (welch ein sonderbares, schreckliches Zusammentreffen, daß sie beide Alexei heißen, nicht wahr?), weil Alexei es mir nicht abschlagen würde. Ich würde es vergessen, und er würde mir verzeihen ... Aber warum kommt er denn nicht? Er ist ein guter Mensch; er weiß selbst nicht, wie gut er ist. Ach, mein Gott, wie beklommen mir ist! Gebt mir schnell Wasser! Ach, das wird ihr, meinem kleinen Mädchen, schaden! Nun gut, dann beschafft für sie eine Amme. Nun, ich habe ja nichts dagegen; es ist sogar besser so. Wenn er kommt, würde es ihm peinlich sein, die Kleine zu sehen. Bringt sie weg!«

      »Anna Arkadjewna, er ist gekommen; da ist er!« sagte die Hebamme, in dem Bemühen, ihre Aufmerksamkeit auf Alexei Alexandrowitsch zu lenken.

      »Ach, was für Unsinn!« fuhr Anna fort, ohne ihren Mann zu sehen. »Gebt sie mir doch, gebt mir doch mein Töchterchen! Er ist noch nicht gekommen. Ihr sagt, er wird mir nicht verzeihen; aber ihr kennt ihn eben nicht. Niemand hat ihn gekannt. Nur ich, und auch mir ist es schwer geworden, ihn kennenzulernen. Das liegt nämlich an seinen Augen: Sergei hat ganz ebensolche, und darum mag ich sie gar nicht ansehen. Habt ihr auch Sergei sein Mittagbrot gegeben? Ich weiß ja, das werden alle vergessen. Er würde es nicht vergessen. Ihr müßt Sergei in dem Eckzimmer unterbringen und Mariette bitten, bei ihm zu schlafen.«

      Plötzlich krümmte sie sich zusammen, verstummte und hob erschrocken, wie wenn sie einen Schlag erwartete und sich davor schützen wollte, die Hände vor das Gesicht. Sie hatte ihren Mann erkannt.

      »Nein, nein!« fing sie wieder an zu reden. »Ich fürchte ihn nicht, ich fürchte den Tod. Alexei, komm hierher! Ich habe Eile, denn ich habe keine Zeit mehr; ich habe nicht mehr lange zu leben; gleich wird das Fieber wieder beginnen, und dann verstehe ich nichts mehr. Jetzt verstehe ich noch; ich verstehe alles und sehe alles.«

      Alexei Alexandrowitschs runzliges Gesicht hatte einen Ausdruck qualvollen Leides angenommen; er ergriff ihre Hand und wollte etwas sagen, vermochte aber keinen Laut herauszubringen. Seine Unterlippe zitterte; aber er suchte immer noch seine Erregung niederzukämpfen und blickte Anna nur von Zeit zu Zeit an. Und jedesmal, wenn er seinen Blick zu ihr hinwandte, sah er, daß ihre Augen ihn mit einer so innigen, zärtlichen Rührung anschauten, wie er sie an ihnen früher nie gesehen hatte.

      »Warte doch, du weißt nicht ... Halt, halt ...«, sie hielt inne, als wollte sie ihre Gedanken sammeln. »Ja«, begann sie von neuem. »Ja, ja, ja. Das war's, was ich sagen wollte. Wundere dich nicht über mich! Ich bin noch immer dieselbe, die ich war ... Aber in mir ist noch eine andere; vor der fürchte ich mich; die verliebte sich in jenen Mann, und ich wollte dich hassen und konnte doch nicht vergessen, was für eine Frau ich früher gewesen war. Jene Frau bin ich nicht. Jetzt bin ich die richtige, ganz und gar. Ich sterbe jetzt; ich weiß, daß ich sterbe; frage nur den Arzt da! Ich fühle jetzt auch, da, da, die schweren, schweren Gewichte an meinen Händen, an meinen Füßen, an meinen Fingern. Die Finger ... sieh nur, wie furchtbar lang sie sind! Aber das hat alles bald ein Ende ... Nur eins möchte ich: verzeih du mir, verzeih mir völlig! Ich bin ein schlechtes, schlechtes Weib; aber mir hat einmal meine Kinderfrau gesagt, die heilige Märtyrerin – wie hieß sie doch? –, die ist noch schlechter gewesen. Und ich will nach Rom fahren; da sind stille, einsame Klöster, und da werde ich niemandem im Wege sein, und ich nehme nur Sergei mit und das kleine Mädchen ... Nein, du kannst mir nicht verzeihen! Ich weiß, das kann man nicht verzeihen! Nein, nein, geh weg, du bist zu gut!« Mit der einen ihrer glühend heißen Hände hielt sie seine Hand fest, mit der anderen stieß sie ihn von sich.

      Alexei Alexandrowitschs seelische Verwirrung hatte sich immer mehr gesteigert und jetzt einen solchen Grad erreicht, daß er bereits aufgehört hatte, gegen sie anzukämpfen; aber plötzlich fühlte er, daß das, was er für eine seelische Verwirrung gehalten hatte, im Gegenteil ein wohliger Seelenzustand war, der ihm auf einmal eine neue Glücksempfindung bescherte, wie er sie vorher noch nie kennengelernt hatte. Er überlegte nicht erst, daß jenes christliche Gebot, das er sein ganzes Leben lang zu befolgen sich vorgenommen habe, ihm befehle, zu verzeihen und seine Feinde zu lieben; aber ein freudiges Gefühl der Liebe und der Verzeihung für seine Feinde erfüllte seine Seele. Er fiel auf die Knie, legte seinen Kopf auf ihr Handgelenk, dessen glühende Hitze er durch den Jackenärmel hindurch fühlte, und schluchzte wie ein kleines Kind. Sie umfaßte sein kahles Haupt, rückte näher an ihn heran und richtete ihre Augen stolz und triumphierend nach oben.

      »Da ist er, ich habe es ja gewußt! Jetzt lebt alle wohl, lebt wohl! ... Da sind sie wiedergekommen; warum gehen sie nicht fort? ... So nehmt doch diese Pelze von mir weg!«

      Der Arzt nahm ihre Hände von dem Kopfe ihres Mannes weg, drückte die Kranke behutsam auf das Kissen zurück und deckte sie bis an die Schultern zu. Gehorsam ließ sie sich rücklings hinlegen und schaute mit strahlendem Blicke vor sich hin.

      »Vergiß das eine nicht, daß ich weiter nichts wollte als deine Verzeihung; weiter will ich nichts ... Aber er, warum kommt er nicht?« fragte sie und wandte sich nach der Tür hin an Wronski. »Komm her, komm her! Gib ihm die Hand!«

      Wronski trat an den Rand des Bettes und bedeckte, als er Anna erblickte, wieder sein Gesicht mit den Händen.

      »Nimm die Hände vom Gesicht! Sieh ihn an! Er ist ein Heiliger!« sagte sie. »So nimm doch die Hände weg, nimm doch die Hände vom Gesicht!« rief sie heftig. »Alexei Alexandrowitsch, nimm ihm die Hände vom Gesicht! Ich will sein Gesicht sehen!«

      Alexei Alexandrowitsch ergriff Wronskis Hände und zog sie ihm vom Gesicht fort, das von Schmerz und Scham furchtbar entstellt war.

      »Gib ihm die Hand! Verzeihe ihm!«

      Alexei Alexandrowitsch reichte ihm die Hand, ohne die Tränen zurückhalten zu wollen, die ihm aus den Augen strömten.

      »Gott sei Dank, Gott sei Dank!« flüsterte sie. »Nun ist alles in Ordnung. Zieht mir nur noch die Beine ein wenig gerade! So, ja, so ist es schön. Wie geschmacklos diese Blumen gezeichnet sind; sie sehen gar nicht aus wie Veilchen«, sprach sie dann weiter, auf die Tapete weisend. »Mein Gott, mein Gott! Wann wird das ein Ende haben? Gebt mir doch Morphium! Doktor geben Sie mir doch Morphium! O mein Gott, mein Gott!«

      Sie warf sich im Bette hin und her.

      Der Hausarzt und die hinzugezogenen Ärzte hatten sich dahin ausgesprochen, es liege Kindbettfieber vor, das in neunundneunzig Fällen unter hundert tödlich verlaufe. Den ganzen Tag hielt die Fieberhitze, das Phantasieren und die Bewußtlosigkeit an. Um Mitternacht lag die Kranke gefühllos da, und der Puls hatte fast ganz aufgehört.

      Jeden Augenblick erwartete man das Ende.

      Wronski war nach Hause gefahren, kam aber am Morgen wieder, um nachzufragen, und Alexei Alexandrowitsch, der ihm im Vorzimmer entgegenkam, sagte zu ihm: »Bleiben Sie; sie wird vielleicht nach Ihnen fragen«, und führte ihn selbst in das Wohnzimmer seiner Frau. Am Morgen begann wieder die Aufgeregtheit und Lebhaftigkeit, das hastige Denken und Reden, und dieser Zustand endete dann wieder mit Bewußtlosigkeit. Am dritten Tage wiederholte sich derselbe Hergang, und die Ärzte erklärten, es sei jetzt etwas Hoffnung vorhanden. An diesem Tage trat Alexei Alexandrowitsch in Annas Wohnzimmer, in dem Wronski saß, machte die Tür zu und setzte sich ihm gegenüber.

      »Alexei Alexandrowitsch«, begann Wronski, der fühlte, daß jetzt die Aussprache bevorstehe, »ich bin nicht imstande zu reden,


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