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Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Kurt RothmannЧитать онлайн книгу.

Kleine Geschichte der deutschen Literatur - Kurt Rothmann


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taktischen Plan und führt, den militärischen Befehl missachtend, seine Truppe nach der »Ordre des Herzens« voreilig zum Sieg. Der Große Kurfürst, der darauf besteht, »dass dem Gesetz Gehorsam sei«, weil es dem Vaterland nicht gleichgültig sein kann, »ob Willkür drin, ob drin die Satzung herrsche«, lässt den Prinzen, der einen glänzenderen Sieg verscherzt hat, durch ein Kriegsgericht zum Tode verurteilen. Der Prinz hält das Urteil zunächst für eine bloße Formsache und macht es durch trotzige Uneinsichtigkeit dem Kurfürsten unmöglich, ihn zu begnadigen (denn die Gnade setzt ja die Anerkennung des Rechts voraus). Als der Prinz bald vor dem drohenden Ernst des Urteils in demütigende Todesfurcht fällt und bereit ist, alle Ehre dem nackten Leben zu opfern, ruft der Kurfürst ihn selbst zur Entscheidung auf:

      Die höchste Achtung […]

      Trag ich im Innersten für sein Gefühl:

      Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten

      Kassier ich die Artikel: er ist frei! –

      Als Richter in eigener Sache überwindet der Prinz durch die Kraft des Ethos seine Todesfurcht. Seine freiwillige Anerkennung des Schuldspruches ermöglicht die Begnadigung. Nach der Versöhnung des allgemeinen Gesetzes ist der Kurfürst bereit, auch das innere Gebot des einzelnen anzuerkennen. Dass er dieses Kleistsche Organ der Welterfassung nicht, wie es zunächst schien, mit gesetzloser Willkür verwechselte, bewies er, indem er sich selbst an das Gefühl des Prinzen wandte. Nun trägt er dazu bei, dass sich des Prinzen hochfliegender Traum erfüllt: Er gibt dem Sieger von Fehrbellin Prinzessin Natalie zur Frau.

      Heiter abgewandelt erscheint das Thema von Wahrheit und Täuschung im Lustspiel Der zerbrochne Krug (1808). Dort versucht der Dorfrichter Adam, der sich durch Schwindelei und Erpressung das holdselige Evchen gefügig machen wollte, als Ankläger, Richter und Verfolgter im selben Fall seine nächtliche Nachstellung zu vertuschen. Er spinnt aus lächerlichen, dreisten Lügen ein Netz, in dem er sich endlich selber fängt. Sein komischer Vertuschungsversuch steht in einem ironischen Gegensatz zum analytischen Aufbau des Spiels (vgl. Kap. 6, Anm. 29).

      Als Erzähler von Anekdoten und Novellen12 stellt Kleist gern unwahrscheinliche Tatsachen dar.13 Dabei geht es, im Gegensatz zur idealen Anmut der Marionette, fast immer um das Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten von Mensch und Natur.

      In der Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1801) erschießt der misstrauende Gustav »knirschend vor Wut« Toni, seine treue Braut, die zu seiner Rettung eine gefährliche Doppelrolle spielen musste.

      In der Novelle Das Erdbeben in Chili (1807) gerät zuerst die Natur, dann die von einem Priester aufgehetzte Menge außer sich. Das durch das Erdbeben (1647) vom Tode gerettete Liebespaar Jeronimo und Josephe wird, als es für seine wundersame Rettung danken will, vom aufgebrachten Christenpöbel erschlagen.

      Die Marquise von O… (1808) lässt

      durch die Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten.

      Als auf diese Anzeige ihr vermeintlicher Wohltäter erscheint, verliert die Marquise all ihre Sicherheit und ruft: »[…] auf einen Lasterhaften war ich gefaßt, aber auf keinen – – – Teufel!«

      Michael Kohlhaas (1808) endlich gerät über ein Unrecht, das ihm widerfährt, so sehr außer sich, dass er raubend und mordend für die Idee des Rechtes streitet.

      Das alles erzählt Kleist in einer unverwechselbaren und unnachahmlichen Weise; bald lakonisch, im spröden Kanzleistil des Chronisten, bald mit atemlos drängender Dramatik, immer aber mit größter Detailgenauigkeit, so dass auch das Außerordentlichste den Ausdruck der Wahrhaftigkeit bekommt.

      8. Romantik1 (1798–1835)

      a) Ältere oder Frühromantik

      Kant hatte in seiner Erkenntnistheorie dargelegt, dass der Mensch gemäß seinen Anschauungsformen das »Ding an sich« nur als Erscheinung begreifen kann. Kants Schüler, JOHANN GOTTLIEB FICHTE (1762–1814), versuchte diese Trennung zwischen Objekt und begreifendem Subjekt zu überwinden, indem er in seiner Wissenschaftslehre (1794 bis 1795) nicht von den Dingen, sondern vom allgemeinen Bewusstsein ausging und das absolute Ich zum Bestimmenden allen Seins machte. Er erklärte: Das Ich setzt erstens sich selbst und zweitens das Nicht-Ich. Durch die gegenseitige Beschränkung von Ich und Nicht-Ich entsteht die Welt als Erscheinung.2 – Das heißt, die Erscheinung der Welt beruht nach Fichte nicht auf einem äußeren Ding an sich, sondern sie wird durch eine solipsistisch3 anmutende freie Tathandlung des absoluten Ich hervorgerufen, durch die sich selbst setzende und beschränkende Einbildungskraft.

      Fichte, der diesen subjektiven Idealismus seit 1794 an der Universität in Jena lehrte, begeisterte mit seiner Behauptung von der Unabhängigkeit des Bewusstseins die Vertreter der Frühromantik,4 denn diese huldigten dem der Wirklichkeit überlegenen Geist, der Phantasie und der poetischen Schöpferkraft, die das ganze Leben prägen sollten.

      FRIEDRICH SCHLEGEL, der im 116. Athenäum-Fragment5 das Programm der Frühromantik niederlegte, schrieb 1798:

      Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik6 in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […]. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.

      NOVALIS formuliert in seinen Fragmenten (1799–1800):

      Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ur[sprünglichen] Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualit[ative] Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – […] es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.

      Die mit Fichtes subjektivem Idealismus philosophisch behauptete Freiheit des Bewusstseins kehrt hier in der programmatischen Dichtungstheorie als literatur- und gesellschaftsprägende »Willkür des Dichters« wieder. Und ähnlich wie die Wissenschaftslehre die starre Grenze zwischen Außenwelt und Bewusstsein aufzuheben suchte, so bemüht sich auch die romantische Dichtung überall um Entgrenzungen:

      Die allumfassende »Universalpoesie« beschäftigt sich mit dem Unendlichen, mit den grenzenlosen Bereichen menschlicher Sehnsucht, mit dem Unbewussten, mit Traum, Mystik und Dämonie. Sie hebt die Grenzen auf zwischen Glauben und Wissen, Wissen und Kunst, Kunst und Religion. Sie betont die Wechselbeziehung aller Künste und strebt das Gesamtkunstwerk an. Das bedeutet im Großen die von Schlegel geforderte Vermischung aller Gattungen und im Kleinen die Synästhesie7. Doch weil die Universalpoesie »progressiv«, das heißt immer im Werden begriffen ist und ihre hochgesteckten Ziele kaum je erreicht, bevorzugen die Romantiker gegenüber der klassisch-tektonischen Einheit die offene Form des Fragments. Ja, aus dem Wissen um die Unmöglichkeit, das Unendliche im endlichen Kunstwerk darzustellen, erwächst für Schlegel die grundsätzliche Forderung nach der romantischen Ironie8, mit der der Künstler die durch sein Werk hervorgerufene Illusion selbstkritisch zerstört, um jede Endgültigkeit und Erstarrung des »progressiven« schöpferischen Spiels zu vermeiden.

      Schiller hatte 1795 AUGUST WILHELM SCHLEGEL (1767 bis 1845) zur Mitarbeit an seinen literarischen Zeitschriften (Die Horen, Musen-Almanach, Allgemeine Literaturzeitung) eingeladen. Wenig später kam auch dessen Bruder, FRIEDRICH SCHLEGEL (1772–1829), nach Jena. Dort setzten sich beide, August Wilhelm als Professor und Friedrich als Student,


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