Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Kurt RothmannЧитать онлайн книгу.
genommen.
b) Die geistliche Dichtung des frühen Mittelalters
Die germanischen Heldenlieder, die Karl der Große (742 bis 814) hatte sammeln lassen, ließ sein Sohn, Ludwig der Fromme (778–840), aus religiösen Bedenken verbrennen. So kam es, dass die Tradition der vorchristlichen Dichtung abriss und nur althochdeutsche Schriften, die im Dienst christlicher Bekehrung standen, überliefert wurden: Glossen9, Interlinearversionen10, Abschwörungs- und Taufgelöbnisse, Gebete, Beichtformeln usw., geistliche Gebrauchsliteratur ohne Reiz und Nachwirkung, bis auf die Evangelienharmonie (abgeschlossen 863/871) OTFRIDS VON WEISSENBURG.
Der Theologe Otfrid wollte den Vornehmen seiner Zeit das Leben Jesu nahebringen, um die frommen Herrschaften vor dem Lärm der Welt und weltlicher Dichtung zu bewahren. Zugleich wollte er beweisen, dass man Christus nicht nur in klösterlichem Latein, sondern auch in der Volkssprache loben könne. Darum verarbeitete er in südrheinfränkischer Mundart die vier Evangelien zu einem einzigen Bericht, einer sogenannten Evangelienharmonie.
Das fünfbändige Erbauungsbuch mit seinen vier Widmungen, den Anfangs- und Schlussgebeten und den zahllosen erläuternden und moralisierenden Einschüben macht einen pomphaften, gelehrten Eindruck; und doch war es für die Geschichte der deutschen Literatur von bahnbrechender Bedeutung. Denn Otfrid entwickelte hier in Anlehnung an die lateinische Hymnendichtung den deutschen Endreim, der nun den alten Stabreim für immer ablöst.
Dieser formalästhetische Wandel vom Stabreim zum Endreim war keine Äußerlichkeit. Vielmehr verlangte der neue christliche Inhalt, der sich beständig gegen germanisch-heidnisches Gedankengut durchzusetzen suchte, ganz wesentlich nach einer eigenen sprachlichen Form. Nur so erklärt es sich, dass Otfrid mit seiner formalästhetisch wegbereitenden Leistung den unbekannten Dichter des Heliand (830) überflügelte, dessen Evangelienharmonie in altsächsischen Stabreimen wohl poetischer ist, aber in einer zu vermeidenden Formtradition stand.
Otfrids großartiger Beweis, dass man Gott nicht nur in den kirchlichen »Edelzungen«, Griechisch und Latein, loben könne, verfing zunächst nicht. Mit dem Ende der karolingischen Renaissance um 900 und dem Aufblühen der lateinischen Klosterkultur unter den Ottonen verschwand alle volkssprachliche Dichtung für rund hundertfünfzig Jahre. Wer damals überhaupt lesen und schreiben konnte, der konnte auch Latein und war damit zufrieden. Erst als es darum ging, die weltverneinenden Ideen der kluniazensischen Reform11 ins Volk zu tragen, besannen sich die Geistlichen wieder der Volkssprache.
Die Bußpredigten und Erinnerungen an den Tod waren anfänglich unbeholfene Versuche. Doch am Ende der neuen Bemühungen um die deutsche Sprache steht ein glanzvolles Beispiel dichterischer Prosa,12 in der auch der dogmatische Geist Clunys einer persönlicheren, gefühlsbetonten Frömmigkeit gewichen ist. Anstelle Christi rückt nun Maria in den Mittelpunkt kultischer Verehrung.
Das St. Trudperter Hohe Lied (um 1150) ist eine für Nonnen geschriebene Auslegung des Hohenliedes Salomonis. Der Bräutigam des biblischen Buches wird darin als der Heilige Geist gedeutet und die Braut als Maria, oder aber als die gläubige Einzelseele. Marias Empfängnis wird so zum Vorbild für die göttliche Empfängnis, die sich in jedem Menschen wiederholen kann. Vorbedingung für die mystische Vereinigung der Seele mit Gott ist tugendhaftes Leben; dazu fordert das Klosterbuch in kunstvollen Parallelismen13 auf:
Mögest du reine Gedanken haben;
so gewinnst du die Gehorsamkeit wieder
und den heiligen Glauben,
die Adam verlor
durch eitle Großsucht.
Mögest du freundliche Worte sprechen;
so gewinnst du die Geduld wieder
und die heilige Hoffnung,
die Eva verlor
durch die Begierde.
Mögest du gute Werke tun;
so gewinnst du die Demut wieder
und die heilige Liebe,
die der Teufel verlor
durch seine Überheblichkeit.
Wenn also der Mensch in Gedanken, Wort und Werken gut ist, wenn er sich in den Klostertugenden Gehorsamkeit, Geduld und Demut übt und in den theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, wenn er, wie der Prolog14 verlangt, mit allen Seelenkräften nach den Kardinaltugenden strebt, »so wird der Mensch endlich eines mit Gott in der Weisheit«.
Man nennt die Mystik des St. Trudperter Hohen Liedes, die immer an die rationale Methode der Textdeutung gebunden ist, spekulativ; im Gegensatz zu der schwärmerischen, affektiven Nonnenmystik im 13. und 14. Jahrhundert.
Der neue Marienkult, der sich im Hohen Lied zeigt, steht im Zusammenhang mit anderen Mariendichtungen wie etwa Bruder Wernhers Driu liet von der maget (1172). Von hier empfing die weltliche Frauenverehrung des höfischen Minnesangs ihren Zug zur ideellen Übersteigerung.
c) Die höfische Dichtung des hohen Mittelalters
Nachdem die Bekehrung der Germanen zum Christentum abgeschlossen und die dogmatische Glaubensstrenge der Geistlichen in eine allgemeine, persönlichere Frömmigkeit übergegangen war, setzte eine Verweltlichung ein, die unter Friedrich Barbarossa (1152–1190) den Weg zu einem ersten klassischen Aufschwung der deutschen Literatur ebnete.
Der Grundgedanke des Kreuzzuges hatte den Ritter zum »Gottesstreiter« aufgewertet. Die tatsächlichen Kreuzzugserfahrungen seit 1096 hatten darüber hinaus den geistigen Horizont der Ritterschaft allmählich so sehr erweitert, dass sich der Ritterstand endlich mit gefestigtem weltbürgerlichen Selbstverständnis von der Vorherrschaft der Geistlichkeit befreite und eigene Maßstäbe für seine höfische Gesellschaft setzte.
Nicht länger wurden Weltverachtung und einsiedlerische Bußfertigkeit angestrebt, sondern Daseinsfreude und gesellschaftliche Kultur. Die neuen Tugenden hießen:
Die höfische Dichtung ging nicht darauf aus, gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden, sondern Muster aufzustellen, nach denen sich der höfische Zeitgenosse richten konnte.
Dieser gesellschaftliche Charakter der höfischen Dichtung fällt besonders am Minnesang auf. Die ›hohe Minne‹ gilt keiner Geliebten, die den Werbungen ihres Verehrers nachgeben dürfte; vielmehr wenden sich die Lieder an die hochgestellte, meist verheiratete Herrin im Mittelpunkt der höfischen Gesellschaft, an die hêre frouwe, die als Quelle festlicher Lebensfreude und seelischer Hochgestimmtheit vorgestellt wird. Um ihretwillen vollbringt der Ritter nicht nur kühne Waffentaten, um der Verehrten würdig zu sein, verhält sich der Ritter auch sonst in jeder Hinsicht ohne Fehl und Tadel. »Swer guotes wîbes minne hât, / der schamt sich aller missetât«, sagt Walther von der Vogelweide.
Die Gewährung ihrer Gunst bedeutet die Frau mit einem Lächeln, einem Blick, einem Neigen des Kopfes. Die Erotik ist in diesen Zeichen derart vergeistigt, dass es auf die persönlichen Züge der Frau eigentlich nicht mehr ankommt. Die dem Verhältnis zwischen Lehnsherrn und Dienstmann nachgebildete Beziehung zwischen der Herrin und ihrem Ritter hat rein symbolischen Wert. Entscheidend ist allein die (leidenschaftliche) Anbetung und die ihr entspringende läuternde Kraft. Eine Liebeserfüllung wäre hier unschicklich und würde alles zerstören.
Namhafte Sänger dieser hohen Minne waren Heinrich von Veldeke, Friedrich von Hausen, Heinrich von Morungen, Hartmann von Aue und Reinmar von Hagenau, genannt der Alte. WALTHER VON DER VOGELWEIDE (um 1168–1228), wohl der bedeutendste Lyriker15 der mittelhochdeutschen Zeit, sang zunächst unter dem Einfluss Reinmars am Wiener Hof:
Al mîn fröide lît an einem wîbe:
der herze ist ganzer tugende vol,
und ist sô geschaffen an ir lîbe
daz man ir gerne dienen sol.
Ich erwirbe ein