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Die Wahlverwandschaften. Johann Wolfgang von GoetheЧитать онлайн книгу.

Die Wahlverwandschaften - Johann Wolfgang von Goethe


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      Auf eine solche Weise brachte er Charlotten diesen Morgen erst in die heiterste Laune, dann durch anmutige Gesprächswendungen ganz aus der Fassung, so daß sie zuletzt ausrief: »Du willst gewiß, daß ich das, was ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber zugestehen soll.

      Wenigstens, mein Lieber,« fuhr sie fort, »sollst du gewahr werden, daß deine Wünsche, die freundliche Lebhaftigkeit, womit du sie ausdrückst, mich nicht ungerührt, mich nicht unbewegt lassen. Sie nötigen mich zu einem Geständnis. Ich habe dir bisher auch etwas verborgen. Ich befinde mich in einer ähnlichen Lage wie du und habe mir schon eben die Gewalt angetan, die ich dir nun über dich selbst zumute.«

      »Das hör ich gern,« sagte Eduard; »ich merke wohl, im Ehestand muß man sich manchmal streiten, denn dadurch erfährt man was voneinander.«

      »Nun sollst du also erfahren,« sagte Charlotte, »daß es mir mit Ottilien geht, wie dir mit dem Hauptmann. Höchst ungern weiß ich das liebe Kind in der Pension, wo sie sich in sehr drückenden Verhältnissen befindet. Wenn Luciane, meine Tochter, die für die Welt geboren ist, sich dort für die Welt bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst von Kenntnissen ihr mitgeteilt wird, so wie ihre Noten und Variationen vom Blatte wegspielt; wenn bei einer lebhaften Natur und bei einem glücklichen Gedächtnis sie, man möchte wohl sagen, alles vergißt und im Augenblicke sich an alles erinnert; wenn sie durch Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des Gesprächs sich vor allen auszeichnet und durch ein angebornes herrschendes Wesen sich zur Königin des kleinen Kreises macht, wenn die Vorsteherin dieser Anstalt sie als kleine Gottheit ansieht, die nun erst unter ihren Händen recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen erwerben und einen Zufluß von andern jungen Personen verschaffen wird, wenn die ersten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte immer nur Hymnen sind über die Vortrefflichkeit eines solchen Kindes, die ich denn recht gut in meine Prose zu übersetzen weiß: so ist dagegen, was sie schließlich von Ottilien erwähnt, nur immer Entschuldigung auf Entschuldigung, daß ein übrigens so schön heranwachsendes Mädchen sich nicht entwickeln, keine Fähigkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle. Das wenige, was sie sonst noch hinzufügt, ist gleichfalls für mich kein Rätsel, weil ich in diesem lieben Kinde den ganzen Charakter ihrer Mutter, meiner wertesten Freundin, gewahr werde, die sich neben mir entwickelt hat und deren Tochter ich gewiß, wenn ich Erzieherin oder Aufseherin sein könnte, zu einem herrlichen Geschöpf heraufbilden wollte.

      Da es aber einmal nicht in unsern Plan geht und man an seinen Lebensverhältnissen nicht soviel zupfen und zerren, nicht immer was Neues an sie heranziehen soll, so trag ich das lieber, ja ich überwinde die unangenehme Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut weiß, daß die arme Ottilie ganz von uns abhängt, sich ihrer Vorteile übermütig gegen sie bedient und unsre Wohltat dadurch gewissermaßen vernichtet.

      Doch wer ist so gebildet, daß er nicht seine Vorzüge gegen andre manchmal auf eine grausame Weise geltend machte! Wer steht so hoch, daß er unter einem solchen Druck nicht manchmal leiden müßte! Durch diese Prüfungen wächst Ottiliens Wert; aber seitdem ich den peinlichen Zustand recht deutlich einsehe, habe ich mir Mühe gegeben, sie anderwärts unterzubringen. Stündlich soll mir eine Antwort kommen, und alsdann will ich nicht zaudern. So steht es mit mir, mein Bester. Du siehst, wir tragen beiderseits dieselben Sorgen in einem treuen, freundschaftlichen Herzen. Laß sie uns gemeinsam tragen, da sie sich nicht gegeneinander aufheben!«

      »Wir sind wunderliche Menschen,« sagte Eduard lächelnd. »Wenn wir nur etwas, das uns Sorge macht, aus unserer Gegenwart verbannen können, da glauben wir schon, nun sei es abgetan. Im ganzen können wir vieles aufopfern, aber uns im einzelnen herzugeben, ist eine Forderung, der wir selten gewachsen sind. So war meine Mutter. Solange ich als Knabe oder Jüngling bei ihr lebte, konnte sie der augenblicklichen Besorgnisse nicht los werden. Verspätete ich mich bei einem Ausritt, so mußte mir ein Unglück begegnet sein; durchnetzte mich ein Regenschauer, so war das Fieber mir gewiß. Ich verreiste, ich entfernte mich von ihr, und nun schien ich ihr kaum anzugehören.«

      »Betrachten wir es genauer,« fuhr er fort, »so handeln wir beide töricht und unverantwortlich, zwei der edelsten Naturen, die unser Herz so nahe angehen, im Kummer und im Druck zu lassen, nur um uns keiner Gefahr auszusetzen. Wenn dies nicht selbstsüchtig genannt werden soll, was will man so nennen! Nimm Ottilien, laß mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der Versuch gemacht!«

      »Es möchte noch zu wagen sein,« sagte Charlotte bedenklich, »wenn die Gefahr für uns allein wäre. Glaubst du denn aber, daß es rätlich sei, den Hauptmann mit Ottilien als Hausgenossen zu sehen, einen Mann ohngefähr in deinen Jahren, in den Jahren – daß ich dir dieses Schmeichelhafte nur gerade unter die Augen sage –, wo der Mann erst liebefähig und erst der Liebe wert wird, und ein Mädchen von Ottiliens Vorzügen?«

      »Ich weiß doch auch nicht,« versetzte Eduard, »wie du Ottilien so hoch stellen kannst! Nur dadurch erkläre ich mir‘s, daß sie deine Neigung zu ihrer Mutter geerbt hat. Hübsch ist sie, das ist wahr, und ich erinnere mich, daß der Hauptmann mich auf sie aufmerksam machte, als wir vor einem Jahre zurückkamen und sie mit dir bei deiner Tante trafen. Hübsch ist sie, besonders hat sie schöne Augen; aber ich wüßte doch nicht, daß sie den mindesten Eindruck auf mich gemacht hätte.«

      »Das ist löblich an dir,« sagte Charlotte, »denn ich war ja gegenwärtig; und ob sie gleich viel jünger ist als ich, so hatte doch die Gegenwart der ältern Freundin so viele Reize für dich, daß du über die aufblühende, versprechende Schönheit hinaussahest. Es gehört auch dies zu deiner Art zu sein, deshalb ich so gern das Leben mit dir teile.«

      Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas. Sie hatte nämlich damals dem von Reisen zurückkehrenden Eduard Ottilien absichtlich vorgeführt, um dieser geliebten Pflegetochter eine so große Partie zuzuwenden; denn an sich selbst in bezug auf Eduard dachte sie nicht mehr. Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduarden aufmerksam zu machen; aber dieser, der seine frühe Liebe zu Charlotten hartnäckig im Sinne behielt, sah weder rechts noch links und war nur glücklich in dem Gefühl, daß es möglich sei, eines so lebhaft gewünschten und durch eine Reihe von Ereignissen scheinbar auf immer versagten Gutes endlich doch teilhaft zu werden.

      Eben stand das Ehepaar im Begriff, die neuen Anlagen herunter nach dem Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entgegenstieg und mit lachendem Munde sich schon von unten herauf vernehmen ließ: »Kommen Euer Gnaden doch ja schnell herüber! Herr Mittler ist in den Schloßhof gesprengt. Er hat uns alle zusammengeschrieen, wir sollen sie aufsuchen, wir sollen Sie fragen, ob es not tue.

      ›Ob es not tut‹, rief er uns nach, ›hört ihr? aber geschwind, geschwind!‹«

      »Der drollige Mann!« rief Eduard aus; »kommt er nicht gerade zur rechten Zeit, Charlotte? – Geschwind zurück!« befahl er dem Bedienten; »sage ihm, es tue not, sehr not! Er soll nur absteigen. Versorgt sein Pferd; führt ihn in den Saal, setzt ihm ein Frühstück vor! Wir kommen gleich.

      Laß uns den nächsten Weg nehmen!« sagte er zu seiner Frau und schlug den Pfad über den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte. Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier für das Gefühl gesorgt habe. Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten.

      Auch dem ältesten Stein hatte sie seine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert. Eduard fühlte sich sonderbar überrascht, wie er durch die kleine Pforte hereintrat: er drückte Charlotten die Hand, und im Auge stand ihm eine Träne.

      Aber der närrische Gast verscheuchte sie gleich. Denn dieser hatte keine Ruh im Schloß gehabt, war spornstreichs durchs Dorf bis an das Kirchhoftor geritten, wo er still hielt und seinen Freunden entgegenrief: »Ihr habt mich doch nicht zum besten? Tuts wirklich not, so bleibe ich zu Mittage hier. Haltet mich nicht auf! Ich habe heute noch viel zu tun.«

      »Da Ihr Euch so weit bemüht habt,« rief ihm Eduard entgegen, »so reitet noch vollends herein; wir kommen an einem ernsthaften Orte zusammen; und seht, wie schön Charlotte diese


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