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Neue Gedichte. Rainer Maria RilkeЧитать онлайн книгу.

Neue Gedichte - Rainer Maria Rilke


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wie der Strom am Ausgang seine Dämme

      durchbricht mit seiner Mündung Übermaß,

      so brach nun durch die Altesten der Stämme

      zum letzten Mal die Stimme Josuas.

      Wie waren die geschlagen, welche lachten,

      wie hielten alle Herz und Hände an,

      als hübe sich der Lärm von dreißig Schlachten

      in einem Mund; und dieser Mund begann.

      Und wieder waren Tausende voll Staunen

      wie an dem großen Tag vor Jericho,

      nun aber waren in ihm die Posaunen,

      und ihres Lebens Mauern schwankten so,

      daß sie sich wälzten von Entsetzen trächtig

      und wehrlos schon und überwältigt, eh

      sie‘s noch gedachten, wie er eigenmächtig

      zu Gibeon die Sonne anschrie: steh:

      Und Gott ging hin, erschrocken wie ein Knecht,

      und hielt die Sonne, bis ihm seine Hände

      wehtaten, ob dem schlachtenden Geschlecht,

      nur weil da einer wollte, daß sie stände.

      Und das war dieser; dieser Alte wars,

      von dem sie meinten, daß er nicht mehr gelte

      inmitten seines hundertzehnten Jahrs.

      Da stand er auf und brach in ihre Zelte.

      Er ging wie Hagel nieder über Halmen:

      Was wollt ihr Gott versprechen?

      Ungezählt stehn um euch Götter, wartend daß ihr wählt.

      Doch wenn ihr wählt, wird euch der Herr zermalmen.

      Und dann, mit einem Hochmut ohnegleichen:

      Ich und mein Haus, wir bleiben ihm vermählt.

      Da schrien sie alle: Hilf uns, gieb ein Zeichen

      und stärke uns zu unserer schweren Wahl.

      Aber sie sahn ihn, wie seit Jahren schweigend,

      zu seiner festen Stadt am Berge steigend;

      und dann nicht mehr. Es war das letzte Mal.

      Der Auszug des verlorenen Sohnes

      Nun fortzugehn von alledem Verworrnen,

      das unser ist und uns doch nicht gehört,

      das, wie das Wasser in den alten Bornen,

      uns zitternd spiegelt und das Bild zerstört;

      von allem diesen, das sich wie mit Dornen

      noch einmal an uns anhängt — fortzugehn

      und Das und Den,

      die man schon nicht mehr sah

      (so täglich waren sie und so gewöhnlich),

      auf einmal anzuschauen: sanft, versöhnlich

      und wie an einem Anfang und von nah;

      und ahnend einzusehn, wie unpersönlich,

      wie über alle hin das Leid geschah,

      von dem die Kindheit voll war bis zum Rand —:

      Und dann doch fortzugehen, Hand aus Hand,

      als ob man ein Geheiltes neu zerrisse,

      und fortzugehn: wohin? Ins Ungewisse,

      weit in ein unverwandtes warmes Land,

      das hinter allem Handeln wie Kulisse

      gleichgültig sein wird: Garten oder Wand;

      und fortzugehn: warum? Aus Drang, aus Artung,

      aus Ungeduld, aus dunkler Erwartung,

      aus Unverständlichkeit und Unverstand:

      Dies alles auf sich nehmen und vergebens

      vielleicht Gehaltnes fallen lassen, um

      allein zu sterben, wissend nicht warum —

      Ist das der Eingang eines neuen Lebens?

      Der Ölbaum-Garten

      Er ging hinauf unter dem grauen Laub

      ganz grau und aufgelöst im Ölgelände

      und legte seine Stirne voller Staub

      tief in das Staubigsein der heißen Hände.

      Nach allem dies. Und dieses war der Schluß.

      Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde,

      und warum willst Du, daß ich sagen muß

      Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde.

      Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein.

      Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein.

      Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein.

      Ich bin allein mit aller Menschen Gram,

      den ich durch Dich zu lindern unternahm,

      der Du nicht bist. O namenlose Scham...

      Später erzählte man: ein Engel kam —.

      Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht

      und blätterte gleichgültig in den Bäumen.

      Die Jünger rührten sich in ihren Träumen.

      Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht.

      Die Nacht, die kam, war keine ungemeine;

      so gehen hunderte vorbei.

      Da schlafen Hunde und da liegen Steine.

      Ach eine traurige, ach irgendeine,

      die wartet, bis es wieder Morgen sei.

      Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern,

      und Nächte werden nicht um solche groß.

      Die Sich-Verlierenden läßt alles los,

      und sie sind preisgegeben von den Vätern

      und ausgeschlossen aus der Mütter Schooß.

      Pietà

      So seh ich, Jesus, deine Füße wieder,

      die damals eines Jünglings Füße waren,

      da ich sie bang entkleidete und wusch;

      wie standen sie verwirrt in meinen Haaren

      und wie ein weißes Wild im Dornenbusch.

      So seh ich deine niegeliebten Glieder

      zum erstenmal in dieser Liebesnacht.

      Wir legten uns noch nie zusammen nieder,

      und nun wird nur bewundert und gewacht.

      Doch,


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