Der Zauberberg. Volume 2. Томас МаннЧитать онлайн книгу.
wieder tragen würde – jeden zweiten Montag im Speise-saal, wie damals, als Hans Castorp, mit Blut beschmiert, zu spät gekommen war, in seinen ersten Tagen. Drei Vierteljahre lang hatte der Analytiker über Liebe und Krankheit gesprochen, – nie viel auf einmal, in kleinen Portionen, in halb – bis dreiviertel-stündigen Plaudereien, breitete er seine Wissens – und Gedankenschätze aus, und jedermann hatte den Eindruck, daß er nie werde aufzuhören brauchen, daß es immer und ewig so weitergehen könne. Das war eine Art von halbmonatlicher "Tausend-undeine Nacht", sich hinspinnend von Mal zu Mal ins Beliebi-ge und wohlgeeignet, wie die Märchen der Scheherezade, einen neugierigen Fürsten zu befriedigen und von Gewalttaten abzu-halten. In seiner Uferlosigkeit erinnerte Dr. Krokowskis Thema an das Unternehmen, dem Settembrini seine Mitarbeit ge-schenkt, die Enzyklopädie der Leiden, und als wie abwand-lungsfähig es sich erwies, möge man daraus ersehen, daß der Vortragende neulich sogar von Botanik gesprochen hatte, ge-nauer: von Pilzen … Übrigens hatte er den Gegenstand viel-leicht ein wenig gewechselt; es war jetzt eher die Rede von Liebe und Tod, was denn zu mancher Betrachtung teils zart poeti-schen, teils aber unerbittlich wissenschaftlichen Gepräges Anlaß gab. In diesem Zusammenhang also war der Gelehrte in seinem östlich schleppenden Tonfall und mit seinem nur einmal an-schlagenden Zungen-R auf Botanik gekommen, das heißt auf die Pilze, – diese üppigen und phantastischen Schattengeschöpfe des organischen Lebens, fleischlich von Natur, dem Tierreich sehr nahe stehend, – Produkte tierischen Stoffwechsels, Eiweiß, Glykogen, animalische Stärke also, fanden sich in ihrem Auf-bau. Und Dr. Krokowski hatte von einem Pilz gesprochen, der berühmt schon seit dem klassischen Altertum seiner Form und der ihm zugeschriebenen Kräfte wegen, – einer Morchel, in de-ren lateinischem Namen das Beiwort impudicus vorkam, und dessen Gestalt an die Liebe, dessen Geruch jedoch an den Tod erinnerte. Denn das war auffallenderweise Leichengeruch, den der Impudicus verbreitete, wenn von seinem glockenförmigen Hute der grünliche, zähe Schleim abtropfte, der ihn bedeckte, und der Träger der Sporen war. Aber bei Unbelehrten galt der Pilz noch heute als aphrodisisches Mittel.
Na, etwas stark war das ja gewesen für die Damen, hatte Staatsanwalt Paravant gefunden, der, moralisch gestützt durch des Hofrats Propaganda, die Schneeschmelze hier überdauerte. Und auch Frau Stöhr, die ebenfalls charaktervoll standhielt und jeder Versuchung zu wilder Abreise die Stirne bot, hatte bei Tisch geäußert, heute sei Krokowski denn aber doch "obskur" gewesen mit seinem klassischen Pilz. "Obskur", sagte die Unse-lige und schändete ihre Krankheit durch namenlose Bildungs-schnitzer. Worüber aber Hans Castorp sich wunderte, war, daß Joachim auf Dr. Krokowski und seine Botanik anspielte; denn eigentlich war zwischen ihnen von dem Analytiker ebensowe-nig die Rede, wie von der Person Clawdia Chauchats oder der Marusjas, – sie erwähnten ihn nicht, sie übergingen sein Wesen und Wirken lieber mit Stillschweigen. Jetzt aber also hatte Joachim den Assistenten genannt, – in mißlaunigem Tone, wie übrigens auch schon seine Bemerkung, daß er die volle Wiesen-blüte nicht abwarten wolle, recht mißlaunig geklungen hatte. Der gute Joachim, nachgerade schien er im Begriff, sein Gleich-gewicht einzubüßen; seine Stimme schwankte beim Sprechen vor Gereiztheit, er war an Sanftmut und Besonnenheit durchaus nicht mehr der alte. Entbehrte er das Apfelsinenparfüm? Brachte die Fopperei mit der Gaffky-Nummer ihn zur Verzweiflung? Konnte er nicht mit sich selber ins Reine darüber kommen, ob er den Herbst hier erwarten oder falsche Abreise halten sollte?
In Wirklichkeit war es noch etwas anderes, wodurch dies ge-reizte Beben in Joachims Stimme kam und weshalb er des bota-nischen Kollegs von neulich in fast höhnischem Tone erwähnt hatte. Von diesem Etwas wußte Hans Castorp nichts, oder viel-mehr, er wußte nicht, daß Joachim davon wußte, denn er selbst, dieser Durchgänger, dies Sorgenkind des Lebens und der Päd-agogik, er wußte nur zu gut davon. Mit einem Worte, Joachim war seinem Vetter auf gewisse Schliche gekommen, er hatte ihn unversehens bei einer Verräterei belauscht, ähnlich derjenigen, deren er sich am Faschingsdienstag schuldig gemacht, – einer neuen Treulosigkeit, verschärft durch den Umstand, an dem nicht zu zweifeln war, daß Hans Castorp sie dauernd verübte.
Zum ewig eintönigen Rhythmus des Zeitablaufs, zur kurz-weilig feststehenden Gliederung des Normaltages, der immer derselbe, der sich selbst zum Verwechseln und bis zur Verwir-rung ähnlich war, identisch mit sich, die stehende Ewigkeit, so daß schwer zu begreifen war, wie er Veränderung zu zeitigen vermochte, – zur unverbrüchlichen Alltagsordnung also gehörte, wie jedermann sich erinnert, der Rundgang Dr. Krokowskis zwischen halb vier und vier Uhr nachmittags durch alle Zim-mer, das ist über alle Balkons, von Liegestuhl zu Liegestuhl. Wie oft hatte nicht der Berghof-Normaltag sich erneut, seit damals, als Hans Castorp in seiner horizontalen Lebenslage sich geärgert hatte, weil der Assistent einen Bogen um ihn beschrieb und ihn nicht in Betracht zog! Längst war aus dem Gaste von damals ein Kamerad geworden, – Dr. Krokowski redete ihn sogar häufig mit diesem Namen an bei seiner Kontrollvisite, und wenn das militärische Wort, dessen R-Laut er auf exotische Weise durch nur einmaliges Anschlagen der Zunge am vorderen Gaumen hervorbrachte, ihm auch scheußlich zu Gesichte stand, wie Hans Castorp gegen Joachim geurteilt hatte, so paßte es doch nicht schlecht zu seiner stämmigen mannhaft-heiteren und zu fröhli-chem Vertrauen auffordernden Art, die freilich wiederum durch seine Schwarzbleichheit in gewisser Weise Lügen gestraft wur-de, und der denn doch etwas Bedenkliches jederzeit anhaftete.
"Nun, Kamerad, wie gehts, wie stehts!" sagte Dr. Krokowski, indem er, vom russischen Barbarenpaare kommend, an das Kopfende von Hans Castorps Lager trat; und der so frischerweise Angeredete, die Hände auf der Brust gefaltet, lächelte täglich wieder gepeinigt-freundlich über die scheußliche Anrede, indem er des Doktors gelbe Zähne betrachtete, die sich in seinem schwarzen Barte zeigten. "Recht wohl geruht?" fuhr Dr. Krokowski dann wohl fort. "Fallende Kurve? Steigende heut? Nun, hat nichts auf sich, kommt bis zur Hochzeit schon wieder in Ordnung. Ich grüße Sie." Und mit diesem Wort, das ebenfalls scheußlich klang, da er es wie "gdieße" sprach, ging er schon weiter, zu Joachim hinüber – es handelte sich um einen Rundgang, einen kurzen Blick nach dem Rechten und um nichts weiter.
Manchmal freilich auch verweilte Dr. Krokowski sich länger, plauderte, breitschultrig dastehend und immer mannhaft lä-chelnd, mit dem Kameraden über dies und jenes, über die Wit-terung, über Abreisen und Ankünfte, über des Patienten Stim-mung, seine gute oder schlechte Laune, seine persönlichen Ver-hältnisse auch wohl, seine Herkunft und seine Aussichten, bis er "ich gdieße Sie" sagte und weiterging; und Hans Castorp, die Hände zur Abwechslung hinter dem Kopf gefaltet, antwortete ihm, ebenfalls lächelnd, auf all das, – mit dem durchdringenden Gefühle der Scheußlichkeit, gewiß, aber er antwortete ihm. Sie plauderten gedämpft, – obgleich die gläserne Scheidewand die Loggien nicht völlig trennte, konnte Joachim die Unterhaltung nebenan nicht verstehen und machte übrigens auch nicht den leisesten Versuch dazu. Er hörte seinen Vetter sogar vom Liegestuhl aufstehen und mit Dr. Krokowski ins Zimmer gehen, ver-mutlich um ihm seine Fieberkurve zu zeigen; und dort setzte dann das Gespräch sich wohl noch eine längere Weile fort, der Verzögerung nach zu urteilen, womit der Assistent auf dem in-neren Wege bei Joachim eintraf Worüber plauderten die Kameraden? Joachim fragte nicht; aber sollte jemand aus unserer Mitte sich an ihm kein Beispiel nehmen und die Frage aufwerfen, so ist allgemein darauf hinzuweisen, wieviel Stoff und Anlaß zu geistigem Austausch vorhanden ist zwischen Männern und Kameraden, deren Grundanschauungen idealistisches Gepräge tragen, und von denen der eine auf seinem Bildungswege dazu gelangt ist, die Materie als den Sündenfall des Geistes, als eine schlimme Reizwucherung desselben aufzufassen, während der andere, als Arzt, den sekun-dären Charakter organischer Krankheit zu lehren gewohnt ist. Wie manches, meinen wir, ließ sich da nicht erörtern und aus-tauschen über die Materie als unehrbare Ausartung des Immate-riellen, über das Leben als Impudizität der Materie, über die Krankheit als unzüchtige Form des Lebens! Da konnte, unter Anlehnung an laufende Konferenzen, die Rede gehen von der Liebe als krankheitsbildender Macht, vom übersinnlichen We-sen des Merkmals, über "alte" und "frische" Stellen, über lösli-che Gifte und Liebestränke, über die Durchleuchtung des Un-bewußten, den Segen der Seelenzergliederung, die Rückver-wandlung des Symptoms – und was wissen wir, – von deren Seite dies alles nur Vorschläge und Vermutungen sind, wenn die Frage aufgeworfen wird, was Dr. Krokowski und der junge Hans Castorp miteinander zu plaudern hatten!
Übrigens plauderten sie nicht mehr, das lag zurück, nur eine Weile, einige Wochen lang war es so gewesen; in letzter Zeit hielt Dr. Krokowski sich bei diesem Patienten wieder nicht länger auf als bei allen anderen, –"Nun,