Geschlecht und Charakter. Отто ВейнингерЧитать онлайн книгу.
über zu diesem Thema gehörige Erscheinungen geschrieben haben, an, wenn ich zum Ausgangspunkt der Betrachtung die von der Entwicklungsgeschichte (Embryologie) festgestellte Tatsache der geschlechtlichen Undifferenziertheit der ersten embryonalen Anlage des Menschen, der Pflanzen und der Tiere wähle.
Einem menschlichen Embryo beispielsweise kann man, wenn er jünger als fünf Wochen ist, das Geschlecht nicht ankennen, zu dem er sich später entwickeln wird. Erst in der fünften Fötalwoche beginnen hier jene Prozesse, welche gegen Ende des dritten Monates der Schwangerschaft zur Entwicklung einer ursprünglich beiden Geschlechtern gemeinsamen Genitalanlage nach einer Seite hin und weiter zur Gestaltung des ganzen Individuums als eines sexuell genau definierten führen.3 Die Einzelheiten dieser Vorgänge sollen hier nicht näher beschrieben werden.
Zu jener bisexuellen Anlage eines jeden, auch des höchsten Organismus, läßt sich sehr gut das ausnahmslose Beharren, der Mangel eines völligen Verschwindens der Charaktere des anderen Geschlechtes beim noch so eingeschlechtlich entwickelten pflanzlichen, tierischen und menschlichen Individuum in Beziehung bringen. Die geschlechtliche Differenzierung ist nämlich nie eine vollständige. Alle Eigentümlichkeiten des männlichen Geschlechtes sind irgendwie, wenn auch noch so schwach entwickelt, auch beim weiblichen Geschlechte nachzuweisen; und ebenso die Geschlechtscharaktere des Weibes auch beim Manne sämtlich irgendwie vorhanden, wenn auch noch so zurückgeblieben in ihrer Ausbildung. Man sagt, sie seien »rudimentär« vorhanden. So, um gleich den Menschen, der uns weiterhin fast ausschließlich interessieren wird, als Beispiel anzuführen, hat auch die weiblichste Frau einen feinen Flaum von unpigmentierten Wollhaaren, »Lanugo« genannt, an den Stellen des männlichen Bartes, auch der männlichste Mann in der Entwicklung stehen gebliebene Drüsenkomplexe unter einer Brustwarze. Im einzelnen nachgegangen ist man diesen Dingen vor allem in der Gegend der Geschlechtsorgane und ihrer Ausführwege, im eigentlichen »Tractus urogenitalis«, und hat bei jedem Geschlechte alle Anlagen des anderen im rudimentären Zustande in lückenlosem Parallelismus nachweisen können.
Diese Feststellungen der Embryologen können, mit anderen zusammengehalten, in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Bezeichnet man nach Häckel die Trennung der Geschlechter als »Gonochorismus«, so wird man zunächst bei verschiedenen Klassen und Arten verschiedene Grade dieses Gonochorismus zu unterscheiden haben. Nicht nur die verschiedenen Arten der Pflanzen, sondern auch die Tierspezies werden sich durch die größere oder geringere Latenz der Charaktere des zweiten Geschlechtes voneinander abheben. Der extremste Fall der Geschlechtsdifferenzierung, also stärkster Gonochorismus, liegt für dieses erweiterte Blickfeld im Geschlechtsdimorphismus vor, jener Eigentümlichkeit z. B. mancher Asselarten, daß Männchen und Weibchen innerhalb der nämlichen Spezies sich äußerlich voneinander nicht weniger, ja oft mehr unterscheiden, als selbst Mitglieder zweier differenter Familien und Gattungen. Bei Wirbeltieren kommt danach nie so ausgeprägter Gonochorismus vor, als ihn z. B. Krustaceen oder Insekten aufweisen können. Es gibt unter ihnen nirgends eine so vollständige Scheidung von Männchen und Weibchen, wie sie im sexuellen Dimorphismus vollzogen ist, vielmehr überall unzählige Mischformen der Geschlechter, selbst sogenannten »abnormen Hermaphroditismus«, ja bei den Fischen sogar Familien mit ausschließlichem Zwittertum, mit »normalem Hermaphroditismus«.
Es ist nun von vornherein anzunehmen, daß es nicht nur extreme Männchen mit geringsten Resten der Weiblichkeit und auf der anderen Seite extreme Weibchen mit ganz reduzierter Männlichkeit und in der Mitte zwischen beiden gedrängt jene Zwitterformen, zwischen jenen drei Punkten aber nur leere Strecken geben werde. Uns beschäftigt speziell der Mensch. Doch ist fast alles, was hier über ihn zu sagen ist, mit größeren oder geringeren Modifikationen auch auf die meisten anderen Lebewesen mit geschlechtlicher Fortpflanzung anwendbar.
Vom Menschen aber gilt ohne jeden Zweifel folgendes:
Es gibt unzählige Abstufungen zwischen Mann und Weib, »sexuelle Zwischenformen«. Wie die Physik von idealen Gasen spricht, d. h. solchen, die genau dem Boyle-Gay-Lussacschen Gesetze folgen (in Wirklichkeit gehorcht ihm kein einziges), und von diesem Gesetze ausgeht, um im konkreten Falle die Abweichungen von ihm zu konstatieren: so können wir einen idealen Mann M und ein ideales Weib W, die es in der Wirklichkeit nicht gibt, aufstellen als sexuelle Typen. Diese Typen können nicht nur, sie müssen konstruiert werden. Nicht allein das »Objekt der Kunst«, auch das der Wissenschaft ist der Typus, die platonische Idee. Die wissenschaftliche Physik erforscht das Verhalten des vollkommen starren und des vollkommen elastischen Körpers, wohl bewußt, daß die Wirklichkeit weder den einen noch den anderen ihr je zur Bestätigung darbieten wird; die empirisch gegebenen Vermittlungen zwischen beiden dienen ihr nur als Ausgangspunkt für diese Aufsuchung der typischen Verhaltungsweisen und werden bei der Rückkehr aus der Theorie zur Praxis als Mischfälle behandelt und erschöpfend dargestellt. Und ebenso gibt es nur alle möglichen vermittelnden Stufen zwischen dem vollkommenen Manne und dem vollkommenen Weibe, Annäherungen an beide, die selbst nie von der Anschauung erreicht werden.
Man achte wohl: hier ist nicht bloß von bisexueller Anlage die Rede, sondern von dauernder Doppelgeschlechtlichkeit. Und auch nicht bloß von den sexuellen Mittelstufen, (körperlichen oder psychischen) Zwittern, auf die bis heute aus naheliegenden Gründen alle ähnlichen Betrachtungen beschränkt sind. In dieser Form ist also der Gedanke durchaus neu. Bis heute bezeichnet man als »sexuelle Zwischenstufen« nur die sexuellen Mittelstufen: als ob dort, mathematisch gesprochen, eine Häufungsstelle wäre, mehr wäre als eine kleine Strecke auf der überall gleich dicht besetzten Verbindungslinie zweier Extreme!
Also Mann und Weib sind wie zwei Substanzen, die in verschiedenem Mischungsverhältnis, ohne daß je der Koeffizient einer Substanz Null wird, auf die lebenden Individuen verteilt sind. Es gibt in der Erfahrung nicht Mann noch Weib könnte man sagen, sondern nur männlich und weiblich. Ein Individuum A oder ein Individuum B darf man darum nicht mehr schlechthin als »Mann« oder »Weib« bezeichnen, sondern ein jedes ist nach den Bruchteilen zu beschreiben, die es von beiden hat, etwa:
wobei stets
Die genaueren Belege für diese Auffassung – einiges Allgemeinste wurde vorbereitend in der Einleitung angedeutet – sind zahllos. Es sei erinnert an alle »Männer« mit weiblichem Becken und weiblichen Brüsten, fehlendem oder spärlichem Bartwuchs, mit ausgesprochener Taille, überlangem Kopfhaar, an alle »Weiber« mit schmalen Hüften4 und flachen Brüsten, mageren Nates und Femurfettpolstern, tiefer rauher Stimme und einem Schnurrbart (zu dem die Anlage viel öfter ausgiebig vorhanden ist, als man sie gemeiniglich bemerkt, weil er natürlich nie belassen wird; vom Barte, der so vielen Frauen nach dem Klimakterium wächst, ist hier nicht die Rede) etc. etc. Alle diese Dinge, die sich bezeichnenderweise fast immer am gleichen Menschen beisammen finden, sind jedem Kliniker und praktischen Anatomen aus eigener Anschauung bekannt, nur noch nirgends zusammengefaßt.
Den umfassendsten Beweis für die hier verfochtene Anschauung liefert aber die große Schwankungsbreite der Zahlen für geschlechtliche Unterschiede, die innerhalb der einzelnen Arbeiten wie zwischen den verschiedenen anthropologischen und anatomischen Unternehmungen zur Messung derselben ohne Ausnahme anzutreffen ist, die Tatsache, daß die Zahlen für das weibliche Geschlecht nie dort anfangen, wo jene für das männliche aufhören, sondern stets in der Mitte ein Gebiet liegt, in welchem Männer und Frauen vertreten sind. So sehr diese Unsicherheit der Theorie von den sexuellen Zwischenstufen zugute kommt, so aufrichtig muß man sie im Interesse wahrer Wissenschaft bedauern. Die Anatomen und Anthropologen von Fach haben eben eine wissenschaftliche Darstellung des sexuellen Typus noch gar nicht angestrebt, sondern wollten immer nur allgemein in gleichem Ausmaße gültige Merkmale haben, und hieran wurden sie durch die Überzahl der Ausnahmen immer verhindert. So erklärt sich die Unbestimmtheit und Weite aller hieher gehörigen Resultate der Messung.
Gar sehr hat der Zug zur Statistik, der unser industrielles Zeitalter vor allen früheren auszeichnet, in dem es – offenbar der schüchternen Verwandtschaft mit der Mathematik wegen – seine Wissenschaftlichkeit besonders betont glaubt, auch hier den Fortschritt der Erkenntnis gehemmt. Den Durchschnitt wollte man gewinnen,
3
Natürlich – zu dieser Anschauung werden wir durch unser Bedürfnis nach Kontinuität genötigt – irgendwie müssen die sexuellen Unterschiede, wenn auch anatomisch, morphologisch unsichtbar und selbst durch die stärksten Vergrößerungen des Mikroskopes dem Auge nicht zu erschließen, schon vor der Zeit der ersten Differenzierung formiert, »präformiert« sein. Aber wie, das ist ja die große Krux aller Entwicklungsgeschichte.
4
Nicht die absolute Breite des Beckens als in Centimetern angegebene Distanz der Knorren der Oberschenkel oder der Hüftbeindorne, sondern die relative Breite der Hüften im Verhältnis zur Schulterbreite ist ein ziemlich sicheres und recht allgemein verwendbares körperliches Kriterium für den Gehalt an W.