Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке. Эрих Мария РемаркЧитать онлайн книгу.
Sie etwas trinken?“ fragte Marill Ruth. Sie schüttelte den Kopf.
„Doch, nehmen Sie was. Es ist besser.“ Er goss ihr ein halbes Glas ein.
Es war dunkel geworden. Am Horizont über den Dächern schimmerte nur noch schwachgrün und orangefarben das letzte Licht. Darin schwamm der bleiche Mond, zerfressen von Löchern wie eine alte Messingmünze. Von der Straße her hörte man Stimmen. Sie waren laut, vergnügt und nichtsahnend. Kern erinnerte sich plötzlich an Steiner und das, was er gesagt hatte. Wenn neben dir jemand stirbt: du spürst es nicht. Das ist das Unglück der Welt. Mitleid ist kein Schmerz. Mitleid ist eine versteckte Schadenfreude. Ein Aufatmen, dass man es nicht selber ist oder einer, den man liebt. Er blickte zu Ruth hinüber. Er konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen.
Marill horchte auf. „Was ist denn das?“
Ein langer, voller Geigenton schwang durch die anbrechende Nacht. Er verhallte, schwoll wieder an, stieg empor, sieghaft, trotzig – und dann begannen Läufe zu perlen, zarter und zarter, und eine Melodie löste sich los, einfach und traurig wie der versinkende Abend.
„Es ist hier im Hotel“, sagte Marill und spähte durchs Fenster. „Über uns in der vierten Etage.“
„Ich glaube, ich kenne ihn“, erwiderte Kern. „Es ist ein Geiger, den ich schon einmal gehört habe. Ich wusste nicht, dass er auch hier wohnt.“
„Das ist kein einfacher Geiger. Das ist viel mehr.“
„Soll ich hinaufgehen und ihm sagen, er möchte aufhören?“
„Warum?“
Kern machte eine Bewegung zur Tür. Marills Brille glänzte. „Nein. Wozu? Traurig sein kann man immer. Und Sterben ist überall. Das geht alles zusammen.“
Sie saßen und lauschten. Nach langer Zeit kam Braun aus dem Nebenzimmer. „Aus“, sagte er. „Exitus[37]. Sie hat nicht viel gespürt. Weiß nur, dass ein Kind da ist. Das haben wir ihr noch sagen können.“
Die drei standen auf. „Wir können sie wieder hierher bringen“, sagte Braun. „Das Zimmer nebenan wird ja gebraucht.“
Die Frau lag weiß und plötzlich schmal in der Verwüstung von blutigen Tüchern, Tupfern und Eimern und Schalen von Blut und Watte. Sie lag da mit einem fremden, strengen Gesicht, und es ging sie alles nichts mehr an. Der Arzt mit der Glatze, der sich um sie herumbewegte, wirkte wie unanständig gegen sie: fressendes, säftevolles, zermalmendes, ausscheidendes Leben neben der Ruhe der Vollendung.
„Lassen Sie sie zugedeckt“, sagte der Arzt. „Besser Sie sehen das andere nicht. War sowieso schon ein bisschen viel, nicht wahr, kleines Fräulein?“
Ruth schüttelte den Kopf.
„Sie haben sich tapfer gehalten. Nicht gemuckt. Wissen Sie, was ich jetzt könnte, Braun? Mich aufhängen, mich glatt am nächsten Fenster aufhängen!“
„Sie haben das Kind lebendig geholt; das war eine Glanzleistung.“
„Aufhängen! Verstehen Sie, ich weiß, dass wir alles getan haben, dass man machtlos dagegen ist. Trotzdem könnte ich mich aufhängen!“
Er würgte wütend, sein Gesicht über dem Kragen des blutigen Kittels war rot und fleischig. „Zwanzig Jahre mache ich das nun schon. Und jedesmal, wenn mir einer durch die Lappen geht, möchte ich mich aufhängen. Zu blödsinnig.“ Er wandte sich an Kern. „Nehmen Sie mir da aus der linken Rocktasche die Zigaretten und stecken Sie mir eine in den Mund. Ja, kleines Fräulein, ich weiß, was Sie denken. So, und nun Feuer. Ich geh’ mich waschen.“ Er starrte auf die Gummihandschuhe, als wären sie an allem schuld, und ging schwerfällig ins Badezimmer.
Sie trugen die Tote mit dem Bett auf den Korridor hinaus und von da in ihr Zimmer zurück. Auf dem Korridor standen ein paar Leute, die in dem großen Zimmer wohnten. „Konnte man sie denn nicht in eine Klinik bringen?“ fragte eine dürre Frau, die einen Hals wie ein Truthahn hatte.
„Nein“, sagte Marill. „Sonst hätte man’s getan.“
„Und nun bleibt sie hier, die ganze Nacht? Eine Tote nebenan – wer kann da schlafen!“
„Dann bleiben Sie wach, Großmutter“, entgegnete Marill.
„Ich bin keine Großmutter“, fauchte die Frau.
„Das merkt man.“
Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu. „Und wer macht das Zimmer sauber? Der Geruch geht ja nie heraus. Man hätte ja auch Nummer zehn drüben dafür nehmen können!“
„Sehen Sie“, sagte Marill zu Ruth, „die Frau hier ist tot. Und ihr Kind hätte sie gebraucht und ihr Mann vielleicht auch. Aber dieses unfruchtbare Plättbrett da draußen lebt. Wird wahrscheinlich steinalt zum Ärger der Mitmenschen. Das ist eines der Rätsel, hinter die man nie kommt.“
„Das Böse ist härter, es hält mehr aus“, erwiderte Ruth finster.
Marill sah sie an. „Woher wissen Sie das denn schon?“
„Das ist heute leicht zu lernen.“
Marill erwiderte nichts. Er blickte sie nur an. Die beiden Ärzte kamen. „Das Kind ist bei der Wirtin“, sagte der mit der Glatze. „Es wird abgeholt werden. Ich telefoniere gleich deswegen. Auch wegen der Frau. Kannten Sie sie näher?“
Marill schüttelte den Kopf. „Sie ist vor ein paar Tagen gekommen. Ich habe nur einmal mit ihr gesprochen.“
„Vielleicht hat sie Papiere. Die kann man dann mitgeben.“
„Ich werde nachsehen.“
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