Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр ИличевскийЧитать онлайн книгу.
wieder etwas, wälzten sich dabei auf dem Boden herum, klirrten mit Flaschen, raschelten mit Zeitungen, und erneut nahm Koroljow dies aus irgendeinem Grund als Zeichen des Einvernehmens, doch am Morgen sah er, wie der trübsinnige usbekische Hausmeister mit einer Wäschezange die Hinterlassenschaften der Obdachlosen in einen Sack stopfte.
Koroljow hielt sich die Nase zu und steckte dem stummen Usbeken im Vorbeigehen einen Schein zu, rannte nach unten, und während er bei Eiseskälte in seinem reifbedeckten Wagen schlotterte, unter dessen Haube ein nicht warm werden wollender Motor klopfte und pochte, redete er sich ein, dass es für geschwächte, berauschte Menschen schwer, ja geradezu unmöglich sei, sich schlaftrunken aufzurappeln und aus dem Warmen in die Kälte hinunterzusteigen, um die Notdurft zu verrichten.
Mit der Gastfreundschaft war es für ihn dann nach zwei Vorfällen im letzten Winter vorbei gewesen: Ein großer Haufen Scheiße auf der Treppe und eine Prügelei der Obdachlosen untereinander samt dreister Bullen, Blutlache und zurückgelassenem Schustermesser.
Am Abend desselben Tages hatte er auf dem geschrubbten Treppenabsatz die dicke Alte vorgefunden. Er brüllte sie an und stampfte mit dem Fuß auf. Er schrie, sie solle auf der Stelle verschwinden, wählte auf dem Handy die 02, aber da war besetzt, er brüllte wieder, rannte die Treppe hinauf zu seiner Wohnung und wieder runter. Die Alte rappelte sich auf, ächzte, drehte sich um, und der durch die Bewegung aufgewirbelte Gestank verschlug ihm den Atem, zog ihm den Boden unter den Füßen weg, er sank in sich zusammen und verstummte. Da trat Nailja Iossifowna aus der Tür, sie hielt ihren Kittel am Kragen zu und rief mit drohender Geste:
»Ruhe! Ruuuhe!«
Und versteckte sich sofort wieder hinter ihrer Tür.
Koroljow hatte in ihren riesigen Basedow’schen Augen Tränen stehen sehen.
Unter dem anschwellenden Geknurre der Pennerin beeilte er sich zu verschwinden.
III
Trotz der regelmäßig eingesauten Fußabtreter, die er aus Resten der beim Renovieren übriggebliebenen Auslegware zuschnitt, vertrieb er die Obdachlosen nie.
Anfangs hatte er sie stillschweigend Nailja Iossifowna überlassen. Doch die konnte sich nicht dazu durchringen, etwas zu unternehmen. Dann wartete er darauf, dass jemand anders im Haus gegen die Obdachlosen zu Felde ziehen würde[9]. Aber die übrigen Bewohner des zweiten und dritten Stocks gingen entweder früh zu Bett und standen spät auf, oder sie verließen die Wohnung monatelang überhaupt nicht und interessierten sich daher nicht für den Zustand des Treppenhauses.
Ein Stockwerk höher stand eine Wohnung leer, Makler führten ihre verängstigten Kunden hinauf. Daneben war eine Prostituierte eingezogen, die aussah wie eine Schauspielerin aus einem italienischen 50er-Jahre-Film über ein Fischerdorf. Koroljow hatte den Film als Kind mehrmals gesehen – im Internat wurden samstags immer irgendwelche alten Filme angeschleppt. Gezeigt wurden sie im Speisesaal. Der Filmvorführer knutschte auf der Fensterbank mit der Krankenschwester und reagierte nicht gleich, wenn es pfiff und tönte: »He, du Depp! Weiter!« In den quälenden Pausen zwischen den knisternden Küssen war zu hören, wie der Film surrte und ruckartig an den Spulen zerrte, wie eine Maus herumtrippelte und ein Stück Brotrinde die Scheuerleiste entlangjagte.
Auf der geflickten Leinwand zog ein Mädchen von unendlicher Schönheit, das Haar vom Wind zerzaust, im engen Matrosenhemd, unter dem sich die Brüste drängten, bis zum Knie in schäumender Brandung, ein Fischerboot ins tiefe Wasser, kletterte hinein, entrollte das Segel, und Koroljow stockte der Atem[10].
Zwei Puffmütter mit zerknittertem, aber professionellem Gesichtsausdruck und klimperndem Schlüsselbund brachten der Nachbarin reiche Kunden ins Haus. Diese agilen, wachsamen Brünetten hatten gepflegte, sonnengebräunte Haut, kauten nervös Kaugummi, quietschten weich in ihren Krokodilmokassins, ließen ihre Uhren unter den Aufschlägen hervorblitzen und die Schnallen ihrer Aktentaschen aufblinken und hinterließen in der Luft ein feines Duftornament. Haut und Kleidung entstammten einer anders begüterten Welt – einer Welt voller Massageglanz, Lackfältchen und Gesichtspflege.
Abends kam die junge Frau herunter. In einen kurzen Pelz gehüllt, die Schuhe an den bloßen Füßen, trottete sie zerstreut durch den Matsch zur Krasnaja Presnja. Die Passanten drehten sich nach ihr um und verlangsamten den Schritt. Koroljow war ihr einige Male nachgegangen, er hatte dann lange auf dem Gehweg gestanden und durch das Fenster eines japanischen Restaurants ihr Profil betrachtet, während sie die Speisekarte studierte, Sushi kaute, sich zerstreut die wirren Haare richtete, die vollen, zarten Lippen ein wenig öffnete und mal den Raum, mal das unter der Theke angebrachte Aquarium mit den beiden streitenden Buntbarschen betrachtete.
In der dritten Wohnung lebte zusammen mit seinem betagten Vater ein stiller, drahtiger junger Mann mit Downsyndrom. Sie kannten sich eigentlich nicht, doch wenn sie sich begegneten, rief er munter »Hallöchen, wie geht’s?« und streckte Koroljow die kräftige Hand hin. Der junge Nachbar schleppte ständig irgendetwas die Treppen rauf und runter, mal Kartoffelsäcke, mal Zwiebelnetze, mal Hanteln, mal Kugellager verschiedener Kaliber, die auf einem Draht aufgefädelt waren wie Gebäckkringel. Einmal war ihm ein solches Bund gerissen und die Kugellager mit schrecklichem Radau die Stufen hinuntergerollt. Der Junge bekam einen Schreck und lief weg. Koroljow sammelte die Ringe im ganzen Treppenhaus ein und legte sie aufs Fensterbrett. Seither lagen sie dort, mittlerweile verrostet und mit Zigarettenstummeln gespickt.
Auf seiner Etage wohnten Angestellte des Gartenbaugeschäfts auf dem Gelände des Timirjasew-Museums – schwermütige, unablässig fluchende Wießrussen, die sich freitagabends auf der Bank vor dem Haus volllaufen ließen. Sie wurden von der Geschäftsleitung immer wieder zwischen den Filialen hin und her geschoben, und so traf er heute die einen, morgen die anderen und übermorgen die dritten, und es kam ihm vor, als würden in der Einzimmerwohnung an die zwanzig Leute leben.
In der Wohnung direkt gegenüber wohnte eine sonderbare Familie. Die Frau war gläubig und erzog ihre zwei heranwachsenden Mädchen streng. Sonntags ging sie mit ihnen in die Kirche, von wo sie – alle drei mit Kopftuch und Rucksack, in grauen und lila Jäckchen sowie langen schwarzen Röcken, einander ausgesprochen ähnlich – im Gänsemarsch[11] zurückkamen. Die noch junge Frau blickte stets finster drein und grüßte nie. Ihren Mann, der ebenfalls keinen Gruß erwiderte[12], verdrosch sie wortlos oder ließ ihn nicht in die Wohnung, wenn er gelegentlich volltrunken nach Hause kam, die Tasche über der Schulter, eine Flasche Starkbier in der Hand und nicht gleich in der Lage, die ihm entgegenstürzenden Stufen zu bewältigen. Der Mann war schmächtig, hatte aber gewaltige, steife Finger mit dicken schwarzen Nägeln an kräftigen Phalangen, mit denen er seine Flasche wie einen Stift umklammerte, wenn er auf den Stufen neben der Wohnungstür friedlich wegdöste. Solche Hände hatte Koroljow als Kind bei den Arbeitern der Maschinenfabrik Roter Bauarbeiter gesehen, die sich an der Station Zement-Gigant in den verqualmten Einstiegsbereich des Fünf-Uhr-Vorortszuges drängten: Abends waren er und die anderen Jungs gerne aus dem Internat abgehauen und nach Kolomna gefahren, um in der Zoohandlung die Schwertträger oder Segelflosser zu beäugen.
Einmal setzte er sich zu dem dösenden Nachbarn auf die Treppe, nahm einen Schluck von dessen Bier und betrachtete lange wie gebannt diese Finger. Der Zug hatte stets vor der Brücke abgebremst, an der die Moskwa in die Oka mündet, unten krauchte winzig ein Häuschen mit einem Wachtposten vorbei, riesig ragten die Brückenträger empor, die Räder klopften und hallten plötzlich bedeutsam, ringsum ergoss sich frei der weite Fluss, darin die Tropfen der Kuppeln, die Kremlmauern, Gärten, Gemüsebeete, Feuerwachtürme … Da plötzlich ging die Wohnungstür auf, die Nachbarin schob Koroljow zur Seite, zog ihrem Mann das Portemonnaie und die Schlüssel aus der Tasche, zerrte ihm die Schuhe von den Füßen und verschwand wieder in der Wohnung. Im Sommer reichte sie die Scheidung ein, wechselte das Schloss, ihr Exgatte versuchte die Tür aufzubrechen, woraufhin sie mit einer Unterschriftenliste die Nachbarn abklapperte und Geld für den Einbau einer Gegensprechanlage sammelte. Im Herbst wohnte der Mann wieder bei ihr, die Mädchen hatten jetzt modische Haarschnitte, trugen keine tristen Kopftücher mehr und grüßten, doch die Haustür bekam immer noch jeder auf,
9
gegen j-n / etwas (Akk) zu Felde ziehen (
10
j-m stockt der Atem – у кого-либо перехватило дыхание
11
im Gänsemarsch – гуськом
12
j-s Gruß erwidern – отвечать на чьё-либо приветствие