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Soll und Haben. Gustav FreytagЧитать онлайн книгу.

Soll und Haben - Gustav Freytag


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mit roten Augen die Treppe auf und ab lief, der Arzt kam und den Kopf schüttelte und der alte Herr am Lager seiner Frau das Samtkäppchen in den gefalteten Händen hielt, während der Sohn schluchzend vor dem Bette kniete und seinen Lockenkopf darauf legte, welchen die Hand der sterbenden Mutter noch zu streicheln versuchte. Drei Tage nach diesem Morgen wurde die Frau Kalkulatorin begraben, und der alte Herr und Anton saßen am Abend nach dem Begräbnis bleich und einsam einander gegenüber. Anton schlich von Zeit zu Zeit hinter die Stachelbeeren, sich dort in der Stille auszuweinen, und der alte Herr stand häufig von seinem Stuhle auf und ging in die Schlafstube, wo die weiße Gardine mit den beiden Quasten hing, und weinte ebenfalls. Der Jüngling erhielt nach langem Weinen die roten Backen wieder, der alte Herr kam nicht wieder zu Kräften. Er klagte über nichts, er rauchte seine Pfeife wie immer, er ärgerte sich noch immer, wenn der Kaffee flaute; aber es war kein rechtes Rauchen und auch kein rechter Ärger mehr. Oft sah er seinen Sohn nachdenklich und traurig an, und der junge Gesell konnte nicht erraten, was den Vater so besorgt mache. Als der Vater aber an einem Sonnabend den Sohn wieder gefragt hatte, ob er noch Kaufmann werden wollte, und Anton zum hundertsten Male versichert hatte, daß er gerade dies gern wolle und nichts anderes, da stand der alte Herr entschlossen auf, rief das Dienstmädchen und bestellte zum nächsten Morgen eine Fuhre nach der Hauptstadt. Er gestand dem fragenden Sohn nicht, weshalb er die unerhörte Expedition vornahm. Und er hatte wohl Grund zum Schweigen, der arme alte Herr! Denn wenn er auch seit zwanzig Jahren stolz gewesen war auf seinen großen Handelsfreund, so hatte ihm doch immer der Mut gefehlt, selbst vor den Kaufmann zu treten und für seinen Sohn einen Platz im Kontor zu erbitten. Sein Wunsch kam ihm sehr verwegen vor und seine Ansprüche unermeßlich gering. Oft hatte er sich’s vorgenommen, und stets hatte er’s wieder aufgeschoben, bis die Sorge um seinen Sohn größer wurde als seine Scheu.

      Als er den Tag darauf sehr spät aus der Hauptstadt zurückkehrte, war er in ganz anderer Stimmung, glücklicher als je nach dem Tode der Frau Kalkulatorin. Er begeisterte seinen Sohn, der ihn in ahnungsvoller Spannung erwartete, durch seinen Bericht von der unglaublichen Annehmlichkeit des großen Geschäftes und der Freundlichkeit des großen Kaufmanns gegen ihn. Er war zu Mittag geladen worden, er hatte Kiebitzeier gegessen, er hatte griechischen Wein aus den Kellern seines Freundes getrunken, einen Wein, gegen welchen der beste Wein im Gasthof zu Ostrau nichtswürdiger Essig war; er hatte das Versprechen erhalten, daß sein Sohn nach Jahresfrist in das Kontor eintreten könne, und einige Wünsche über die Vorbildung, die dafür wünschenswert sei. Schon am nächsten Tage saß Anton vor einem großen Rechenbuch und disponierte mit unbeschränkter Vollmacht über Hunderttausende von Pfunden Sterling, welche er bald in rheinische Gulden verwandelte, bald in Hamburger Mark Banko umsetzte, als brasilianische Milreis in die Welt flattern ließ und zuletzt ruhig in mexikanischen Staatspapieren anlegte, an denen er mit größter Sicherheit alle möglichen Interessen bis zu zehn vom Hundert abzog. Hatte er auf diese Weise ein kolossales Vermögen zusammengescharrt, so ging er in den Garten, ein kleines dünnleibiges Buch in der Hand, welches auf dem Titel versprach, ihn in vier Wochen zu einem fertigen Engländer zu machen. Dort bemühte er sich zum Entsetzen der deutschen Sperlinge und Finken, das A und andere ehrliche Buchstaben auf jede Weise auszusprechen, welche dem Menschen möglich ist, wenn er einen Buchstaben anders ausspricht, als sich mit der Natur und dessen Charakter verträgt.

      So ging wieder ein Jahr hin, Anton war gerade achtzehn Jahre alt und hatte seine Abiturientenprüfung bestanden; da wurden wieder einmal an einem Morgen die Fensterladen des Kalkulators nicht zu gehöriger Zeit geöffnet, wieder rannte das Dienstmädchen mit verweinten Augen durch das Haus, und wieder schüttelte die Nachtlampe unzufrieden und kummervoll ihre feurige Mütze. Diesmal lag der alte Herr selbst im Bett, und Anton saß vor ihm, beide Hände des Vaters haltend. Der alte Herr aber ließ sich nicht festhalten, sondern starb so eilig als möglich, nachdem er seinen Sohn vielmal gesegnet hatte. Nach einigen Tagen lauten Schmerzes stand Anton allein in der stillen Wohnung, eine Waise, im Anfang eines neuen Lebens.

      Der alte Herr war nicht umsonst Kalkulator gewesen: sein Haushalt war in musterhafter Ordnung, seine sehr geringe Hinterlassenschaft in der geheimen Schublade des Schreibtisches war auf dem gehörigen Blatt Papier zu Heller und Pfennig aufgezeichnet; alles, was im letzten Jahre durch das Dienstmädchen zerschlagen oder verwüstet worden war, fand sich an der betreffenden Stelle bemerkt und abgerechnet, über jedes war Disposition getroffen. Auch ein Brief an den Kaufherrn fand sich vor, den der Verstorbene noch in den letzten Tagen mit zitternder Hand geschrieben hatte: ein treuer Hausfreund war zum Vormund Antons bestellt und mit dem Verkauf des Hauses und Gartens und seines ganzen Inhalts beauftragt, und Anton trat, vier Wochen nach dem Tode des Vaters, an einem frühen Sommermorgen über die Schwelle des väterlichen Hauses, legte den Schlüssel desselben in die Hand des Vormundes, übergab sein Gepäck einem Fuhrmann und fuhr durch das Tor des Städtchens auf die Hauptstadt zu, den Brief seines Vaters an den Kaufmann in der Tasche.

      2

      Schon welkte das frischgemähte Wiesengras in der Mittagssonne, als Anton dem Nachbar aus Ostrau, der ihn bis zur letzten Station vor der Hauptstadt mitgenommen hatte, die Hand schüttelte und dann rüstig auf der Landstraße vorwärts schritt. Es war ein lachender Sommertag, auf den Wiesen klirrte die Sense des Schnitters am Wetzstein, und oben in der Luft sang die unermüdliche Lerche. Vor dem Wanderer strich die Landschaft in hügelloser Ebene fort, am Horizont hinter ihm erhob sich der blaue Zug des Gebirges. Kleine Bäche, von Erlen und Weidengruppen eingefaßt, durchrannen lustig die Landschaft, jeder Bach bildete ein Wiesental, das auf beiden Seiten von üppigen Getreidefeldern begrenzt wurde. Von allen Seiten stiegen die hellen Glockentürme der Kirchen aus dem Boden auf, jeder als Mittelpunkt einer Gruppe von braunen und roten Dächern, die mit einem Kranz von Gehölz umgeben waren. Bei vielen Dörfern konnte man an der stattlichen Baumallee und dem Dach eines großen Gebäudes den Rittersitz erkennen, welcher neben den Dorfhäusern lag, wie der Schäferhund neben der wolligen Herde.

      Anton eilte vorwärts, wie auf Sprungfedern fortgeschnellt. Vor ihm lag die Zukunft, sonnig gleich der Flur, ein Leben voll strahlender Träume und grüner Hoffnungen. Nach langer Trauer in der engen Stube pochte heut sein Herz zum erstenmal wieder in kräftigen Schlägen; in der Fülle der Jugendkraft strahlte sein Auge und lachte sein Mund. Alles um ihn glänzte, duftete, wogte wie in elektrischem Feuer, in langen Zügen trank er den berauschenden Wohlgeruch, der aus der blühenden Erde aufstieg. Wo er einen Schnitter im Felde traf, rief er ihm zu, daß heut ein guter Tag sei, und einen guten Tag rief jeder Mund dem schmucken Jüngling zurück. Im Getreidefelde neigten sich die Ähren am schwanken Stiel auf ihn zu, sie nickten und grüßten, und in ihrem Schatten schwirrten unzählige Grillen ihren Gesang: »Lustig, lustig im Sonnenschein!« Auf der Weide saß ein Volk Sperlinge, die kleinen Barone des Feldes flüchteten nicht, als er vor dem Stamm stehenblieb, ja sie beugten die Hälse herunter und schrien ihn an: »Guten Tag, Wandersmann, wohin, wohin?« Und Anton sagte leise: »Nach der großen Stadt, in das Leben.« »Gutes Glück«, schrien die Sperlinge, »frisch vorwärts!«

      Anton durchschnitt auf dem Fußpfad einen Wiesengrund, ging über eine Brücke und sah sich in einem Wäldchen mit guterhaltenen Kieswegen. Immer mehr nahm das Gebüsch den Charakter eines gepflegten Gartens an, der Wanderer bog um einige alte Bäume und stand vor einem großen Rasenplatz. Hinter diesem erhob sich ein Herrenhaus mit zwei Türmchen in den Ecken und einem Balkon. Wer auf dem Balkon stand, konnte über den Grasplatz hinüber durch eine Öffnung in den Baumgruppen die schönsten Umrisse des fernen Gebirges sehen. An den Türmchen liefen Kletterrosen und wilder Wein in die Höhe, und unter dem Balkon öffnete sich gastlich eine Halle, welche mit blühenden Sträuchern ausgeschmückt war. Es war kein prunkender Landsitz, und es gab viele größere und schönere in der Umgegend; aber es war doch ein stattlicher Anblick, sehr imponierend für Anton, der, in einer kleinen Stadt aufgewachsen, nur selten den behaglichen Wohlstand eines Gutsbesitzers in der Nähe gesehen hatte. Alles erschien ihm sehr prächtig und großartig! Die zierlich geformten Blumenbeete in dem geschorenen Samt des Rasens, die bunten Gruppen der Glashauspflanzen, der fröhliche Schmuck, den die Hand des Gärtners um das Herrenhaus herum angebracht hatte, das alles sah ihm in dem reinen Lichte und der Ruhe des Sonnentages aus wie ein Bild aus fernem Lande. Der glückliche Jüngling geriet in ein so träumerisches Entzücken, daß er sich in den Schatten eines großen Fliederstrauches am Wege setzte und hinter dem Busch verborgen lange Zeit auf das anmutige Bild hinstarrte. Wie glücklich mußten die Menschen


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