Hotel Amerika. Maria LeitnerЧитать онлайн книгу.
bei der Arbeit beugt und reckt. Sie empfindet einen gewissen Widerwillen, aber sie weiß, Ingrid selbst hat nichts damit zu tun. Diese Junge erinnert sie nur stark an ihre Nichte, die eines Tages – es ist schon eine lange Reihe von Jahren her – mit Celestinas Mann auf und davonlief.
Das war noch in den ersten Jahren des Aufenthalts in Amerika. Man schrieb ihr damals aus der irischen Heimat, dass die Eltern der Kleinen gestorben waren, dass sie allein auf sich gestellt sei und hungern müsste. Gelestina ließ die Nichte kommen, und da erschien dann eines Tages so ein gesundes, strahlendes Mädchen. Die sollte gehungert haben? Da wusste Celestina schon besser, was hungern hieß; aber böse wurde sie dem Mädchen freilich erst, als es mit Celestinas Mann plötzlich das Weite suchte und sie mit Shirley alleinließ. Nun, wozu sich über Vergangenes den Kopf zerbrechen? Die Arbeit drängt auch, es bleibt nicht viel Zeit übrig für Gedanken über die Vergangenheit.
»So viele Bücher«, sagt Celestina anerkennend. Sie sind jetzt in einem Appartement, das mit einigen eigenen Möbeln der Bewohner ausgestattet ist. Sogar ein Bücherschrank ist da; eine Seltenheit im Hotel Amerika.
Die Bücher verraten die vielseitigen Interessen und die Bildung ihres Besitzers, was allerdings weder Celestina noch Ingrid feststellen können. Aber die Bücherreihen wirken auf sie trotzdem angenehm.
Diese Zimmer zeichnen sich überhaupt durch besondere Gediegenheit und eine gewisse Ruhe aus.
Die Wände sind mit Bildern geschmückt, die sowohl Celestinas wie Ingrids Beifall finden; es sind Radierungen, die Szenen aus der Bibel darstellen.
Die Korrespondenzen und Arbeiten auf dem Schreibtisch lassen vermuten, dass der Bewohner an einem Buche über die Geschichte der frühen amerikanischen Literatur beschäftigt ist. Er benutzt sein Arbeitszimmer auch als Schlafraum, während der nächste Raum als Empfangszimmer dient. Er ist mit Peserteppichen und schönen chinesischen Vasen ausgestattet, und auch hier liegen verschiedene wissenschaftliche Werke und Schriften herum.
Der daran stoßende dritte Raum ist das Schlafzimmer der Frau Professor; denn man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass der Bewohner des Appartements etwas Ähnliches ist.
Allerdings zeigt das Zimmer der Frau einen Unterschied zu den anderen, einen gewissen Riss, es ist zu auffällig ehrbar und einfach. Am Fenster steht ein Nähtisch mit Strickzeug und mit einem Buch, das nur eine sehr primitive Seele erfreuen kann. Alle Gegenstände, auch die Kleider, zeigen einen etwas provinziellen und wenig gewählten Geschmack. »Sie ist eine ganz alte Dame«, stellt Ingrid fest, die von einem Polster ein langes weißes Haar nimmt. »Hast du sie schon gesehen?« fragt Celestina. »Nein, aber ihn. Wie gefällt es dir hier, Celestina?«
»Na, jedenfalls sieht es hier besser aus, als vorhin bei den versoffenen Kerlen.«
»Und doch habe ich hier etwas Dummes erlebt.«
»So?«
»Komm, ich zeige dir etwas.« Ingrid geht zurück in das Arbeitszimmer des Professors und kramt auf dem Schreibtisch.
»Nein, sie sind nicht mehr hier, er hat sie sicher verschlossen. Er hatte so merkwürdige, hässliche Bilder. Als ich seinen Schreibtisch in Ordnung bringen wollte, – alles lag in einem solchen Durcheinander, – habe ich eine Mappe verschoben, und dabei sind einige Bilder herausgefallen.«
»Na, und?«
»Und nichts. Gerade, als ich mir die Bilder ansah, ist er hereingekommen; ich habe ihn erst später bemerkt und einen Schreck bekommen, – aber er auch. Er hat mir ein großes Trinkgeld gegeben.«
»Ein großes Trinkgeld, weil du seine Bilder angesehen hast?«
»Nein, nicht deshalb.«
»Sondern?«
Ingrid erinnert sich wieder an die Szene, aber sie schweigt. Während sie die Möbel abstaubt, muss sie wieder daran denken. Auf den Bildern waren nackte Menschen in merkwürdigsten Stellungen abgebildet und Ingrid hatte sie mit solchem Interesse betrachtet, dass sie sogar ihre kornfarbenen Haare, die eine Neigung hatten, ihr vor die Augen zu fallen, nach hinten strich, um besser sehen zu können. Da fühlte sie, vor Schrecken fast erstarrend, eine Hand auf ihrem Arm, eine Hand, die gegen ihre Brust vorrückte. Ingrid konnte mit weit aufgerissenen Augen diese Hand sehen, die lang und schmal war, mit einer gelblichen, schon pergamentenen Haut überzogen, mit länglichen, ins Bläuliche schimmernden Fingernägeln, die zitternd ihren Körper abtastete.
Sie wollte aufschreien, aber der Schrei blieb in ihrer Kehle stecken. Schuldbewusst hielt sie immer noch die Bilder in ihrer Hand.
Nur langsam drehte sie den Kopf zur Seite und erblickte das Gesicht eines alten Mannes, ein durchgeistigtes Gesicht, das aber verwüstet aussah – und doch befreit, als hätte es eben eine Maske fallen lassen und könnte nun freier atmen. In diesem Augenblick hörte man Schritte im Nebenzimmer. Die Stimme einer alten Frau schallte herüber. Der Professor, – denn sicher war der alte Mann der Zimmerbewohner, – schien vollkommen erstarrt zu sein, er wurde aschfahl, seine Hände fielen von Ingrid ab und blieben an einer Stuhllehne hängen.
Ingrid warf schnell die Bilder hin, sie musste noch ihre Reinigungswerkzeuge zusammensuchen.
Der Professor antwortete nicht der Stimme draußen; er hatte sein Gesicht in die Hände verborgen, schüttelte sich wie in Ekel vor sich selbst und flüsterte vor sich hin: »Wann kommt nur das Ende?«
Bevor er die Tür des Nebenzimmers öffnete, reichte er mit abgewandtem Gesicht Ingrid eine Banknote. »Er hat mir ein Trinkgeld gegeben, weil er ein schlechtes Gewissen hatte«, sagt Ingrid zu Celestina. »Sie geben nur dann etwas.«
»Dann müsste ich aber mehr Geld bekommen; ich habe in einem Vierteljahr nur fünfundvierzig Cents Trinkgelder verdient.«
»Fünfundvierzig Cents in einem Vierteljahr?«
»Zwei dimes von der Verrückten, die immer mit mir schimpft, und einmal einen Vierteldollar von einer Frau, die mit irgendeinem Zeug die Badewanne verdorben hatte; ich hatte eine Stunde Extraarbeit damit, bis sie halbwegs rein wurde.
»Siehst du, ich habe doch recht. Deine Trinkgelder hast du nur bekommen, weil man ein schlechtes Gewissen dir gegenüber hatte.«
»Da könnte man aber schon ruhig öfter ein schlechtes Gewissen haben.«
Im nächsten Zimmer lag auf dem Tisch eine große Kristallkugel, daneben ein Buch, ›Offenbarungen der Geheimnisse des Kristalls‹ und ein anderes mit dem Titel »Wege, in die Zukunft zu blicken.
»Die Frau, die hier wohnt, habe ich schon ein paar Mal gesehen. Einmal saß sie vor dem Kristall und blickte ganz starr hinein. Ob sie wohl zaubern kann?«
»Ingrid, du redest viel Unsinn.« Ingrid steht jetzt vor dem Kristall und blickt hinein. »Ich sehe mich selbst drin, ganz klein und winzig. Ob du es glaubst oder nicht, Celestina, ich kann meine Zukunft sehen.«
»Komm, jetzt lass das.«
»Ist es so schwer, die Zukunft vorauszusehen? Ich kenne meine und brauche nicht mal zu zaubern. Ich werde immer arbeiten müssen, mein Leben wird nie leicht sein, immer die gleiche schwere Arbeit. Jeden Tag das gleiche schlechte Essen, immer nur billige Kleider und die Angst, wirst du auch morgen weiterarbeiten dürfen oder musst du nun wieder auf die Arbeitsuche gehen. Vielleicht werde ich Kinder haben. Werden sie das gleiche Leben weiterführen? Die ganze Welt müsste sich ändern, nicht wahr? Nur dann könnte sich unsere Zukunft ändern.«
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