Blinde Liebe. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.
sich in dem Gesicht der Haushälterin ausdrückte, verlangte eine nähere Erklärung. Iris bekannte ohne Zurückhaltung die Gründe, die sie zu der Reise veranlaßt hatten, und erkundigte sich angelegentlich darnach, ob ihre Annahme unrichtig gewesen sei, daß sich Arthur in der ernstlichen Gefahr, ermordet zu werden, befunden hätte.
Mrs. Lewson schüttelte den Kopf. Es unterlag nicht dem geringsten Zweifel, daß Arthur in Gefahr schwebte; aber Iris hätte seine Natur besser kennen sollen, als daß sie glauben konnte, er habe sich dem drohenden Unheil durch die Flucht entzogen. Er hätte es selbst dann nicht gethan, wenn alle Mitglieder der Landliga zusammen ihn bedroht hätten. Nein, gewiß nicht! Lachend hätte er der Gefahr Trotz geboten. Er hatte sein Gut mit der Absicht verlassen, einen Freund in der nächsten Grafschaft zu besuchen, und die alte Frau hatte sich scharfsinnig zusammengereimt, daß ein junges Mädchen, welches sich dort befand, die Anziehungskraft wäre, die ihn so lange entfernt hielt.
»Auf jeden Fall wird er, wie es auch seine Absicht war, morgen zurückkommen,« sagte Mrs. Lewson. »Hoffentlich besinnt er sich aber eines Bessern und benützt die sich ihm bietende günstige Gelegenheit, nach England zu entweichen. Wenn die Barbaren hier in dieser Gegend durchaus jemand töten müssen, ich bin da – eine alte Frau, die doch nicht mehr lange zu leben hat. Mich können sie ruhig ermorden.«
Iris fragte, ob Arthurs Sicherheit auch in der nächsten Grafschaft gefährdet sei und in dem Hause seines Freundes.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Miß, denn ich bin niemals dort gewesen. Er ist in Gefahr, wenn er darauf besteht, nach seinem Gute zurückzukehren. Da gibt es auf dem ganzen Weg bis hierher Gelegenheiten genug, ihn aus dem Hinterhalt niederzuschießen. O, er weiß es, der arme, liebe Junge, ebenso gut, wie ich es weiß. Aber Menschen seiner Art sind so wunderliche, eigensinnige Geschöpfe. Er geht seine eigenen Wege und hört nicht auf eine alte Frau, wie ich bin. Und was seine Freunde anbetrifft, die ihm raten könnten – der einzige von ihnen, der unsere Schwelle betreten hat, ist ein Taugenichts, der besser weggeblieben wäre. Sie mögen vielleicht auch schon von ihm gehört haben. Der alte Earl, ein schlechter Mensch, wurde gewöhnlich mit einem schlimmen Namen bezeichnet, und der wilde junge Lord ist seines Vaters echter Sohn.«
»Doch nicht Lord Harry?« rief Iris aus.
Ihr Kammermädchen bemerkte die heftige Erregung in ihrer Stimme und in ihrem ganzen Wesen, sagte aber nichts. Die Haushälterin Arthurs dagegen machte gar nicht den Versuch, ihre Gedanken darüber zu verbergen.
»Hoffentlich kennen Sie diesen Vagabunden nicht,« sagte sie sehr ernst. »Vielleicht denken Sie an seinen älteren Bruder, den ältesten Sohn des alten Earl, der ein durchaus ehrenhafter Mann ist, wie man mir gesagt hat.«
Miß Henley ließ diese Fragen vollständig unbeachtet. Einzig und allein getrieben von dem Interesse für ihren Geliebten, welches sich jetzt mehr denn je ihrer Beherrschung entzogen hatte, fragte sie:
»Ist Lord Harry seines Freundes wegen in Gefahr?«
»Er hat nichts von dem Gesindel zu fürchten, das unsere Gegend unsicher macht,« entgegnete Mrs. Lewson. »Berichte erzählen, er gehöre selbst dazu. Die Polizei, die ist's, vor der seine junge Lordschaft auf der Hut sein muß, wenn nämlich alles wahr ist, was über ihn gesprochen wird. Jedenfalls kam er damals, als er meinem Herrn seinen Besuch abstattete, heimlich wie ein Dieb in der Nacht, und ich hörte Mr. Arthur, als sie beide zusammen hier im Empfangszimmer waren, ihn laut und heftig tadeln wegen etwas, was er gethan hatte. Und jetzt nichts mehr über Lord Harry, Miß! Ich habe mit Ihnen etwas Wichtiges zu besprechen. Wollen Sie, wenn ich Ihnen das Versprechen gebe, es Ihnen so behaglich wie möglich zu machen, wollen Sie dann bis morgen hier bleiben, damit Sie mit Mr. Arthur reden können? Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der im stande ist, ihn zu einiger Vorsicht zu bewegen, so sind Sie es nach meiner Meinung ganz allein.«
Iris erklärte sich sofort bereit, auf Arthur Mountjoys Rückkunft zu warten. Als Mrs. Lewson, um ihren häuslichen Obliegenheiten nachzugehen, sie mit ihrer Kammerzofe allein gelassen hatte, bemerkte sie in dem Gesichte des Mädchens etwas von Mißstimmung.
»Es scheint mir, Rhoda, als ob Du jetzt schon anfingest, zu wünschen,« sagte Iris, »ich hätte Dich nicht an diesen fremden Ort unter diese rohen und wilden Gesellen gebracht?«
Rhoda war ein stilles, freundliches Mädchen, augenscheinlich von sehr zarter Gesundheit. Sie lächelte matt und antwortete:
»Ich dachte gerade an einen andern Edelmann, Miß, als den, von dem Mrs. Lewson soeben sprach; er scheint ein sehr freies, leichtsinniges Leben geführt zu haben. Es stand in einer Zeitung gedruckt, die ich gelesen habe, bevor wir London verließen.«
»War sein Name erwähnt?« fragte Iris.
»Nein, Miß; ich glaube, sie fürchteten, sich dadurch Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er hatte so viele sonderbare Wege eingeschlagen, um sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben, daß es sich fast wie ein Roman las.«
»Erinnerst Du Dich noch der Erlebnisse des Helden?« fragte Iris.
»Ich will es versuchen, Miß, wenn Sie es zu hören wünschen.«
Die Erzählung in der Zeitung schien einen lebhaften Eindruck auf Rhodas Geist gemacht zu haben. Wenn man die selbstverständlichen Stockungen und Irrtümer und die Schwierigkeiten, sich richtig auszudrücken, in Abrechnung brachte, so wiederholte sie mit überraschend klarer Erinnerung den Inhalt dessen, was sie gelesen hatte.
Neuntes Kapitel
Die Hauptpersonen in der Geschichte waren ein alter irischer Edelmann, der einfach der Earl genannt wurde, und der jüngere seiner beiden Söhne, von seinem Bruder durch den mysteriösen Beinamen »der wilde Lord« unterschieden.
Von dem Earl wurde erzählt, daß er kein guter Vater gewesen sei; er habe auf die unverantwortlichste Weise die Erziehung seiner beiden Söhne vernachlässigt. Der jüngere, der in der Schule viel zu leiden hatte und in den Ferien sich selbst überlassen blieb, begann seine abenteuerliche Laufbahn damit, daß er davonlief. Unter angenommenem Namen fand er Anstellung als Schiffsjunge. Gleich von Anfang an hielt er sich brav, lernte seine Sache und war bei Kapitän und Mannschaft beliebt. Aber der erste Steuermann war ein roher Mensch, und das lebhafte Temperament des jungen Durchgängers empfand doppelt die schimpfliche Strafe von Schlägen. Er kam daher auf den Gedanken, sein Glück auf dem Lande zu versuchen, und schloß sich einer herumziehenden Schauspielergesellschaft an. Da er ein hübscher Junge war, eine gute Figur und eine klare, schöne Stimme hatte, so ging es ihm wenigstens eine Zeit lang ganz gut. Dann kamen schlimme Zeiten, die Gagen wurden verkürzt; der Abenteurer wurde der Gesellschaft der Schauspieler und Schauspielerinnen überdrüssig. Der nächste Abschnitt seines wechselvollen Lebens zeigt ihn in Nordbritannien als Mitarbeiter an einer schottischen Zeitung. Eine unglückliche Liebesgeschichte war der Grund, daß er auch dieser neuen Anstellung bald verlustig ging. Kurz darauf tauchte er wieder auf als Gehilfe des Stewart auf einem der großen Passagierdampfer, die zwischen Liverpool und New-York fahren. In dieser letzteren Stadt angekommen, wurde er schnell durch die nicht gerade sehr anständige und ehrenvolle Beschäftigung als »Medium«, welches sich der übernatürlichen Kraft rühmte, mit der Welt der Geister in Verbindung zu stehen, bekannt. Als der Betrug schließlich endgiltig aufgedeckt wurde, zehrte der junge Edelmann von dem Gelde, das er in dem unwürdigen Dienste des gemeinen, prosaischen Aberglaubens der modernen Tage verdient. Ein langer Zeitraum verfloß, wo man nichts von ihm hörte, bis er als verirrter und fast verhungerter Mann von einem Reisenden in einer der westlichen Prärien aufgefunden wurde. Der unglückliche irische Lord hatte sich einem Indianerstamme angeschlossen, sich aber einige Verstöße gegen dessen Gesetze zu Schulden kommen lassen und war deshalb in die Einöde hinausgejagt worden, um dem Hungertode preisgegeben zu sein. Nach seiner Auffindung schrieb er an seinen älteren Bruder, der die Titel und Besitzungen des inzwischen verstorbenen alten Carls geerbt hatte. Er sagte in seinem Briefe, daß er sich über das Leben, welches er bis jetzt geführt habe, schäme und daß er das ernstliche Verlangen trage, sich zu bessern. Deshalb wolle er irgend eine ehrliche Beschäftigung ergreifen, die sich ihm darbiete. Der Reisende, der ihm das Leben gerettet hatte, und dessen Aussage vollständig zu trauen war, erklärte, daß der Brief eine aufrichtig bereuende Gemütsverfassung offenbart habe. Es lagen gute Eigenschaften in dem Vagabunden verborgen, welche nur