Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman. Kathrin SingerЧитать онлайн книгу.
Warner? Haben Sie irgendwas mit der Marmeladenfabrik Warner zu tun?«
»Stimmt, ich bin der Inhaber.«
»Ach!« Die Augen der Frau leuchteten auf. »Und Sie möchten Angelika eine Lehrstelle anbieten? Ich finde, das Kind sollte auf jeden Fall einen anständigen Beruf lernen, denn Angelika hat nur noch mich und muss doch für sich selbst sorgen können, wenn ich einmal nicht mehr bin! Entschuldigen Sie, Herr Warner, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Annegret Thiele.«
»Angenehm. – Wie alt ist Ihre Nichte, wenn ich fragen darf.«
»Neunzehn Jahre. Sie sucht ja schon seit fast zwei Jahren eine passende Lehrstelle. Zwischendurch hat sie mal im Kinderheim ausgeholfen. Sie ist sehr willig und anstellig, und das Backen ist ihr ganz großes Hobby!«
»Hm – ich möchte Fräulein Angelika gern persönlich kennenlernen.«
»Ja, wo bleibt sie nur? Sie müsste längst wieder hier sein. Wissen Sie, das dumme Ding läuft jeden Tag in den ›kleinen Liebesgrund‹, um die Eichhörnchen zu füttern.«
»Ach, das ist ja niedlich. Angelika hat also ein Herz für Tiere.«
»Das kann ich Ihnen sagen! Schon als Kind hat sie ihr halbes Taschengeld für Vogelfutter ausgegeben.« Annegret Thiele blickte aufgeregt aus dem Fenster. »Wo sie nur bleibt, ausgerechnet heute!«
»Ich kenne den kleinen Liebesgrund, von dem Sie sprachen. Wenn Sie erlauben, werde ich Ihrer Nichte ein Stück entgegenfahren.«
»Ach ja, bitte! Sie können Angelika gar nicht verfehlen. Es wäre doch zu schön, wenn Sie etwas für das Kind tun könnten, Herr Warner!«
Als Ulrich wieder im Wagen saß, fühlte er sich halb betäubt. Mit aller Gewalt drängte er die Gedanken an Betti aus seinem Bewusstsein. Es ging um Tobias! Er wollte sich jetzt nicht von seinen eigenen Gefühlen lenken lassen, sondern dem Schicksal vertrauen.
Zügig ließ er seinen Wagen über die einsame Landstraße rollen. Kein anderes Fahrzeug kam ihm in dieser abgelegenen Gegend entgegen aber auch kein junges Mädchen. Wahrscheinlich hockte Angelika noch im Liebesgrund bei den zutraulichen, possierlichen Eichkätzchen.
Das letzte Stück musste Ulrich zu Fuß gehen, da sich nur ein sandiger Pfad durch das Heidekraut schlängelte. Immer dichter standen die Wacholderbüsche beieinander, versperrten die Aussicht. Ulrich bildete mit beiden Händen einen Schalltrichter. »Frau Thiele!«
Da – eine schwache Antwort. Aber was war das? Ulrich lauschte vornübergeneigt.
»Hilfe!«, vernahm er deutlich. »Hilfe!«
Ulrich stürmte vorwärts, duckte sich unter einer Kiefer hinweg, sprang über eine Reihe kleiner Birken. Es dauerte nicht lange, und er sah das Mädchen vor sich, ein schmales Geschöpf mit schwarzen Locken und geweiteten dunklen Augen. Es hockte an einer flachen Böschung im Heidekraut.
»Bitte, helfen Sie mir!« Ihre Stimme klang so angsterfüllt, dass Ulrich bis ins Mark erschrak. Schon war er bei ihr, beugte sich nieder.
Angelika Thiele deutete auf ihren nackten Fuß. »Eine Schlange, ich glaube – ich glaube, es war eine Kreuzotter.«
Ulrich starrte entsetzt auf die vier winzigen blutunterlaufenen Punkte in der Haut.
»Wann war das?«, fragte er rau.
»Ich weiß nicht … Schon vor einer ganzen Weile …«
»Konnten Sie nicht mehr gehen?«
»Ach, ich hab mir vor Schreck den Fuß verstaucht oder gebrochen. Es tut so weh.«
»Ja, ich sehe, der Knöchel ist stark geschwollen. Ich bringe Sie sofort ins Krankenhaus. Mein Wagen steht an der Straße. Nur keine Panik.«
Er hob Angelika Thiele auf, und sie schlang beide Arme fest um seinen Hals, um ihm das Tragen zu erleichtern. Mit langen Sätzen eilte Ulrich durch das hohe Heidekraut. Besorgt musterte er das schmale bleiche Gesichtchen. Hoffentlich hatte man in der Klinik das notwendige Serum!
»Ich dachte, Kreuzottern wären ausgestorben,«
»Es gibt wohl nur noch ganz wenige. Aber ausgerechnet mich musste sie erwischen.«
»Vielleicht handelte es sich um eine andere, um eine ganz harmlose Schlange.«
Ein wehes Lächeln geisterte um den Mund des Mädchens. »Ich glaube nicht.«
Obwohl Ulrich das Gewicht der Verunglückten zunächst kaum gespürt hatte, wurde die Last auf seinen Armen allmählich immer schwerer. Er presste die Zähne zusammen. Nicht ausruhen! Vielleicht kam es auf jede Sekunde an. Weiter! Endlich erreichte er seinen Wagen und ließ Angelika behutsam auf den Beifahrersitz sinken.
Als er wenig später das Mädchen den Klinik-Ärzten übergeben hatte, wartete Ulrich voller Ungeduld auf das Ergebnis der Untersuchungen. Ruhelos lief er im blankgewienerten Korridor auf und ab.
Endlich kam der Oberarzt mit wehendem Kittel auf ihn zu. »Sie sind der Vater?«
Ulrich zuckte merklich zusammen. »Sehe ich so alt aus?«
»Entschuldigen Sie, also, das Fräulein Braut …«
»Ich habe Fräulein Thiele ganz zufällig in der Heide gefunden.«
»Dann wollen wir dem Zufall dankbar sein, denn eine Viertelstunde, würde ich sagen, und es wäre zu spät gewesen.«
»Angelika ist also außer Lebensgefahr?«
»Ja.«
»Gott sei Dank!« Ulrich atmete auf. »Und der Fuß, ist er gebrochen?«
»Nein. Vorsichtshalber wollen wir die Patientin einige Tage unter Aufsicht behalten, aber falls keine Komplikationen eintreten, wird sie bald wieder völlig fit sein.« Der Oberarzt lächelte zuversichtlich, verabschiedete sich und enteilte.
Ulrich verließ die Klinik, um die Tante des Mädchens von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen. Er war sehr nachdenklich geworden. Merkwürdig, dass er gerade noch rechtzeitig gekommen war, um das Leben dieses jungen Menschenkindes zu retten. Sehr merkwürdig …
*
Ruhelos lief Bettina durch das Forsthaus, das ihr leer und verlassen vorkam.
Seit Tagen hatte sie nichts von Ulrich und dem Jungen gehört. Hatte sie es sich nicht so gewünscht? War sie Ulrich nicht absichtlich aus dem Weg gegangen? Und nun? Warum pochte ihr Herz so bang, fast sehnsüchtig? Sehnsüchtig? Unsinn! Nur ihr Großvater sehnte sich, das war unverkennbar, und zwar nach dem kleinen Tobias. Auch ihr selbst fehlte wohl das Kind, dieser liebenswerte kleine Kerl. Was mochte inzwischen geschehen sein?
Bettinas einziger Trost war Prinz, der herrliche Schimmelhengst, mit dem sie innige Freundschaft geschlossen hatte. Jeden Tag ritt sie durch den Wald, und immer wieder musste sie daran denken, wie sie mit Ulrich auf dem Rücken dieses fantastischen Tieres durch den Mondschein geschwebt war, grenzenlos glücklich.
War alles nur Lug und Trug gewesen? Romantischer Zauber, um sie einzufangen?
Eines Tages sah Bettina vom Fenster aus, dass Ulrichs Wagen vor der Gartenpforte stoppte. Ihr Herz begann wild zu trommeln. Einen Augenblick lang fürchtete sie, ohnmächtig zu werden. Mit beiden Händen klammerte sie sich am Fensterriegel fest. Doch nicht nur Ulrich und der Junge stiegen aus dem Auto. Auch ein schwarzhaariges Mädchen schwang sich heraus. Ein Mädchen, das Bettina kannte. Sie wurde kreidebleich. Mit zitternden Knien lief sie ins Wohnzimmer. Ihr Großvater saß auf der Couch und las die Zeitung.
»Opa, Ulrich kommt …«, begann sie keuchend.
Der pensionierte Forstmeister war augenblicklich wie elektrisiert. »Mit Tobias?«
Bettina nickte atemlos.
Das Gesicht ihres Großvaters begann zu leuchten. Er warf die Zeitung beiseite und wollte sich erheben. Bettina drückte ihn aufs Sofa zurück. »Warte noch einen Moment. Ulrich bringt ein Mädchen mit. Angelika. Ich habe zusammen mit ihr im Kinderheim gearbeitet.«