Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman. Kathrin SingerЧитать онлайн книгу.
es vergessen. Aber ich will da nicht hin! Lieber im Wald verhungern!«
»Moment mal! Moment mal! Das hört sich ja schlimm an!« Ulrich nahm den Jungen spontan auf den Arm. »Was sind das für schreckliche Leute? Und was sagen deine Eltern dazu?«
»Ich – ich hab’ doch keine mehr.«
»Bist du etwa aus dem Kinderheim ausgebüxt?«, fragte Ulrich Warner ahnungsvoll.
Tobias nickte zögernd. Und plötzlich schlang er beide Arme um den Hals des Mannes und flüsterte heiß:
»Du musst mich verstecken! Bitte! Kein Mensch hat mich gesehen. Dann bin ich eben weg, und die können mich suchen, bis sie schwarz werden!«
Das Vertrauen des Jungen, der ihn flehend und mit Verschwörermiene ansah, rührte den Mann. Er fühlte sich unwillkürlich in seine eigene Kinderzeit zurückversetzt, als er gemeinsam mit seinen Freunden Streiche ausheckte, um die Erwachsenen anzuschmieren. Einfach weglaufen und untertauchen – welcher richtige Junge hatte diesen Traum nie geträumt!
»Ja?«, fragte Tobias drängend und mit hoffnungsvoll leuchtenden Augen.
Ulrich seufzte. »Das ist leider ausgeschlossen, Tobias. Wir leben nicht im Wilden Westen.«
Noch nie hatte Ulrich beobachtet, wie alle Hoffnung auf dem Gesicht eines Menschenkindes jäh erlosch und tieftrauriger Verzweiflung Raum machte. Tröstend drückte er den Jungen an sich.
»Du, Tobias, ich habe eine Idee! Den Leiter eures Heimes, Herrn Neumann, kenne ich ziemlich gut. Wir sind nämlich zusammen zur Schule gegangen. Ich werde mich mit ihm unterhalten und ihm auseinandersetzen, dass du deine zukünftigen Adoptiveltern nicht leiden kannst.«
»Hab’ ich ihm doch schon gesagt, schon hundertmal«, flüsterte das Kind mit gesenktem Kopf.
»Wahrscheinlich handelt es sich um eine ausgezeichnete Familie, in die man dich vermitteln möchte. Aber ich finde, ein Junge deines Alters sollte schon ein gewisses Einspruchsrecht haben. Am besten, ich rede sofort mit Olaf Neumann, was meinst du?«
»Und ich warte hier so lange!«
Ulrich kam sich in diesem Moment wie ein Schuft und Verräter vor. Er war überzeugt, in ihm einen Freund und Verbündeten gefunden zu haben. Und doch musste er den Jungen enttäuschen, so schwer es ihm auch fiel.
»Tobias, ich verspreche dir, alles für dich zu tun, was in meiner Macht steht.«
Aus großen wundergläubigen Augen sah der blonde Junge ihn an. Ulrich spürte förmlich, dass die Bande von Sekunde zu Sekunde enger und fester wurden. Hatte er sich nicht immer einen Sohn wie Tobias erträumt? Einen aufgeweckten, offenherzigen Jungen, der ihm sein Vertrauen schenkte?
Sie fuhren zum Kinderheim hinaus. Mit dem Auto waren es nur wenige Minuten. Tobias versuchte sich auf dem Beifahrersitz unsichtbar zu machen, rutschte mehr und mehr in sich zusammen. Ulrichs Fragen beantwortete er einsilbig.
Hand in Hand betraten sie das Büro des Heimleiters. Olaf Neumann, ein blonder bärtiger Sozialarbeiter, schnellte von seinem Schreibtischstuhl. »Tobias! Du kostest mich allmählich meine letzten Nerven! Gerade war ich im Begriff, die Polizei anzurufen. – Hallo, Ulrich!« Jetzt erst war sein Blick auf den Begleiter des Jungen gefallen. »Bist du es wirklich, altes Haus? Ich traue meinen Augen nicht!«
»Hallo, Olaf. Tja, weißt du, ich bin mitgekommen, um dir zu erklären, dass Tobias mir im Stall geholfen hat. Deshalb die Verspätung. Ich bin schuld, denn ich ahnte nicht, dass Tobias aus deiner Kükenschar stammt, ich hielt ihn für einen Jungen aus der Nachbarschaft, sonst hätte ich ihn selbstredend früher heimgeschickt.«
»So ist das«, entgegnete der Heimleiter mit leisem Misstrauen. »Na, da hast du ja noch einmal Glück gehabt, mein Lieber.« Er zauste das blonde Haar seines Schützlings. »Troll dich.«
Tobias warf seinem neuen großen Freund noch einen Blick zu, einen Blick voller Sehnsucht und Verzweiflung, der Ulrich mitten ins Herz traf. Er schluckte aufgeregt und musste sich Mühe geben, seiner Verwirrung Herr zu werden, während Olaf Neumann ihm Platz anbot und von alten Zeiten zu plaudern begann.
Schließlich lenkte er die Unterhaltung auf das Problem, das ihm unter den Nägeln brannte: »Tobias erzählte mir, dass er adoptiert werden soll.«
»Ja, stell dir vor, der Junge hat wirklich Glück!«
»Glück?«
Olaf Neumann nickte strahlend. »Ein verständnisvolles, wohlhabendes Ehepaar. Die Frau kann keine Kinder bekommen. Den Jungen mögen sie, obwohl er zu unseren Sorgenkindern gehört. Ich habe die Angelegenheit jetzt beschleunigt, um diese Adoption rasch unter Dach und Fach zu bringen.«
»Und Tobias wird überhaupt nicht gefragt?«, erkundigte sich Ulrich düster.
»Hat er sich bei dir beklagt? Das darfst du nicht zu ernst nehmen. Tobias gehört zu denen, die immer und überall ein Haar in der Suppe finden. Dabei habe ich ihm gesagt, wie schwer es ist, für ihn geeignete Adoptiveltern zu finden!«
»Habe ich nicht neulich gelesen, dass es viel mehr adoptivwillige Paare gibt, als Kinder zur Verfügung stehen?«
»Tja, mein Lieber, mit Kindern könntest du einen schwunghaften Handel aufziehen, aber klein müssen sie sein! Im Kinderwagen müssen sie krähen! Achtjährige Buben kannst du bereits anpreisen wie Sauerbier. Wenn sie noch älter werden, will sie überhaupt keiner mehr, dann sind sie dazu verurteilt, bis zu ihrem achtzehnten Jahr in Heimen zu verbringen. Du siehst also ein, dass ich sehr froh sein muss, Tobias unterzubringen.«
Ulrich Warner senkte betreten den Kopf.
*
Vierzehn Tage später saß Ulrich wieder im Büro des Heimleiters. Olaf Neumann hatte den ehemaligen Schulfreund hereingebeten. Er verschanzte sich hinter seinem Schreibtisch und versuchte, dem Gespräch einen offiziellen Anstrich zu geben.
»Ulrich, ich finde es ganz rührend, wie du dich um Tobias kümmerst, wie viel Zeit du dem Jungen opferst, dass du ihn fast jeden Tag besuchst oder zu dir einlädst oder Ausflüge mit ihm unternimmst …« Er stockte.
»Aber?«, fragte Ulrich ahnungsvoll.
Olaf Neumann räusperte sich. »Ich muss dich leider bitten, den Kontakt zu dem Jungen einzuschränken, beziehungsweise – um ganz offen zu sein – abzubrechen.«
»Wie bitte? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Tobias und ich, wir sind Freunde geworden!«
»Eben darum. Der Junge begeistert sich für dich und schwärmt von dir, dass man meinen könnte, du kämst in der Rangordnung nicht weit hinter dem Herrgott persönlich.«
»Du übertreibst, mein Lieber. Tobias und ich mögen uns, das ist alles.«
»Streiten wir nicht um Worte. Tatsache ist, dass du Tobias seinen zukünftigen Adoptiveltern mehr und mehr entfremdest. So geht es nicht weiter. Es geht schließlich um die Zukunft des Jungen, die du ihm doch nicht verbauen möchtest.«
»Auf keinen Fall! Ich weiß nur nicht, ob Tobias mit ungeliebten Eltern wirklich eine so rosige Zukunft hat, wie du sie siehst.«
»Um es kurz zu machen, ich bitte dich, einen Schlussstrich zu ziehen und dich fernerhin nicht mehr mit Tobias zu treffen, auch nicht heimlich hinter meinem Rücken.«
»Sag mal, ist dir eigentlich klar, was du von mir verlangst, Olaf? Ich habe Tobias inzwischen lieb, als ob er mein eigener Sohn wäre!«
Der Heimleiter seufzte. »Schön und gut, aber du kannst ihn nicht adoptieren, und wenn du ihn noch so gern hast.«
»Warum eigentlich nicht? Es gibt heutzutage schon viele Väter, die allein für ihre Kinder sorgen! Außerdem würde ich eine nette Haushälterin engagieren! Das wäre doch die Lösung!«
Olaf Neumann schüttelte lächelnd den Kopf. »Du bist schon ein komischer Heiliger. Du musst wirklich einen Narren an Tobias gefressen haben. Denn bisher warst du doch, wie man hörte, alles andere als der Typ eines treusorgenden Familienvaters.«