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Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung. Otto WeiningerЧитать онлайн книгу.

Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung - Otto Weininger


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als ebenso vereinzelt und wunderbar angesehen wurden, weil man sich der Heterostylie gar nicht entsann. Bei mehreren Insektengattungen, nämlich bei Forficuliden (Ohrwürmern) und Lamellicornien (und zwar bei Lucanus cervus, dem Hirschkäfer, bei Dynastes hercules und Xylotrupes gideon) gibt es einerseits viele Männchen, welche den sekundären Geschlechtscharakter, der sie von den Weibchen am sichtbarsten scheidet, die Fühlhörner zu sehr großer Länge entwickeln; die andere Hauptgruppe der Männchen hat nur relativ wenig entwickelte Hörner. Bateson, von dem die ausführlichere Beschreibung dieser Verhältnisse herrührt, unterscheidet darum unter ihnen »high males« und »low males«. Zwar sind diese beiden Typen durch kontinuierliche Übergänge miteinander verbunden, aber die zwischen ihnen vermittelnden Stufen sind selten, die meisten Exemplare stehen an der einen oder der anderen Grenze. Leider ist es Bateson nicht darum zu tun gewesen, die sexuellen Beziehungen dieser beiden Gruppen zu den Weibchen zu erforschen, da er die Fälle nur als Beispiele diskontinuierlicher Variation anführt; und so ist nicht bekannt, ob es zwei Gruppen auch unter den Weibchen der betreffenden Arten gibt, die eine verschiedene sexuelle Affinität zu den verschiedenen Formen der Männchen besitzen. Darum lassen sich auch diese Beobachtungen nur als eine morphologische Parallele zur Heterostylie, nicht als physiologische Instanzen für das Gesetz der sexuellen Anziehung verwenden, für das die Heterostylie in der Tat sich verwerten läßt.

      Denn in den heterostylen Pflanzen liegt vielleicht eine völlige Bestätigung der Ansicht von der allgemeinen Gültigkeit jener Formel innerhalb aller Lebewesen vor. Es ist von Darwin nachgewiesen und seither von vielen Beobachtern in gleicher Weise konstatiert worden, daß bei den heterostylen Pflanzen Befruchtung fast nur dann Aussicht auf guten Erfolg hat, ja oft nur in dem Falle möglich ist, wenn der Pollen der makrostylen Blüte, d. i. derjenige von den niedrigeren Antheren, auf die mikrostyle Narbe eines anderen Individuums, welches sodann lange Staubfäden hat, übertragen wird, oder der aus hochstehenden Staubbeuteln stammende Pollen einer mikrostylen Blüte auf die makrostyle Narbe einer anderen Pflanze (mit kurzen Filamenten). So lang also in der einen Blüte der Griffel, d. h. so gut weiblich in ihr das weibliche Organ entwickelt ist, so lang muß in der anderen, von der sie mit Erfolg empfangen soll, das männliche, der Staubfaden sein, und umso kürzer in der letzteren der Griffel, dessen Länge den Grad der Weiblichkeit mißt. Wo dreierlei Griffellängen vorhanden sind, da fällt die Befruchtung nach derselben erweiterten Regel am besten aus, wenn der Pollen auf diejenige Narbe übertragen wird, die auf einer anderen Blüte in derselben Höhe steht wie der Staubbeutel, aus welchem der Pollen stammt. Wird dies nicht eingehalten, sondern etwa künstliche Befruchtung mit nicht-adäquatem Pollen herbeigeführt, so entstehen, wenn diese Prozedur überhaupt von Erfolg begleitet ist, fast immer nur kränkliche und kümmerliche, zwerghafte und durchaus unfruchtbare Sprößlinge, die den Hybriden aus verschiedenen Spezies äußerst ähneln.

      Den Autoren, welche die Heterostylie besprochen haben, merkt man es insgesamt an, daß sie mit der gewöhnlichen Erklärung dieses verschiedenartigen Verhaltens bei der Befruchtung nicht zufrieden sind. Diese besagt nämlich, daß die Insekten beim Blütenbesuch gleich hoch gestellte Sexualorgane mit der gleichen Körperstelle berühren und so den merkwürdigen Effekt herbeiführen. Darwin gesteht jedoch selbst, daß die Bienen alle Arten von Pollen an jeder Körperstelle mit sich tragen; es bleibt also das elektive Verfahren der weiblichen Organe bei Bestäubung mit doppelt und dreifach verschiedenen Pollen nach wie vor aufzuhellen. Auch scheint jene Begründung, so ansprechend und zauberkräftig sie sich ausnimmt, doch etwas oberflächlich, wenn eben mit ihr verständlich gemacht werden soll, warum künstlicher Bestäubung mit inadäquatem Pollen, sogenannter »illegitimer Befruchtung«, so schlechter Erfolg beschieden ist. Jene ausschließliche Berührung mit »legitimem« Pollen müßte dann die Narben durch Gewöhnung nur für den Blütenstaub dieser einen Provenienz aufnahmsfähig haben werden lassen; aber es konnte soeben Darwin selbst als Zeuge dafür einvernommen werden, daß diese Unberührtheit durch anderen Pollen vollkommen illusorisch ist, indem die Insekten, welche als Ehevermittler hiebei in Anspruch genommen werden, tatsächlich viel eher eine unterschiedslose Kreuzung begünstigen.

      Es scheint also die Hypothese viel plausibler, daß der Grund dieses eigentümlich auswählenden Verhaltens ein anderer, tieferer, in den Blüten selbst ursprünglich gelegener ist. Es dürfte sich hier wie beim Menschen darum handeln, daß die sexuelle Anziehung zwischen jenen Individuen am größten ist, deren eines ebensoviel von M besitzt wie das andere von W, was ja wieder nur ein anderer Ausdruck der obigen Formel ist. Die Wahrscheinlichkeit dieser Deutung wird ungemein erhöht dadurch, daß in der männlicheren, kurzgriffeligen Blüte die Pollenkörner in den hier höher stehenden Staubbeuteln auch stets größer, die Narbenpapillen kleiner sind als die homologen Teile in der langgriffeligen weiblicheren. Man sieht hieraus, daß es sich kaum um etwas anderes handeln kann als um verschiedene Grade der Männlichkeit und Weiblichkeit. Und unter dieser Voraussetzung erfährt hier das aufgestellte Gesetz der sexuellen Affinität eine glänzende Verifikation, indem eben im Tier- und im Pflanzenreiche — an späterem Orte wird hierauf zurückzukommen sein — Befruchtung stets dort den besten Erfolg aufweist, wo die Eltern die größte sexuelle Affinität zueinander gehabt haben.[8]

      Daß im Tierreich das Gesetz in voller Geltung besteht, wird erst bei der Besprechung des »konträren Sexualtriebes« zu großer Wahrscheinlichkeit erhoben werden können. Einstweilen möchte ich hier nur darauf aufmerksam machen, wie interessant Untersuchungen darüber wären, ob nicht auch die größeren, schwerer beweglichen Eizellen die flinkeren und schlankeren unter den Spermatozoiden stärker anziehen als die kleineren, dotterreichen und zugleich weniger trägen Eier, und diese nicht gerade die langsameren, voluminöseren unter den Zoospermien an sich locken. Vielleicht ergibt sich hier wirklich, wie L. Weill in einer kleinen Spekulation über die geschlechtsbestimmenden Faktoren vermutet hat, eine Korrelation zwischen den Bewegungsgrößen oder den kinetischen Energien der beiden Konjugationszellen. Es ist ja noch nicht einmal festgestellt — freilich auch sehr schwierig festzustellen — ob die beiden Generationszellen, nach Abzug der Reibung und Strömung im flüssigen Medium, eine Beschleunigung gegeneinander aufweisen oder sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit bewegen würden. So viel und noch einiges mehr könnte man da fragen.

      Wie schon mehrfach hervorgehoben wurde, ist das bisher besprochene Gesetz der sexuellen Anziehung beim Menschen (und wohl auch bei den Tieren) nicht das einzige. Wäre es das, so müßte es ganz unbegreiflich scheinen, daß es nicht schon längst gefunden wurde. Gerade weil sehr viele Faktoren mitspielen, weil noch eine, vielleicht beträchtliche, Anzahl anderer Gesetze erfüllt sein muß[9], darum sind Fälle von unaufhaltsamer sexueller Anziehung so selten. Da die bezüglichen Forschungen noch nicht abgeschlossen sind, will ich von jenen Gesetzen hier nicht sprechen und bloß der Illustration halber noch auf einen weiteren, mathematisch wohl nicht leicht faßbaren der in Betracht kommenden Faktoren hinweisen.

      Die Erscheinungen, auf die ich anspiele, sind im einzelnen ziemlich allgemein bekannt. Ganz jung, noch nicht 20 Jahre alt, wird man meist durch ältere Frauen (von über 35 Jahren) angezogen, während man mit zunehmendem Alter immer jüngere liebt; ebenso ziehen aber auch (Gegenseitigkeit!) die ganz jungen Mädchen, der »Backfisch«, ältere Männer oft jüngeren vor, um später wieder mit ganz jungen Bürschlein nicht selten die Ehe zu brechen. Das ganze Phänomen dürfte viel tiefer wurzeln, als es nach der anekdotenhaften Art aussehen möchte, in der man meist von ihm Notiz nimmt.

      Trotz der notwendigen Beschränkung dieser Arbeit auf das eine Gesetz wird es im Interesse der Korrektheit liegen, wenn nun eine bessere mathematische Formulierung, die keine unwahre Einfachheit vortäuscht, versucht wird. Auch ohne alle mitspielenden Faktoren und in Frage kommenden anderen Gesetze als selbständige Größen einzuführen, erreichen wir diese äußerliche Genauigkeit durch Hinzufügung eines Proportionalitätsfaktors.

      Die erste Formel war mir eine »ökonomische« Zusammenfassung des Gleichförmigen aller Fälle sexueller Anziehung von idealer Stärke, soweit das geschlechtliche Verhältnis durch das Gesetz überhaupt bestimmt wird. Nun wollen wir einen Ausdruck herschreiben für die Stärke der sexuellen Affinität in jedem denkbaren Falle, einen Ausdruck übrigens, der, seiner unbestimmten Form wegen, zugleich die allgemeinste Beschreibung des Verhältnisses


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