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Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung. Otto WeiningerЧитать онлайн книгу.

Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung - Otto Weininger


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Betrachtung der Zwischenstufen bildet ihren ersten Teil, während der zweite die rein psychologische Analyse von M und W in Angriff nehmen und so weit und tief als möglich fortzuführen trachten wird. Die konkreten Fälle wird sich, in Anwendung der eventuell daselbst zu gewinnenden Erkenntnisse, ein jeder selbsttätig immer zusammensetzen und sie mit den dort zu gewinnenden Anschauungen und Begriffen leicht abbilden können. Dieser zweite Teil wird sich auf die bekannten und gangbaren Meinungen über die geistigen Unterschiede zwischen den Geschlechtern nur sehr wenig stützen können. Hier jedoch will ich, bloß der Vollständigkeit halber und ohne der Sache eine besondere Wichtigkeit beizumessen, die sexuellen Zwischenstufen des psychischen Lebens in aller Kürze an einigen Punkten auftreten lassen, Punkten, die nur ein paar insgemein bekannte Eigentümlichkeiten, welche hier noch keiner näheren Analyse unterzogen werden sollen, in einigen Modifikationen sichtbar werden lassen.

      Weibliche Männer haben oft ein ungemein starkes Bedürfnis zu heiraten, mögen sie (was ich erwähne, um Mißverständnissen vorzubeugen) materiell noch so glänzend gestellt sein. Sie sind es auch, die, wenn sie können, fast immer sehr jung in die Ehe treten. Es wird ihnen oft besonders schmeicheln, eine berühmte Frau, eine Dichterin oder Malerin, die aber auch eine Sängerin oder Schauspielerin sein kann, zur Gattin zu haben.

      Weibliche Männer sind ihrer Weiblichkeit gemäß auch körperlich eitler als die anderen unter den Männern. Es gibt auch »Männer«, die auf die Promenade gehen, um ihr Gesicht, welches, als Weibergesicht, die Absicht seines Trägers meist hinreichend verrät, bewundert zu fühlen und dann befriedigt nach Hause zu gehen. Das Urbild des Narciß ist ein solcher »Mann« gewesen. Dieselben Personen sind natürlich auch, was Frisur, Kleidung, Schuhwerk, Wäsche anlangt, ungemein sorgfältig, ihrer momentanen Körperhaltung und ihres Aussehens an jedem bestimmten Tage, der kleinsten Einzelheiten ihrer Toilette, des vorübergehendsten Blickes, der von anderer Menschen Augen auf sie fällt, sich fast ebenso bewußt, wie W es stets ist, ja in Gang und Geberde oft geradezu kokett. Bei den Viragines hingegen nimmt man oft grobe Vernachlässigung der Toilette und Mangel an Körperpflege wahr; sie sind mit dem Ankleiden oft viel schneller fertig als mancher weibliche Mann. Das ganze »Gecken«- oder »Gigerl«tum geht, ebenso wie zum Teile die Frauenemanzipation, auf die jetzige Vermehrung dieser Zwittergeschöpfe zurück; das ist alles mehr als »bloße Mode«. Es fragt sich eben immer, warum etwas zur Mode werden kann, und es gibt wohl überhaupt weniger »bloße Mode«, als der oberflächlich kritisierende Zuschauer wähnt.

      Je mehr von W eine Frau hat, desto weniger wird sie den Mann verstehen, umso stärker jedoch wird er in seiner geschlechtlichen Eigentümlichkeit auf sie wirken, um so mehr Eindruck als Mann auf sie machen. Dies ist nicht nur aus dem bereits erläuterten Gesetze der sexuellen Anziehung zu verstehen, sondern geht darauf zurück, daß eine Frau um so eher ihr Gegenteil aufzufassen in der Lage sein wird, je reiner weiblich sie ist. Umgekehrt wird einer, je mehr von M er hat, desto weniger W zu verstehen in der Lage sein, desto eindringlicher jedoch werden die Frauen ihrem ganzen äußeren Wesen nach, in ihrer Weiblichkeit, sich ihm darstellen. Die sogenannten »Frauenkenner«, d. h. solche, die nichts mehr sind als nur »Frauenkenner«, sind darum alle zum guten Teile selbst Weiber. Die weiblicheren Männer wissen denn auch oft die Frauen viel besser zu behandeln als Vollmänner, die das erst nach langen Erfahrungen und, von ganz bestimmten Ausnahmen abgesehen, wohl überhaupt nie völlig erlernen.

      An diese paar Illustrationen, welche die Verwendbarkeit des Prinzipes an Beispielen veranschaulichen sollen, die absichtlich der trivialsten Sphäre der tertiären Geschlechtscharaktere entnommen wurden, möchte ich die naheliegenden Anwendungen schließen, die sich mir aus ihm für die Pädagogik zu ergeben scheinen. Eine Wirkung nämlich erhoffe ich vor allem von einer allgemeinen Anerkennung des Gemeinschaftlichen, das diesen und den früheren Tatsachen wie so vielen anderen noch zu Grunde liegt: eine mehr individualisierende Erziehung. Jeder Schuster, der den Füßen das Maß nimmt, muß das Individualisieren besser verstehen als die heutigen Erzieher in Schule und Haus, die nicht zum lebendigen Bewußtsein einer solchen moralischen Verpflichtung zu bringen sind! Denn bis jetzt erzieht man die sexuellen Zwischenformen (insbesondere unter den Frauen) im Sinne einer möglichst extremen Annäherung an ein Mannes- oder Frauenideal von konventioneller Geltung, man übt eine geistige Orthopädie in der vollsten Bedeutung einer Tortur. Dadurch schafft man nicht nur sehr viel Abwechslung aus der Welt, sondern unterdrückt vieles, was keimhaft da ist und Wurzel fassen könnte, verrenkt anderes zu unnatürlicher Lage, züchtet Künstlichkeit und Verstellung.

      Die längste Zeit hat unsere Erziehung uniformierend gewirkt auf alles, was mit einer männlichen, und auf alles, was mit einer weiblichen Geschlechtsregion zur Welt kommt. Gar bald werden »Knaben« und »Mädchen« in verschiedene Gewänder gesteckt, lernen verschiedene Spiele spielen, schon der Elementarunterricht ist gänzlich getrennt, die »Mädchen« lernen unterschiedslos Handarbeiten etc. etc. Die Zwischenstufen kommen da alle zu kurz. Wie mächtig aber die Instinkte, die »Determinanten« ihrer Naturanlage, in derartig mißhandelten Menschen sein können, das zeigt sich oft schon vor der Pubertät: Buben, die am liebsten mit Puppen spielen, sich von ihrem Schwesterlein häkeln und stricken lehren lassen, mit Vorliebe Mädchenkleidung anlegen und sich sehr gerne mit weiblichem Vornamen rufen hören; Mädchen, die sich unter die Knaben mischen, an deren wilderen Spielen teilnehmen wollen und oft auch von diesen ganz als ihresgleichen, »kollegial« behandelt werden. Immer aber kommt eine durch Erziehung von außen unterdrückte Natur nach der Pubertät zum Vorschein: männliche Weiber scheren sich die Haare kurz, bevorzugen frackartige Gewänder, studieren, trinken, rauchen, klettern auf die Berge, werden passionierte Jägerinnen; weibliche Männer lassen das Haupthaar lang wachsen, sie tragen Mieder, zeigen viel Verständnis für die Toilettesorgen der Weiber, mit denen sie vom gleichen Interesse getragene kameradschaftliche Gespräche zu führen imstande sind; ja sie schwärmen denn auch oft aufrichtig von freundschaftlichem Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern, weibische Studenten z. B. von »kollegialem Verhältnis« zu den Studentinnen u. s. w.

      Unter der schraubstockartigen Pressung in eine gleichmachende Erziehung haben Mädchen und Knaben gleich viel, die letzteren später mehr unter ihrer Subsumtion unter das gleiche Gesetz, die ersteren mehr unter der Schablonisierung durch die gleiche Sitte zu leiden. Die hier erhobene Forderung wird darum, fürchte ich, was die Mädchen betrifft, mehr passivem Widerstand in den Köpfen begegnen als für die Knaben. Hier gilt es vor allem, sich von der gänzlichen Falschheit der weit verbreiteten, von Autoritäten des Tages weitergegebenen und immer wiederholten Meinung von der Gleichheit aller »Weiber« (»es gibt keine Unterschiede, keine Individuen unter den Weibern; wer eine kennt, kennt alle«) gründlich zu überzeugen. Es gibt unter denjenigen Individuen, die W näher stehen als M (den »Frauen«), zwar bei weitem nicht so viele Unterschiede und Möglichkeiten wie unter den übrigen — die größere Variabilität der »Männchen« ist nicht nur für den Menschen, sondern im Bereiche der ganzen Zoologie eine allgemeine Tatsache, die insbesondere von Darwin eingehend gewürdigt worden ist — aber noch immer Differenzen genug. Die psychologische Genese jener so weit verbreiteten irrigen Meinung ist zum großen Teile die, daß (vgl. Kapitel III) jeder Mann in seinem Leben nur eine ganz bestimmte Gruppe von Frauen intimer kennen lernt, die naturgesetzlich alle untereinander viel Gemeinsames haben. Man hört ja auch von Weibern öfters, aus der gleichen Ursache und mit noch weniger Grund: »die Männer sind einer wie der andere«. So erklären sich auch manche, gelinde gesagt, gewagte Behauptungen vieler Frauenrechtlerinnen über den Mann und die angeblich unwahre Überlegenheit desselben: daraus nämlich, was für Männer gerade sie in der Regel näher kennen lernen.

      In dem verschieden-abgestuften Beisammensein von M und W, in dem wir ein Hauptprinzip aller wissenschaftlichen Charakterologie erkannt haben, sehen wir somit auch eine von der speziellen Pädagogik zu beherzigende Tatsache vor uns.

      Die Charakterologie verhält sich zu jener Psychologie, welche eine »Aktualitätstheorie« des Psychischen eigentlich allein gelten lassen dürfte, wie Anatomie zur Physiologie. Da sie stets ein theoretisches und praktisches Bedürfnis bleiben wird, ist es notwendig, unabhängig von ihrer erkenntnistheoretischen Grundlegung und Abgrenzung gegenüber dem Gegenstande der allgemeinen Psychologie,


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