Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung. Otto WeiningerЧитать онлайн книгу.
nur in dem Anspruch unternommen werden, daß jemand, ohne selbst Weib zu sein, über das Weib richtige Aussagen zu machen imstande sei. Es bleibt also jener erste Einwand einstweilen bestehen, und da seine Widerlegung erst viel später erfolgen kann, hilft es nichts, wir müssen uns über ihn hinwegsetzen. Nur so viel will ich bemerken. Noch hat nie — ist auch dies nur eine Folge der Unterdrückung durch den Mann? — beispielsweise eine schwangere Frau ihre Empfindungen und Gefühle irgendwie, sei es in einem Gedichte, sei es in Memoiren, sei es in einer gynäkologischen Abhandlung, zum Ausdruck gebracht; und Folge einer übergroßen Schamhaftigkeit kann das nicht sein, denn — Schopenhauer hat hierauf mit Recht hingewiesen — es gibt nichts, was einer schwangeren Frau so fern läge wie die Scham über ihren Zustand. Außerdem bestünde ja an sich die Möglichkeit, nach dem Ende der Schwangerschaft aus der Erinnerung über das psychische Leben zu jener Zeit zu beichten; wenn dennoch das Schamgefühl damals von Mitteilung zurückgehalten hätte, so entfiele ja nachher dieses Motiv, und das Interesse, das solchen Eröffnungen von vielen Seiten entgegengebracht würde, wäre für viele wohl sonst Grund genug, das Schweigen zu brechen. Aber nichts von alledem! Wie wir sonst nur Männern wirklich wertvolle Enthüllungen über die psychischen Vorgänge im Weibe danken, so haben auch hier bloß Männer die Empfindungen der schwangeren Frau geschildert. Wie vermochten sie das?
Wenn auch in jüngster Zeit die Aussagen von Dreiviertel- und Halbweibern über ihr psychisches Leben sich mehren, so erzählen diese doch mehr von dem Manne als von dem eigentlichen Weibe in ihnen. Wir bleiben demnach nur auf eines angewiesen: auf das, was in den Männern selbst Weibliches ist. Das Prinzip der sexuellen Zwischenformen erweist sich hier in gewissem Sinne als die Voraussetzung jedes wahren Urteils eines Mannes über die Frau. Doch wird sich später die Notwendigkeit einer Beschränkung und Ergänzung dieser Bedeutung des Prinzipes ergeben. Denn es ohne weiteres anwenden, müßte dazu führen, daß der weiblichste Mann das Weib am besten zu beschreiben in der Lage sei, und konsequent würde daraus weiter folgen, daß das echte Weib sich selbst am besten durchschauen könne, was ja eben sehr in Zweifel gezogen wurde. Wir werden also schon hier darauf aufmerksam, daß ein Mann Weibliches in bestimmtem Maße in sich haben kann, ohne darum in gleichem Grade schon eine sexuelle Zwischenform darzustellen. Umso merkwürdiger erscheint es, daß der Mann gültige Feststellungen über die Natur des Weibes solle machen können; ja, da wir diese Fähigkeit, bei der außerordentlichen Männlichkeit vieler offenbar ausgezeichneter Beurteiler der Frauen, selbst M nicht absprechen zu können scheinen, bleibt das Recht des Mannes, über die Frau[13] mitzusprechen, ein desto merkwürdigeres Problem, und wir werden uns der Auflösung des prinzipiellen methodischen Zweifels an diesem Rechte später um so weniger entziehen können. Einstweilen betrachten wir jedoch, wie gesagt, den Einwurf als nicht gemacht und schreiten an die Untersuchung der Sache selbst. Worin liegt der wesentliche psychologische Unterschied zwischen Mann und Weib? so fragen wir drauf los.
Man hat in der größeren Intensität des Geschlechtstriebes beim Manne diesen Urunterschied zwischen den Geschlechtern erblicken wollen, aus dem sich alle anderen ableiten ließen. Ganz abgesehen, ob die Behauptung richtig, ob mit dem Worte »Geschlechtstrieb« ein Eindeutiges und wirklich Meßbares bezeichnet ist, so steht doch die prinzipielle Berechtigung einer solchen Ableitung wohl noch sehr in Frage. Zwar dürfte an allen jenen antiken und mittelalterlichen Theorien über den Einfluß der »unbefriedigten Gebärmutter« beim Weibe und des »semen retentum« beim Manne ein Wahres sein, und es hat da nicht erst der heute so beliebten Phrase bedurft, daß »alles« nur »sublimierter Geschlechtstrieb« sei. Aber auf die Ahnung so vager Zusammenhänge läßt sich keine systematische Darstellung gründen. Daß mit größerer oder geringerer Stärke des Geschlechtstriebes andere Qualitäten ihrem Grade nach bestimmt sind, ist in keiner Weise sicherzustellen versucht worden.
Indessen die Behauptung, daß die Intensität des Geschlechtstriebes bei M größer sei als bei W, ist an sich falsch. Man hat ja auch wirklich das Gegenteil ebenso behauptet: es ist ebenso falsch. In Wahrheit bleibt die Stärke des Bedürfnisses nach dem Sexualakt unter Männern selbst gleich starker Männlichkeit noch immer verschieden, ebenso, wenigstens dem Anscheine nach, unter Frauen mit dem gleichen Gehalte an W. Hier spielen gerade unter den Männern ganz andere Einteilungsgründe mit, die es mir zum Teil gelungen ist aufzufinden und über die vielleicht eine andere Publikation ausführlich handeln wird.
Also in der größeren Heftigkeit des Begattungstriebes liegt, entgegen vielen populären Meinungen, kein Unterschied der Geschlechter. Dagegen werden wir einen solchen gewahr, wenn wir jene zwei analytischen Momente, die Albert Moll aus dem Begriffe des Geschlechtstriebes herausgehoben hat, einzeln auf Mann und Weib anwenden: den Detumescenz- und den Kontrektationstrieb. Der erste resultiert aus den Unlustgefühlen durch in größerer Menge angesammelte reife Keimzellen, der zweite ist das Bedürfnis nach körperlicher Berührung eines zu sexueller Ergänzung in Anspruch genommenen Individuums. Während nämlich M beides besitzt, Detumescenz- wie Kontrektationstrieb, ist bei W ein eigentlicher Detumescenztrieb gar nicht vorhanden. Dies ist schon damit gegeben, daß im Sexualakte nicht W an M, sondern nur M an W etwas abgibt: W behält die männlichen wie die weiblichen Sekrete. Im anatomischen Bau kommt dies ebenfalls zum Ausdruck in der Prominenz der männlichen Genitalien, die dem Körper des Mannes den Charakter eines Gefäßes so völlig nimmt. Wenigstens kann man die Männlichkeit des Detumescenztriebes in dieser morphologischen Tatsache angedeutet finden, ohne daran sofort eine naturphilosophische Folgerung zu knüpfen. Daß W der Detumescenztrieb fehlt, wird auch durch die Tatsache bewiesen, daß die meisten Menschen, die über ⅔ M enthalten, ohne Ausnahme in der Jugend der Onanie auf längere oder kürzere Zeit verfallen, einem Laster, dem unter den Frauen nur die mannähnlichsten huldigen. W selbst ist die Masturbation fremd. Ich weiß, daß ich hiemit eine Behauptung aufstelle, der schroffe gegenteilige Versicherungen gegenüberstehen. Doch werden sich die scheinbar widersprechenden Erfahrungen sofort befriedigend erklären.
Zuvor jedoch harrt noch der Kontrektationstrieb von W der Besprechung. Dieser spielt beim Weibe die größte, weil eine alleinige Rolle. Aber auch von ihm läßt sich nicht behaupten, daß er beim einen Geschlechte größer sei als beim anderen. Im Begriffe des Kontrektationstriebes liegt ja nicht die Aktivität in der Berührung, sondern nur das Bedürfnis nach dem körperlichen Kontakte mit dem Nebenmenschen überhaupt, ohne daß schon etwas darüber ausgesagt wäre, wer der berührende und wer der berührte Teil ist. Die Konfusion in diesen Dingen, indem immer Intensität des Wunsches mit dem Wunsch nach Aktivität zusammengeworfen wird, rührt von der Tatsache her, daß M in der ganzen Tierwelt W gegenüber, ebenso mikrokosmisch jeder tierische und pflanzliche Samenfaden der Eizelle gegenüber stets der aufsuchende und aggressive Teil ist, und der Irrtum nahe liegt, ein unternehmendes Verhalten behufs Erreichung eines Zweckes und den Wunsch nach dessen Erreichung aus einander regelmäßig und in einer konstanten Proportion folgen zu lassen, und auf eine Abwesenheit des Bedürfnisses zu schließen, wo sich keine deutlichen motorischen Bestrebungen zeigen, dieses zu befriedigen. So ist man dazu gekommen, den Kontrektationstrieb für speziell männlich anzusehen und gerade ihn dem Weibe abzusprechen. Man versteht aber, daß hier noch sehr wohl innerhalb des Kontrektationstriebes eine Unterscheidung getroffen werden muß. Es wird sich fernerhin noch ergeben, daß M in sexueller Beziehung das Bedürfnis hat, anzugreifen (im wörtlichen und im übertragenen Sinne), W das Bedürfnis, angegriffen zu werden, und es ist klar, daß das weibliche Bedürfnis, bloß weil es nach Passivität geht, darum kein geringeres zu sein braucht als das männliche nach der Aktivität. Diese Distinktionen täten den häufigen Debatten not, welche immer wieder die Frage aufwerfen, bei welchem Geschlechte der Trieb nach dem anderen wohl größer sein möge.
Was man bei der Frau als Masturbation bezeichnet hat, entspringt aus einer anderen Ursache als aus dem Detumescenztriebe. W ist, und damit kommen wir auf einen wirklichen Unterschied zum ersten Male zu sprechen, sexuell viel erregbarer als der Mann; seine physiologische Irritabilität (nicht Sensibilität) ist, was die Sexualsphäre anlangt, eine viel stärkere. Die Tatsache dieser leichten sexuellen Erregbarkeit kann sich bei der Frau entweder im Wunsche nach der sexuellen Erregung offenbaren oder in einer eigentümlichen, sehr reizbaren, ihrer selbst, wie es scheint, keineswegs sicheren und darum unruhigen und heftigen Scheu vor der Erregung durch Berührung. Der Wunsch nach der sexuellen Excitation