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Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung. Otto WeiningerЧитать онлайн книгу.

Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung - Otto Weininger


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Einteilung der psychischen Phänomene noch nicht durchführbar ist, zu früh kommt. Es erscheinen nämlich in ihren Anfängen alle »Elemente« wie in einem verschwommenen Hintergrunde, als eine »rudis indigestaque moles«, während Charakterisierung (ungefähr also = Gefühlsbetonung) zu dieser Zeit das Ganze lebhaft umwogt. Es gleicht dies dem Prozesse, der vor sich geht, wenn man einem Umgebungsbestandteil, einem Strauch, einem Holzstoß aus weiter Ferne sich nähert: den ursprünglichen Eindruck, den man von ihm empfängt, diesen ersten Augenblick, in dem man noch lange nicht weiß, was »es« eigentlich ist, diesen Moment der ersten stärksten Unklarheit und Unsicherheit bitte ich zum Verständnis des Folgenden vor allem festzuhalten.

      In diesem Augenblicke nun sind »Element« und »Charakter« absolut ununterscheidbar (untrennbar sind sie stets, nach der sicherlich zu befürwortenden Modifikation, die Petzoldt an Avenarius' Darstellung vorgenommen hat). In einem dichten Menschengedränge nehme ich z. B. ein Gesicht wahr, dessen Anblick mir durch die dazwischen wogenden Massen sofort wieder entzogen wird. Ich habe keine Ahnung, wie dieses Gesicht aussieht, wäre völlig unfähig, es zu beschreiben oder auch nur ein Kennzeichen desselben anzugeben; und doch hat es mich in die lebhafteste Aufregung versetzt, und ich frage in angstvoll-gieriger Unruhe: wo hab' ich dieses Gesicht nur schon gesehen?

      Erblickt ein Mensch einen Frauenkopf, der auf ihn einen sehr starken sinnlichen Eindruck macht, für einen »Augenblick«, so vermag er oft sich selbst gar nicht zu sagen, was er eigentlich gesehen hat, es kann vorkommen, daß er nicht einmal an die Haarfarbe genau sich zu erinnern weiß. Bedingung ist immer, daß die Netzhaut dem Objekte, um mich ganz photographisch auszudrücken, genügend kurze Zeit, Bruchteile einer Sekunde lang, exponiert war.

      Wenn man sich irgend einem Gegenstande aus weiter Ferne nähert, hat man stets zuerst nur ganz vage Umrisse von ihm unterschieden; dabei aber überaus lebhafte Gefühle empfunden, die in dem Maße zurücktreten, als man eben näher kommt und die Einzelheiten schärfer ausnimmt. (Von »Erwartungsgefühlen« ist, wie noch ausdrücklich bemerkt werden soll, hier nicht die Rede.) Man denke an Beispiele, wie an den ersten Anblick eines aus seinen Nähten gelösten menschlichen Keilbeins; oder an den mancher Bilder und Gemälde, sowie man einen halben Meter inner- oder außerhalb der richtigen Distanz Fuß gefaßt hat; ich erinnere mich speziell an den Eindruck, den mir Passagen mit Zweiunddreißigsteln aus Beethovenschen Klavierauszügen und eine Abhandlung mit lauter dreifachen Integralen gemacht haben, ehe ich noch die Noten kannte und vom Integrieren einen Begriff hatte. Dies eben haben Avenarius und Petzoldt übersehen: daß alles Hervortreten der Elemente von einer gewissen Absonderung der Charakterisierung (der Gefühlsbetonung) begleitet ist.

      Auch einige von der experimentellen Psychologie festgestellte Tatsachen kann man zu diesen Ergebnissen der Selbstbeobachtung in Beziehung bringen. Läßt man im Dunkelzimmer auf ein im Zustande der Dunkeladaptation befindliches Auge einen momentanen oder äußerst kurze Zeit währenden farbigen Reiz einwirken, so hat der Beobachter nur den Eindruck schlechtweg der Erhellung, ohne daß er die nähere Farbenqualität des Lichtreizes anzugeben vermag; es wird ein »Etwas« empfunden ohne irgend welche genauere Bestimmtheit, ein »Lichteindruck überhaupt« ausgesagt; und die präzise Angabe der Farbenqualität ist selbst noch dann nicht leicht möglich, wenn die Dauer des Reizes (natürlich nicht über ein gewisses Maß) verlängert wird.

      Ebenso geht aber jeder wissenschaftlichen Entdeckung, jeder technischen Erfindung, jeder künstlerischen Schöpfung ein verwandtes Stadium der Dunkelheit voran, einer Dunkelheit wie jener, aus welcher Zarathustra seine Wiederkunftslehre an das Licht ruft: »Herauf, abgründlicher Gedanke, aus meiner Tiefe! Ich bin dein Hahn und Morgengrauen, verschlafener Wurm: auf, auf! meine Stimme soll dich schon wachkrähen!« — Der Prozeß in seiner Gänze, von der völligen Wirrnis bis zur strahlenden Helle, ist in seinem Verlaufe vergleichbar mit der Folge der Bilder, die man passiv empfängt, wenn von irgend einer plastischen Gruppe, einem Relief die feuchten Tücher, die es in großer Anzahl eingehüllt haben, eines nach dem anderen weggenommen werden; bei einer Denkmalsenthüllung erlebt der Zuschauer ähnliches. Aber auch, wenn ich mich an etwas erinnere, z. B. an irgend eine einmal gehörte Melodie, wird dieser Prozeß wieder durchgemacht; freilich oft in äußerst verkürzter Gestalt und darum schwer zu bemerken. Jedem neuen Gedanken geht ein solches Stadium des »Vorgedankens«, wie ich es nennen möchte, vorher, wo fließende geometrische Gebilde, visuelle Phantasmen, Nebelbilder auftauchen und zergehen, »schwankende Gestalten«, verschleierte Bilder, geheimnisvoll lockende Masken sich zeigen; Anfang und Ende des ganzen Herganges, den ich in seiner Vollständigkeit kurz den Prozeß der »Klärung« nenne, verhalten sich in gewisser Beziehung wie die Eindrücke, die ein stark Kurzsichtiger von weit entfernten Gegenständen erhält mit und ohne die korrigierenden Linsen.

      Und wie im Leben des einzelnen (der vielleicht stirbt, ehe er den ganzen Prozeß durchlaufen hat), so gehen auch in der Geschichte der Forschung die »Ahnungen« stets den klaren Erkenntnissen voran. Es ist derselbe Prozeß der Klärung, auf Generationen verteilt. Man denke z. B. an die zahlreichen griechischen und neuzeitlichen Antizipationen der Lamarckschen und Darwinschen Theorien, derentwegen die »Vorläufer« heute bis zum Überdruß belobt werden, an die vielen Vorgänger von Robert Mayer und Helmholtz, an all die Punkte, wo Goethe und Lionardo da Vinci, freilich vielleicht die vielseitigsten Menschen, den späteren Fortschritt der Wissenschaft vorweggenommen haben u. s. w., u. s. w. Um solche Vorstadien handelt es sich regelmäßig, wenn entdeckt wird, dieser oder jener Gedanke sei gar nicht neu, er stehe ja schon bei dem und dem. — Auch bei allen Kunststilen, in der Malerei wie in der Musik, ist ein ähnlicher Entwicklungsprozeß zu beobachten: vom unsicheren Tasten und vorsichtigen Balancieren bis zu großen Siegen. — Ebenso beruht der gedankliche Fortschritt der Menschheit auch in der Wissenschaft fast allein auf einer besseren und immer besseren Beschreibung und Erkenntnis derselben Dinge, es ist der Prozeß der Klärung, über die ganze menschliche Geschichte ausgedehnt. Was wir neues bemerken, es kommt daneben nicht eigentlich sehr in Betracht.

      Wie viele Grade der Deutlichkeit und Differenziertheit ein Vorstellungsinhalt durchlaufen kann bis zum völlig distinkten, von keinerlei Nebel in den Konturen mehr getrübten Gedanken, das kann man stets beobachten, wenn man einen schwierigen neuen Gegenstand, z. B. die Theorie der elliptischen Funktionen, durch das Studium sich anzueignen sucht. Wie viele Grade des Verstehens macht man da nicht an sich selbst durch (insbesondere in Mathematik und Mechanik), bis alles vor einem daliegt, in schöner Ordnung, in vollständiger Disposition, in ungestörter und vollkommener Harmonie der Teile zum Ganzen, offen dem mühelosen Ergreifen durch die Aufmerksamkeit! Diese Grade entsprechen den einzelnen Etappen auf dem Wege der Klärung.

      Der Prozeß der Klärung kann auch retrograd verlaufen: von der völligen Distinktheit bis zur größten Verschwommenheit. Diese Umkehrung des Klärungsverlaufes ist nichts anderes als der Prozeß des Vergessens, der nur in der Regel über eine längere Zeit ausgedehnt ist und meist bloß durch Zufall auf dem einen oder anderen Punkte seines Fortschreitens bemerkt wird. Es verfallen gleichsam ehedem wohlgebahnte Straßen, für deren Pflege nichts durch »Reproduktion« geschehen ist; wie aus dem jugendlichen »Vorgedanken« der in größter Intensität aufblitzende »Gedanke«, so wird aus dem »Gedanken« der altersschwache »Nachgedanke«: und wie auf einem lange nicht begangenen Waldweg von rechts und links Gräser, Kräuter, Stauden hereinzuwuchern beginnen, so verwischt sich Tag für Tag die deutliche Prägung des Gedankens, der nicht mehr gedacht wird. Hieraus wird auch eine praktische Regel verständlich, die ein Freund[14] sehr oft bestätigt gefunden hat: wer irgend etwas erlernen will, sei es ein Musikstück oder ein Abschnitt aus der Geschichte der Philosophie, wird im allgemeinen nicht ohne Unterbrechung sich dieser Aneignungsarbeit widmen können, und jede einzelne Partie des Stoffes wiederholt durchnehmen müssen. Da fragt es sich nun, wie groß sind am zweckmäßigsten die Pausen, zwischen dem einen Male und dem nächsten zu wählen? Es hat sich nun herausgestellt — und es dürfte allgemein so sein — daß mit einer Wiederholung begonnen werden muß, solange man sich noch nicht wieder für die Arbeit interessiert, so lange man sein Pensum noch halbwegs zu beherrschen glaubt. Sowie es einem nämlich genugsam entschwunden ist, um wieder


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