Theodor Storm: Novellen, Märchen, Gedichte & Briefe (Ãœber 400 Titel in einem Band). Theodor StormЧитать онлайн книгу.
zwar nur als ein Beruhigungsmittel gelten lassen, wie solches dem Kranken wohl ohne weitere Absicht gegeben wird, indessen schließlich mußten sie mir dennoch versprechen, von weiterem Verfahren abzustehen und die herausgenommenen Teile in den Körper zurückzulegen. Ich verließ sie dann und fuhr nach meiner Wohnung; ermüdet von der Reise, voll Schmerz um den Tod des Freundes und belastet mit einer unheimlichen Trauer, daß ich ihm das gegebene Wort nun dennoch nicht hatte halten können. – Es ist nun fast ein Jahr vergangen, aber gleichwohl – ich bin niemals daran gemahnt worden.«
Der Medizinalrat schwieg, und es entstand eine augenblickliche Stille in der Gesellschaft, die wohl dem Andenken des Verstorbenen gelten mochte. Mit einem Male aber richteten sich die Blicke der Anwesenden wieder auf den Erzähler, der seinen Lehnstuhl verlassen hatte und mit vorgestreckten Händen in der Stellung eines Horchenden dastand. In dem faltenreichen alten Gesicht war der Ausdruck der höchsten Spannung, ja der Bestürzung nicht zu verkennen. Nach einer Weile hörte man ihn halblaut, wie zu sich selber, sagen: »Das ist entsetzlich!« Als hierauf der Herr des Hauses, einer seiner ältesten Freunde, ihn sanft bei der Hand ergriff, richtete er sich langsam auf und blickte in der Gesellschaft umher, als wolle er gewiß werden, wo er sich befinde. »Meine verehrten Herrschaften«, sagte er dann, »ich habe soeben etwas erfahren – was und woher, erlassen Sie mir, Ihnen mitzuteilen. Nur so viel mag ich sagen, daß meine vorhin geäußerten Ansichten dadurch im wesentlichen berichtigt werden dürften. – Zugleich muß ich bitten, mich für heute abend zu entlassen; ich habe einen notwendigen Gang zu tun.« – Der Medizinalrat nahm Hut und Stock und verließ die Gesellschaft. Als er draußen war, ging er quer über den Markt nach der Wohnung des Professors X., den er in seinem Studierzimmer antraf. Er redete ihn ohne weiteres an: »Sie erinnern sich noch des Justizrats, Herr Professor, und der von Ihnen geleiteten Sektion seiner Leiche?« – »Gewiß, Herr Medizinalrat.« – »Auch des mir bei dieser Gelegenheit gegebenen Versprechens?« – »Auch dessen.« – »Aber Sie haben mich getäuscht, Herr Kollege!« – »Ich verstehe Sie nicht, Herr Kollege.« – »Sie werden mich schon verstehen, wenn Sie mir nur erlauben wollen, dort einige Bücher in dem dritten Fach Ihres Repositoriums hinwegzuräumen!« – Und ehe der andre noch zu antworten vermochte, war der aufgeregte Greis schon herangetreten, und nachdem er mit zitternden Händen einige Bände beiseite gelegt, holte er aus der Ecke des Faches einen Glashafen hervor, in welchem sich ein Präparat in Spiritus befand. Es war ein ungewöhnlich großes menschliches Herz. – »Es ist das Herz meines Freundes«, sagte er, das Glas mit beiden Händen fassend; »ich weiß es, aber der Tote muß es wiederhaben; noch heute, diese Nacht noch!« – Der Professor wurde bestürzt; er war überzeugt, daß kein Mensch dem Medizinalrate seinen heimlichen Besitz verraten haben konnte. Aber er gestand demselben, daß in der Tat an jenem Abend das anatomische Gelüste über seine Gewissenhaftigkeit den Sieg davongetragen habe. – Das Herz des Toten wurde noch in derselben Nacht zu ihm in den Sarg gelegt.«
»Pfui! Wer befreit mich von diesem Schauder?«
»Schauder? Du sprichst ja wie ein moderner Literarhistoriker.«
»Ich? Weshalb?«
»Weil du in dem Grauen nur die Gänsehaut siehst.«
»Nun, und was wäre es denn anders?«
»Was es anders wäre? – – Wenn wir uns recht besinnen, so lebt doch die Menschenkreatur, jede für sich, in fürchterlicher Einsamkeit; ein verlorener Punkt in dem unermessenen und unverstandenen Raum. Wir vergessen es; aber mitunter dem Unbegreiflichen und Ungeheuren gegenüber befällt uns plötzlich das Gefühl davon; und das, dächte ich, wäre etwas von dem, was wir Grauen zu nennen pflegen.«
»Unsinn! Grauen ist, wenn einem nachts ein Eimer mit Gründlingen ins Bett geschüttet wird; das hab ich schon gewußt, als meine Schuhe noch drei Heller kosteten.«
»Hast recht, Klärchen! Oder wenn man abends vor Schlafengehen unter alle Betten und Kommoden leuchtet, und ich weiß eine, die das sehr eifrig ins Werk setzen wird. Es könnte sogar sehr bald geschehen, denn es ist spät, meine Herrschaften, Bürger-Bettzeit, wie ich fast in dieser auserwählten Gesellschaft gesagt hätte.«
Schneewittchen
Eine Märchen-Scene.
Zwergenwirtschaft. Links die Thüre zur Schlafkammer
der Zwerge; im Hintergrunde eine Thür- und Fensteröffnung.
Von außen Wald und Sonnenschein. Drinnen steht ein
kleiner Tisch mit sieben Schüsseln.
Die sieben Zwerge (kommen singend nach einander herein mit Kräutersäckchen auf dem Nacken, werfen die Säcke in den Winkel, treten an den Tisch und stutzen, einer nach dem anderen.) Zwergenältester. Wer hat auf meinem Stühlchen sessen? Zwerg 2. Wer hat von meinem Tellerlein essen? Zwerg 3. Wer hat von meinem Müschen pappt? Zwerg 4. Wer hat mit meinem Gäblein zutappt?
Zwerg 5. Wer hat aus meinem Becherlein trunken? Zwerg 6. Wer hat mein Löfflein eingetunken? Zwerg 7. (Schaut in die Nebenkammer) Wer drückt’ in meinem Bett das Dällchen? Zwergenältester. Wer rückt’ an meinem Schlafgestellchen? Zwerg 2. Wer schlief auf meinem Lagerstättchen? Zwerg 3. O weh! liegt Einer in meinem Bettchen! Zwerg 4. Ein Mägdelein. Zwerg 5, 6, 7. Laß schaun, laß sehn! Zwerg 7. Ei Gott, wie ist das Kind so schön! Zwergenältester. O weckt sie nicht! o schreckt sie nicht! Geschlossen ist der Aeuglein Licht, Hinabgerollt die Locken dicht; Ueber des Mieders blanke Seide Gefaltet fromm die Händchen beide.
Zwerg 2. Wer mag sie sein? Wo kam sie her? Der Wald wächst in die Kreuz und Quer. Zwerg 3. Wie fand das liebe Tausendschön Den Weg durch Dorn und Moor und Seen? Zwerg 4. Ist alles so gar lieb und fein, So rosenroth, schneeweiß und rein! Zwergenältester. Bis sie erwacht, bleibt mäuschensacht, Das helle Glöcklein nehmt in Acht, Bleibt ruhig in den Schühlein stehn, Laßt leis das Zünglein ummegehn. Zwerg 4. Schau, schau! Die Wimper regte sich. Zwerg 5. Das Mündlein roth bewegte sich. Zwerg 6. Das blonde Köpfchen reckt sich auf, Zwei blaue Aeuglein schlägt sie auf! Zwerg 7. Sie schaut sich um ein stummes Weilchen! Zwergenältester. Schweigt nun! ihr Mühlchen, ihr Plappermäulchen!
Erschreckt sie nicht, geht fein bei Seit!
Sie sah wohl Zwerglein nicht bis heut.
(Die Zwerge treten bis auf den Aeltesten an beiden Seiten zurück.)
Schneewittchen (erscheint scheu an der Thür.) Zwergenältester. Ei grau’ dich nicht, tritt nur herein; Du sollst uns fein willkommen sein, Willkommen in der Zwerge Häuschen! Doch sprich, wie heißt du denn? Schneewittchen. Schneeweißchen! So hat die Mutter mich genannt; Mein Vater ist König über dies Land. Zwergenältester. Schneeweißchen, Königstöchterlein, Wo ließest du die Pagen dein, Wo ließest du die Wagen und Rosse, Wie kamst du von des Königs Schlosse? Schneewittchen. Ach, ich bin kommen arm und bloß! Mütterlein schläft in Grabes Schooß; Der König freite die zweite Frau, Die schlug mich oft und schalt mich rauh; Schickte mich dann mit dem Jäger zu Walde,
Sollte mich tödten auf Berges Halde,
Und der Königin als Zeichen
Sollt’ er mein blutend Herze reichen;
Doch ich bat ihn so lange, so lang auf den Knien -
Da schoß er den Eber, und ließ mich fliehn.
Zwergenältester. Schneeweißchen, Königstöchterlein, Wie fandest du Weg und Steg allein? Wer zeigte dir die sieben Berge? Wie kamst du in das Reich