Theodor Storm: Novellen, Märchen, Gedichte & Briefe (Ãœber 400 Titel in einem Band). Theodor StormЧитать онлайн книгу.
dann rief sie wohl: »Nicht du, nicht du, Perle!« und hob mit ihren Ärmchen die Möwe so hoch, daß diese, sich selbst befreiend, schreiend über die Werfte hinflog und statt ihrer nun der Hund durch Schmeicheln und Springen den Platz auf ihren Armen zu erobern suchte.
Fielen zufällig Haukes und Elkes Augen auf dies wunderliche Vierblatt, das nur durch einen gleichen Mangel am selben Stengel festgehalten wurde, dann flog wohl ein zärtlicher Blick auf ihr Kind; hatten sie sich gewandt, so blieb nur noch ein Schmerz auf ihrem Antlitz, den jedes einsam mit sich von dannen trug, denn das erlösende Wort war zwischen ihnen noch nicht gesprochen worden. Da eines Sommervormittags, als Wienke mit der Alten und den beiden Tieren auf den großen Steinen vor der Scheuntür saß, gingen ihre beiden Eltern, der Deichgraf seinen Schimmel hinter sich, die Zügel über dem Arme, hier vorüber; er wollte auf den Deich hinaus und hatte das Pferd sich selber von der Fenne heraufgeholt; sein Weib hatte auf der Werfte sich an seinen Arm gehängt. Die Sonne schien warm hernieder; es war fast schwül, und mitunter kam ein Windstoß aus Südsüdost. Dem Kinde mochte es auf dem Platze unbehaglich werden. »Wienke will mit!« rief sie, schüttelte die Möwe von ihrem Schoß und griff nach der Hand des Vaters.
»So komm!« sagte dieser.
– Frau Elke aber rief. »In dem Wind? Sie fliegt dir weg!«
»Ich halt sie schon; und heut haben wir warme Luft und lustig Wasser, da kann sie’s tanzen sehen.«
Und Elke lief ins Haus und holte noch ein Tüchlein und ein Käppchen für ihr Kind. »Aber es gibt ein Wetter«, sagte sie; »macht, daß ihr fortkommt, und seid bald wieder hier!«
Hauke lachte: »Das soll uns nicht zu fassen kriegen!« und hob das Kind zu sich auf den Sattel. Frau Elke blieb noch eine Weile auf der Werfte und sah, mit der Hand ihre Augen beschattend, die beiden auf den Weg und nach dem Deich hinübertraben; Trin’ Jans saß auf dem Stein und murmelte Unverständliches mit ihren welken Lippen.
Das Kind lag regungslos im Arm des Vaters; es war, als atme es beklommen unter dem Druck der Gewitterluft; er neigte den Kopf zu ihr. »Nun, Wienke?« frug er.
Das Kind sah ihn eine Weile an. »Vater«, sagte es, »du kannst das doch! Kannst du nicht alles?«
»Was soll ich können, Wienke?«
Aber sie schwieg; sie schien die eigene Frage nicht verstanden zu haben.
Es war Hochflut; als sie auf den Deich hinaufkamen, schlug der Widerschein der Sonne von dem weiten Wasser ihr in die Augen, ein Wirbelwind trieb die Wellen strudelnd in die Höhe, und neue kamen heran und schlugen klatschend gegen den Strand; da klammerte sie ihre Händchen angstvoll um die Faust ihres Vaters, die den Zügel führte, daß der Schimmel mit einem Satz zur Seite fuhr. Die blaßblauen Augen sahen in wirrem Schreck zu Hauke auf »Das Wasser, Vater! das Wasser!« rief sie.
Aber er löste sich sanft und sagte: »Still, Kind, du bist bei deinem Vater; das Wasser tut dir nichts!«
Sie strich sich das fahlblonde Haar aus der Stirn und wagte es wieder, auf die See hinauszusehen. »Es tut mir nichts«, sagte sie zitternd; »nein, sag, daß es uns nichts tun soll; du kannst das, und dann tut es uns auch nichts!«
»Nicht ich kann das, Kind«, entgegnete Hauke ernst: »aber der Deich, auf dem wir reiten, der schützt uns, und den hat dein Vater ausgedacht und bauen lassen.«
Ihre Augen gingen wider ihn, als ob sie das nicht ganz verstünde, dann barg sie ihr auffallend kleines Köpfchen in dem weiten Rocke ihres Vaters.
»Warum versteckst du dich, Wienke?« raunte der ihr zu; »ist dir noch immer bange?« Und ein zitterndes Stimmchen kam aus den Falten des Rockes: »Wienke will lieber nicht sehen; aber du kannst doch alles, Vater?«
Ein ferner Donner rollte gegen den Wind herauf »Hoho?« rief Hauke, »da kommt es!« und wandte sein Pferd zur Rückkehr. »Nun wollen wir heim zur Mutter!«
Das Kind tat einen tiefen Atemzug; aber erst als sie die Werfte und das Haus erreicht hatten, hob es das Köpfchen von seines Vaters Brust. Als dann Frau Elke ihr im Zimmer das Tüchelchen und die Kapuze abgenommen hatte, blieb sie wie ein kleiner stummer Kegel vor der Mutter stehen. »Nun, Wienke«, sagte diese und schüttelte sie leise, »magst du das große Wasser leiden?«
Aber das Kind riß die Augen auf »Es spricht«, sagte sie; »Wienke ist bange!«
– »Es spricht nicht; es rauscht und toset nur!«
Das Kind sah ins Weite. »Hat es Beine?« frug es wieder; »kann es über den Deich kommen?«
– »Nein, Wienke; dafür paßt dein Vater auf, er ist der Deichgraf«
»Ja«, sagte das Kind und klatschte mit blödem Lächeln in seine Händchen; »Vater kann alles – alles!« Dann plötzlich, sich von der Mutter abwendend, rief sie: »Laß Wienke zu Trin’ Jans, die hat rote Äpfel!«
Und Elke öffnete die Tür und ließ das Kind hinaus. Als sie dieselbe wieder geschlossen hatte, schlug sie mit einem Ausdruck des tiefsten Grams die Augen zu ihrem Manne auf, aus denen ihm sonst nur Trost und Mut zu Hülfe gekommen war.
Er reichte ihr die Hand und drückte sie, als ob es zwischen ihnen keines weiteren Wortes bedürfe; sie aber sagte leis: »Nein, Hauke, laß mich sprechen: das Kind, das ich nach Jahren dir geboren habe, es wird für immer ein Kind bleiben. O lieber Gott! es ist schwachsinnig; ich muß es einmal vor dir sagen.«
»Ich wußte es längst«, sagte Hauke und hielt die Hand seines Weibes fest, die sie ihm entziehen wollte.
»So sind wir denn doch allein geblieben«, sprach sie wieder.
Aber Hauke schüttelte den Kopf. »Ich hab sie lieb, und sie schlägt ihre Ärmchen um mich und drückt sich fest an meine Brust; um alle Schätze wollt ich das nicht missen!«
Die Frau sah finster vor sich hin. »Aber warum?« sprach sie; »was hab ich arme Mutter denn verschuldet?«
– »Ja, Elke, das hab ich freilich auch gefragt, den, der allein es wissen kann, aber du weißt ja auch, der Allmächtige gibt den Menschen keine Antwort – vielleicht, weil wir sie nicht begreifen würden.«
Er hatte auch die andere Hand seines Weibes gefaßt und zog sie sanft zu sich heran. »Laß dich nicht irren, dein Kind, wie du es tust, zu lieben; sei sicher, das versteht es!«
Da warf sich Elke an ihres Mannes Brust und weinte sich satt und war mit ihrem Leid nicht mehr allein. Dann plötzlich lächelte sie ihn an; nach einem heftigen Händedruck lief sie hinaus und holte sich ihr Kind aus der Kammer der alten Trin’ Jans und nahm es auf ihren Schoß und hätschelte und küßte es, bis es stammelnd sagte: »Mutter, mein liebe Mutter!«
So lebten die Menschen auf dem Deichgrafshofe still beisammen; wäre das Kind nicht dagewesen, es hätte viel gefehlt.
Allmählich verfloß der Sommer; die Zugvögel waren durchgezogen, die Luft wurde leer vom Gesang der Lerchen; nur vor den Scheunen, wo sie beim Dreschen Körner pickten, hörte man hie und da einige kreischend davonfliegen; schon war alles hart gefroren. In der Küche des Haupthauses saß eines Nachmittags die alte Trin’ Jans auf der Holzstufe einer Treppe, die neben dem Feuerherd nach dem Boden lief Es war in den letzten Wochen, als sei sie aufgelebt; sie kam jetzt gern einmal in die Küche und sah Frau Elke hier hantieren; es war keine Rede mehr davon, daß ihre Beine sie nicht hätten dahin tragen können, seit eines Tages klein Wienke sie an der Schürze hier heraufgezogen hatte. Jetzt kniete das Kind an ihrer Seite und sah mit seinen stillen Augen in die Flammen, die aus dem Herdloch aufflackerten; ihr eines Händchen klammerte sich an den Ärmel der Alten, das andere lag in ihrem eigenen fahlblonden Haar. Trin’ Jans erzählte. »Du weißt«, sagte sie, »ich stand in Dienst bei deinem Urgroßvater, als Hausmagd, und dann mußt ich die Schweine füttern; der war klüger als sie alle – da war es, es ist grausam lange her, aber eines Abends, der Mond schien, da ließen sie die Haffschleuse schließen, und sie konnte nicht wieder zurück in See. Oh, wie sie schrie und mit ihren Fischhänden sich ihre harten struppigen Haare griff! Ja, Kind, ich sah es und hörte sie selber schreien! Die Gräben zwischen den Fennen waren alle voll Wasser,