Gesammelte Werke. Джек ЛондонЧитать онлайн книгу.
sie die Freude an der Zähmung wilder Geschöpfe. Das war ganz unbewußt. Und am allerwenigsten dachte sie, daß sie ihn nach dem Bilde ihres Vaters umzuschaffen wünschte, dem Bilde, das sie für das schönste in der Welt ansah. Und es gab nichts, das ihr in ihrer Unwissenheit half und sie lehren konnte, daß das Gefühl, das er in ihr erweckte, dasselbe war, das der Weltordnung zugrunde lag, die Liebe, die in der ganzen Welt Mann und Weib zueinander zog, die Hirsche in der Brunstzeit zwang, einander zu töten, und die mit unwiderstehlicher Macht die Elemente selbst zur Vereinigung trieb.
Seine schnelle Entwicklung war ihr eine Quelle der Überraschung und des Interesses. Sie entdeckte ungeahnte Feinheiten in ihm, die sich Tag für Tag, wie Blumen in gutem Boden, zu entfalten schienen. Sie las ihm Browning vor und war oft erstaunt, wie eigenartig er strittige Stellen erklärte. Es ging über ihr Verständnis, daß seine auf Menschenkenntnis beruhende Deutung im Gegensatz zu der ihrigen oft die richtige war. Seine Ideen erschienen ihr naiv, obwohl sie sich oft vom kühnen Fluge seines Verständnisses mitreißen ließ, der ihn bis in die Wolken hob, wohin sie ihm nicht zu folgen vermochte. Dann zitterte sie unter dem Gefühl einer ungeahnten Macht. Wenn sie ihm vorspielte und sein musikalisches Gefühl prüfte, fand sie, daß es weit tiefer ging, als sie mit dem ihren loten konnte. Sein Wesen öffnete sich der Musik wie eine Blume der Sonne, und er gelangte rasch von der Tanzmusik der Arbeiter zu den klassischen Stücken, die sie fast auswendig konnte. Aber er zeigte eine demokratische Vorliebe für Wagner, und als sie ihm erst den Schlüssel zum Verständnis der »Tannhäuser-Ouvertüre« gegeben hatte, machte dieses Stück auf ihn einen Eindruck wie keines sonst, das sie spielte. Es schien ganz unmittelbar seinem eigenen Leben zu entsprechen. Seine ganze Vergangenheit war das Venusbergmotiv, während sie mit dem Pilgerchormotiv verschmolz, und die gehobene Stimmung, in die ihn dies versetzte, hob ihn immer höher in dem mächtigen Schattenreich des suchenden Menschengeistes, wo Gut und Böse ewige Werte sind. Zuweilen stellte er Fragen, die vorübergehend in ihrer Seele Zweifel erregten, ob ihre Deutung und Auffassung der Musik auch richtig war. Nie aber stellte er Fragen bezüglich ihres Gesanges. Der war zu sehr sie selber, und er war immer wieder bezaubert von dem göttlichen Klang ihres reinen Soprans. Er konnte es nicht lassen, ihn mit dem schwachen Trällern und ungeübten Schrillen der Fabrikarbeiterinnen oder mit dem heiseren Kreischen aus den branntweingedörrten Kehlen der Weiber in den Hafenstädten zu vergleichen. Sie freute sich, wenn sie ihm vorspielen und vorsingen konnte. Es war tatsächlich das erstemal, daß sie Gelegenheit hatte, eine Menschenseele zu formen, und sie arbeitete mit Entzücken in dem weichen Ton, denn sie fühlte sich als Bildhauer und meinte es gut. Im übrigen war das Zusammensein mit ihm beglückend für sie. Er stieß sie nicht ab. Das erste Gefühl des Abscheus war in Wirklichkeit nur die Angst vor ihrem eigenen, bisher unbekannten Ich gewesen, und diese Furcht hatte sich jetzt gelegt. Obwohl sie sich dessen nicht bewußt war, enthielt ihr Gefühl für ihn eine Art Besitzerrecht. Dazu übte er eine kräftigende Wirkung auf sie aus. Ihr Studium war sehr anstrengend, und ihr war gleichsam, als ob sie neue Kräfte erhielte, wenn sie die staubigen Bücher beiseiteschob und sich von der frischen Seeluft, die seinem Wesen entströmte, anwehen ließ. Kraft! Kraft war es, was sie brauchte, und die gab er ihr in reichem Maße. In die Stube zu treten, wo er sich befand, ihm in der Tür zu begegnen, hieß für sie Erhöhung des Lebensmuts. Und wenn er gegangen war, kehrte sie mit größerem Eifer und frischer Energie an ihre Bücher zurück. Sie kannte zwar ihren Browning, hatte aber nie gehört, daß es gefährlich war, mit Seelen zu spielen. Als ihr Interesse für Martin wuchs, wurde sie von einer reinen Leidenschaft erfaßt, sein Leben umzuformen.
»Sehen Sie Herrn Butler«, sagte sie eines Nachmittags, als sie mit Grammatik, Arithmetik und Poesie fertig waren. »Seine Bedingungen fürs Vorwärtskommen waren ursprünglich sehr schlecht. Sein Vater war Bankkassierer gewesen, mußte aber viele Jahre wegen eines Lungenleidens in Arizona leben, und als er starb, stand Butler – Charles Butler heißt er – allein in der Welt. Sein Vater war aus Australien gekommen, und er hatte daher keine Verwandten in Kalifornien. Er ließ sich in einer Buchdruckerei anstellen – das habe ich ihn oft erzählen hören – und bekam anfangs drei Dollar die Woche. Jetzt hat er ein jährliches Einkommen von mindestens dreißigtausend. Wie er es machte? Er war ehrlich, treu, fleißig und sparsam. Er versagte sich die Freuden, die die meisten Knaben haben. Er machte es sich zur Regel, jede Woche soundso viel beiseitezulegen, einerlei, was er deswegen entbehren mußte. Natürlich verdiente er bald mehr als drei Dollar wöchentlich, und je größer sein Lohn wurde, desto mehr sparte er.
Er arbeitete am Tage, und abends besuchte er die Abendschule. Er hatte den Blick stets auf die Zukunft gerichtet. Mit siebzehn Jahren verdiente er ausgezeichnet als Setzer, aber er war ehrgeizig. Er wollte Karriere machen, nicht nur sein tägliches Brot verdienen, und er fürchtete sich nicht davor, im Augenblick Opfer zu bringen, um schließlich zu gewinnen. Er entschloß sich für Jura und kam als Bote – denken Sie – in Vaters Bureau für einen Wochenlohn von vier Dollar. Aber er hatte gelernt, sparsam zu sein, und von den vier Dollar sparte er weiter.«
Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen und die Wirkung auf Martin zu sehen. Er hörte mit großem Interesse diese Geschichte von den Beschwerlichkeiten, mit denen Herr Butler in seiner Jugend zu kämpfen gehabt hatte, aber irgend etwas darin erregte seinen Unwillen.
»Es muß natürlich hart für so einen jungen Kerl sein«, bemerkte er. »Vier Dollar wöchentlich. Wie konnte er davon leben? Sie können sich darauf verlassen, daß er keine großen Sprünge machen konnte. Ich selbst bezahle fünf Dollar wöchentlich für Kost und Logis, und Sie können Gift darauf nehmen, daß nicht viel los damit ist. Sein Essen –«
»Er kochte selbst,« unterbrach sie ihn, »auf einem kleinen Petroleumkocher.«
»Sein Essen muß schlimmer gewesen sein als das, was die Leute auf dem ärgsten Hochseeschiff kriegen; kaum auszudenken.«
»Aber sehen Sie sich ihn jetzt an!« rief sie begeistert. »Denken Sie, was er verdient! Jetzt kann er ja tausendfach Ersatz für das haben, was er sich in früheren Jahren versagt hat.«
Martin warf ihr einen hastigen Blick zu.
»Auf eines möchte ich schwören,« sagte er, »nämlich, daß Herr Butler jetzt, da es ihm gut geht, nicht besonders heiter ist. Wenn er einem Knabenmagen jahrein jahraus eine solche Kost bot, so möchte ich darauf wetten, daß sein Magen jetzt nicht mehr besonders gut ist.«
Unter seinem forschenden Blick schlug sie die Augen nieder.
»Ich möchte darauf wetten, daß er jetzt einen ganz schlechten Magen hat!« sagte Martin herausfordernd.
»Ja, das hat er«, räumte sie ein. »Aber –«
»Und ich möchte wetten,« fuhr Martin fort, »daß er feierlich und ernst wie eine alte Eule ist. Und daß er trotz seiner Dreißigtausend jährlich ein Duckmäuser ist. Und ich möchte wetten, daß er sich auch nicht freut, wenn er andere sich amüsieren sieht. Habe ich recht?«
Sie nickte zustimmend und erklärte schnell weiter.
»Aber er ist eben ein ganz anderer Mensch. Er ist von Natur aus nüchtern und ernst. Das ist er immer gewesen.«
»Ja, sicher!« stellte Martin fest. »Drei Dollar wöchentlich, vier Dollar wöchentlich, ein junger Bengel, der sich sein Essen selbst auf einem Petroleumkocher macht und Geld spart, den ganzen Tag arbeitet, den ganzen Abend studiert – nur arbeitet, nie spielt oder mal über die Stränge schlägt – da kommen die Dreißigtausend natürlich zu spät.«
Seine Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer zu versetzen, ließ ihn sofort die Tausende von Einzelheiten im Dasein des Knaben und seine enge geistige Entwicklung zum Manne mit dreißigtausend Dollar jährlich sehen.
»Wissen Sie,« fügte er hinzu, »mir tut Herr Butler leid. Er war zu jung, um es besser zu wissen, aber er hat sich selbst um sein Leben betrogen, nur um dreißigtausend Dollar jährlich zu haben, die an ihn weggeschmissen sind. Jetzt könnten ihm dreißigtausend auf einem Brett nicht verschaffen, was die zehn Cent, die er beiseitelegte, ihm hätten verschaffen können, als er noch jung war – also etwa Brustbonbons, Erdnüsse oder ein Billett für die Galerie.«
Diese selbständigen Gesichtspunkte waren es gerade, die Ruth erschreckten. Nicht nur, daß sie neu für sie waren