Gesammelte Werke. Джек ЛондонЧитать онлайн книгу.
vernünftig und umgänglich, und da er jetzt ruhig ist, wird er nicht leugnen, daß er mir gestern an den Kragen wollte."
Ich wollte vor Wut ersticken, und meine Augen schossen Blitze.
„Schauen Sie ihn jetzt an", fuhr er fort. „Er kann sich kaum in Ihrer Gegenwart beherrschen. Er dürfte nicht gewohnt sein, sich in Gesellschaft von Damen zu bewegen. Ich werde mich bewaffnen müssen, ehe ich wagen kann, mit ihm an Deck zu gehen." Er schüttelte traurig den Kopf und murmelte: „Schlimm, schlimm!", während die Jäger in schallendes Gelächter ausbrachen.
Die rauhen Stimmen dieser Seebären hallten polternd und brüllend in dem engen Raum wider und hatten eine merkwürdige Wirkung. Die ganze Umgebung war wild und unheimlich, und als ich nun diese fremde Frau betrachtete und mir vorstellte, wie wenig sie hier hereinpaßte, wurde mir zum erstenmal klar, wie sehr ich dieser Umgebung selbst schon angehörte.
Ich kannte diese Männer und ihr Seelenleben, ich war einer der ihren, lebte das Leben, aß die Kost und dachte die Gedanken der Robbenfänger. Für mich war nichts Merkwürdiges mehr an ihren rauhen Kleidern, ihren gemeinen Gesichtern, dem wilden Gelächter, an den schwankenden Kajütenwänden oder den schwingenden Schiffslampen.
Als ich mir ein Stück Butterbrot schmierte, fiel mein Blick zufällig auf meine Hände. Die Knöchel waren aufgeschürft und entzündet, die Finger geschwollen, die Nägel schwarzrandig. Ich fühlte die dichten Bartstoppeln auf meinem Halse und wußte, daß ein Ärmel meiner Jacke zerrissen war und ein Knopf an meinem blauen Hemd fehlte. Das Messer, das Wolf Larsen erwähnt hatte, hing in einer Scheide an meiner Hüfte. Es war sehr natürlich, daß es dort hing - wie natürlich, war mir nicht aufgefallen, bis ich es jetzt mit ihren Augen ansah und mir bewußt wurde, wie seltsam ihr dies und alles andere vorkommen mußte.
Aber sie erriet den Spott in Wolf Larsens Worten und sandte mir einen mitleidigen Blick zu. Gleichzeitig las ich jedoch Bestürzung in ihren Augen. Seine Neckereien machten die Situation nur noch verwirrender für sie.
„Ein vorbeifahrendes Schiff kann mich vielleicht aufnehmen", schlug sie vor.
„Es gibt keine vorbeifahrenden Schiffe außer anderen Robbenschonern", gab Wolf Larsen zur Antwort.
„Ich habe keine Kleider, nichts", wandte sie ein. „Sie denken sicher nicht daran, daß ich kein Mann und das unstete Leben, das Sie und Ihre Leute führen, nicht gewohnt bin."
„Je eher Sie sich daran gewöhnen, desto besser", sagte er. „Ich werde Sie mit Stoff, Nadel und Faden versehen", fügte er hinzu. „Ich hoffe, es wird Ihnen nicht allzuviel Mühe machen, sich ein oder zwei Kleider zu nähen."
Sie verzog den Mund, um ihre Unerfahrenheit im Schneidern kundzutun. Daß sie ängstlich und verwirrt war und tapfer versuchte, es zu verbergen, war mir ganz klar.
„Ich nehme an, daß Sie ebenso wie Herr van Weyden dort gewohnt sind, alles durch andere für sich tun zu lassen. Nun, ich denke, Ihnen wird kein Stein aus der Krone fallen, wenn Sie einmal selbst etwas für sich tun müssen. Womit erwerben Sie sich übrigens Ihren Unterhalt?"
Sie sah ihn mit unverhohlenem Erstaunen an.
„Ich will Sie nicht beleidigen, glauben Sie mir. Man ißt, daher muß man arbeiten. Diese Männer hier schießen Robben, um zu leben; aus demselben Grunde führe ich diesen Schoner, und Herr van Weyden verdient sich, wenigstens jetzt, sein Brot, indem er mir hilft. Nun, und was tun Sie?" Sie zuckte die Achseln. „Ernähren Sie sich selbst, oder werden Sie durch andere ernährt?"
„Ich fürchte, den größten Teil meines Lebens hat mich ein anderer ernährt", lachte sie, indem sie einen tapferen Versuch machte, auf den neckischen Ton von Wolf Larsen einzugehen, obgleich ich wachsendes Entsetzen in ihren Augen aufsteigen sah.
„Ich nehme an, daß ein anderer auch das Bett für Sie macht?"
„Ich habe mir mein Bett gemacht", erwiderte sie.
„Oft?"
Sie schüttelte den Kopf mit verstellter Reue.
„Wissen Sie, was man in den Staaten mit Armen tut, die wie Sie nicht für ihren Unterhalt arbeiten?"
„Ich bin sehr unwissend", erwiderte sie, „was tut man mit meinesgleichen?"
„Man sperrt sie ein. Das Verbrechen, seinen Lebensunterhalt nicht zu verdienen, wird Landstreicherei genannt. Wäre ich Herr van Weyden, der sich andauernd mit der Frage beschäftigt, was Recht und Unrecht ist, so würde ich fragen, mit welchem Recht Sie leben, wenn Sie nichts tun, um Ihren Unterhalt zu verdienen."
„Da Sie aber nicht Herr van Weyden sind, brauche ich Ihnen nicht zu antworten, nicht wahr?"
Sie sandte ihm aus ihren angstvollen Augen einen strahlenden Blick, der so rührend war, daß es mir ins Herz schnitt. Ich mußte irgendwie versuchen, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
„Haben Sie je einen Dollar durch eigene Arbeit verdient?" fragte er triumphierend, im voraus seiner Sache sicher.
„Ja, das habe ich", antwortete sie, und ich hätte fast über sein verlegenes Gesicht lachen können. „Ich erinnere mich, daß mein Vater mir einmal, als ich ein kleines Mädchen war, einen Dollar gab, damit ich fünf Minuten lang still war." Er lächelte nachsichtig.
„Aber das ist lange her", fuhr sie fort. „Und Sie werden wohl kaum verlangen, daß ein neunjähriges Mädchen sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient. Gegenwärtig aber", fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „verdiene ich ungefähr achtzehnhundert Dollar jährlich."
Alle Augen hoben sich auf einmal von den Tellern und hefteten sich auf sie. Eine Frau, die achtzehnhundert Dollar jährlich verdiente, war wert, angeschaut zu werden. Wolf Larsen verhehlte seine Bewunderung nicht: „Gehalt oder Akkordarbeit?"
„Akkordarbeit", antwortete sie rasch. „Achtzehnhundert", rechnete er. „Das macht hundertfünfzig monatlich. Nun, Fräulein Brewster, wir sind nicht kleinlich auf der Ghost. Betrachten Sie sich für die Dauer Ihres Aufenthalts mit demselben Gehalt angestellt."
Sie sagte nichts. Sie war seine Einfälle noch nicht so gewohnt, daß sie sie mit Gleichmut hingenommen hätte.
„Ich vergaß zu fragen", fuhr er liebenswürdig fort, „welcher Art Ihre Beschäftigung ist. Was für Werkzeuge und Material brauchen Sie?"
„Papier und Tinte", lachte sie. „Ach, und auch eine Schreibmaschine. "
„Sie sind Fräulein Maud Brewster", sagte ich langsam und sicher, als beschuldigte ich sie eines Verbrechens.
Ihre Augen hoben sich neugierig zu den meinen: „Woher wissen Sie das?"
„Stimmt es nicht?" fragte ich.
Sie nickte zustimmend. Jetzt war die Reihe, verblüfft zu sein, an Wolf Larsen. Ihm bedeutete der Name nichts. Ich war stolz darauf, daß er mir etwas bedeutete, und zum erstenmal seit langer Zeit wurde ich mir meiner Überlegenheit über ihn bewußt.
„Ich erinnere mich, eine Besprechung über ein kleines Buch geschrieben zu haben -", begann ich, aber sie unterbrach mich.
„Sie!" rief sie. „Sie sind -" Jetzt nickte ich meinerseits zustimmend. „Humphrey van Weyden!" schloß sie - dann fügte sie mit einem Seufzer der Erleichterung hinzu, ohne daran zu denken, daß Wolf Larsen ihn bemerken mußte: „Wie mich das freut! Ich entsinne mich recht wohl der Besprechung", fuhr sie fort, als sie sich bewußt wurde, wie seltsam ihre Bemerkung wirken mußte. „Sie war wirklich zu schmeichelhaft."
„Keineswegs", verneinte ich schnell. „Sie setzen meine nüchterne Urteilskraft herab und entwerten meine Kritik. Im übrigen stimmen alle Kritiker mit mir überein. Hat Lang nicht ein Gedicht von Ihnen zu den vier größten Sonetten gezählt, die von Frauen in englischer Sprache geschrieben worden sind?"
„Sie sind sehr freundlich", murmelte sie, und gerade das Konventionelle ihrer Worte und der ganze Schwarm von Vorstellungen des früheren Lebens auf der andern Seite der Welt durchzuckten mich - reich an Erinnerungen, aber auch stechend vor Heimweh.
„Also