Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
sann einen Augenblick nach.
»Bringen Sie mir jetzt ein Glas Portwein, – ein großes Glas,« fügte er hinzu. Er wollte den Jungen durch fortgesetztes Ausfragen nicht mißtrauisch machen.
Als dieser dann nach einer Weile mit elegantem Schwung den Wein auf den Tisch stellte, bemerkte Dreßler, indem er dabei gleichgültig zum Fenster auf die Straße hinausblickte:
»Sie müssen hier wohl immer recht lange aufbleiben. Der letzte Zug trifft doch erst gegen ein Uhr ein und bringt doch sicher häufig genug noch Gäste.«
»Selten, mein Herr, selten,« belehrte der Pikkolo. »Allerdings müssen wir stets die Ankunft unseres Hotelwagens abwarten. Aber meist kommt er leer. Der Nachtzug liegt zu ungünstig.«
»So, so. Na, jedenfalls sind Sie aber gestern spät ins Bett gekommen. Sie sehen noch recht müde aus,« lächelte Dreßler wohlwollend.
»Gestern hatten wir aber auch noch mit dem letzten Zug einen Gast. Er bestellte ein Schnitzel, und ich mußte warten, bis er abgegessen hatte. – Richtig, jetzt besinne ich mich, – vielleicht interessiert das den Herrn –, dieser Gast von Nr. 2 ist ebenfalls ein Bekannter von Herrn Dräger, wie er mir sagte, als ich ihn unsere jetzigen Gäste auf seine Bitte hin beschrieb. Ich soll aber Herrn Dräger nichts erzählen, da der Gast von Nr. 2 ihn gern persönlich überraschen möchte.«
Dreßler hatte sofort erkannt, wer einzig und allein dieser in der Nacht eingetroffene Gast gewesen sein könne. Bisher war es ihm noch völlig unklar geblieben, ob Durgassow von einer einzelnen oder von mehreren Personen verfolgt wurde, trotzdem er von Anfang an mehr der Ansicht zugeneigt hatte, daß ein Mann allein wohl kaum diese hartnäckige Hetzjagd unternommen haben würde. Nunmehr, da der rätselhafte Graue auch hier wieder ohne Begleiter erschienen war, zweifelte der Doktor nicht länger daran, es nur mit einem einzigen Gegner zu tun zu haben – mit demselben Manne, der das Wielandsche Haus bewacht, dem Jacob Wenzel vergeblich nachgespürt und der seinen gefährlichsten Feind durch Chloroform im Eisenbahnzuge zwischen Danzig und Dirschau unschädlich zu machen versucht hatte.
»Also überraschen will der Herr von Nr. 2 Herrn Dräger?« nahm Dreßler das Gespräch geschickt wieder auf. »Das möchte ich selbst nämlich auch. Wann steht Herr Dräger denn gewöhnlich auf?«
»Herr Dräger läßt sich stets um neun Uhr den Morgenkaffee bringen.«
»So – und hat Sie danach der Herr von Nr. 2 auch gefragt?«
»Jawohl. Und dann erkundigte er sich noch, wann der erste Zug von Berent wieder abginge.«
»Und wann ist das?«
»Um 8 Uhr 30 Minuten. Der Zug hat Anschluß nach Berlin.«
Dreßlers Hirn verarbeitete mit Blitzesschnelle das eben Gehörte und suchte daraus bestimmte Schlüsse auf die Absichten des Grauen zu ziehen. Aber trotz seiner durch langjährige praktische Betätigung geschärften Kombinationsgabe wollte ihm das nicht gelingen. Denn die Fragen, die der Verfolger Durgassows an den Kellnerlehrling gerichtet hatte, ließen in keiner Weise erkennen, wann und wo der Graue die fraglos geplante, entscheidende Unterredung mit Durgassow herbeiführen wollte, – eine Unterredung, der der Doktor, wenn irgend möglich, als heimlicher Zeuge beizuwohnen sich vorgenommen hatte. – Dreßler überlegte hin und her, ohne zu einem bestimmten Entschluß kommen zu können. Dabei verhehlte er sich jedoch nicht, daß die augenblickliche Situation ein schnelles Handeln unbedingt erforderte. Ein Zufall hatte gerade die drei Menschen, die in dem Falle Durgassow die Hauptrolle spielten, hier im Hamburger Hof zusammengeführt. Und jeden Moment konnte es geschehen, daß der Mann im grauen Pelerinenmantel das Gastzimmer betrat und ihn wiedererkannte, wodurch eine Aufklärung der mysteriösen Angelegenheit, wie der Doktor sie im Auge hatte, vielleicht für alle Zeiten vereitelt worden wäre.
Inzwischen war der Pikkolo, da der jetzt von seinen Gedanken völlig in Anspruch genommene Dreßler ihn nicht weiter beachtete, verschwunden. Der frühere Detektiv stand dabei auf und ging in das nebenanliegende Buffetzimmer, wo er dem dort mit Gläserspülen beschäftigten Kellnerlehrling erklärte, er wolle einmal zusehen, ob Herr Dräger vielleicht schon wach sei.
»Aber es ist doch erst 1/48,« meinte der Junge mit einem Blick auf den an der Wand hängenden Regulator. »Herr Dräger wird sicherlich noch schlafen.«
»Das macht nichts aus,« beruhigte Dreßler ihn. »Wir sind so gute Bekannte, daß Dräger mir’s nicht verargt, wenn ich ihn auch jetzt schon wecke.«
9. Kapitel
Wenige Minuten später stand Dreßler vor der Tür zu Nr. 6, nachdem er sich überzeugt hatte, daß das Zimmer Nr. 2, wo der Graue wohnte, im anderen Flügel des Hauses lag. Ohne Zögern klopfte er an, erst leise, dann immer stärker. Aber nichts rührte sich. Diese Stille kam ihm schließlich verdächtig vor. Sollte Durgassow vielleicht von der Ankunft seines Feindes zufällig etwas erfahren haben und abermals geflohen sein? – Unmöglich war das nicht.
Dreßler beugte sich jetzt zu dem Schlüsselloch herab und versuchte durch dieses einen Blick in das Zimmer zu werfen. Ein Schlüssel steckte nicht, das sah er auf den ersten Blick, und – fraglos brannte drinnen Licht, obwohl es draußen bereits taghell war.
Der Doktor legte jetzt kurz entschlossen die Hand auf den Türdrücker und versuchte zu öffnen. Die Tür war verschlossen. Nochmals rüttelte er an der Klinke mit aller Kraft und lauschte dann angestrengt. Alles blieb ruhig wie zuvor.
»Ich muß Gewißheit haben und zwar sofort,« murmelte Dreßler, den urplötzlich eine bange Ahnung von etwas Schrecklichem, das sich hier abgespielt hatte, befiel. Er eilte die Treppe wieder hinab und ließ durch den Pikkolo den Hotelbesitzer herbeirufen. In fliegender Hast berichtete er diesem, daß er vergeblich an Drägers Tür geklopft habe und daher vermute, seinem Bekannten sei irgend ein Unglück zugestoßen.
»Haben Sie vielleicht einen zweiten Schlüssel zu Nr. 6?« fragte er dann. »Im Schlüsselloch steckt nämlich keiner, und ich möchte auf jeden Fall ungesäumt nachsehen, was Herrn Dräger passiert ist.«
»Es sind zu allen Stuben doppelte Schlüssel vorhanden. Ich werde den richtigen sofort heraussuchen,« sagte der Hotelier diensteifrig, der dem bestimmten Auftreten Dreßlers gegenüber keine langen Einwendungen wagte, trotzdem ihm die ganze Sache mehr wie unangenehm war.
Als der Hotelbesitzer und Dreßler, – dieser als erster, das Zimmer Nr. 6 betraten, bemerkten sie zunächst nichts Auffälliges. Auf dem Tische vor dem zwischen den Fenstern stehenden Sofa brannte die Lampe, deren Schein den Hintergrund des großen Raumes nur schwach erleuchtete. Die Fenstervorhänge waren zugezogen und die Stabjalousien herabgelassen. Aber auch in diesem matten, ungewissen Licht erblickten die beiden Männer, als sie sich jetzt dem an der Seitenwand aufgestellten Bett nährten, in dessen Kissen ein bleiches Haupt, dessen glasige, weit offene Augen unheimlich starr zur Decke emporstierten.
Der Hotelier war bei diesem Anblick entsetzt zurückgeprallt. Dreßlers Nerven waren stärker. Er hatte Ähnliches in früheren Jahren oft genug gesehen. Jetzt war er nur noch Detektiv, nur noch Fachmann, der alle anderen Empfindungen unterdrücken mußte, um mit kühler Ruhe die weiteren Feststellungen, die die Sachlage hier erheischte, zu erledigen.
Mit der Lampe in der Hand schlug er das Deckbett zurück. Durgassow lag halb entkleidet auf dem Rücken, sein Hemd war auf der Brust mit Blut getränkt. Im Herzen aber steckte ein Dolch mit langem, gebogenem Griff.
Dreßler wußte genug.
»Schicken Sie sofort nach der Polizei!« befahl er kurz dem Hotelbesitzer. »Am besten ist, Sie gehen selbst und benachrichtigen die Behörde. Und – sprechen Sie sonst zu niemandem über das Vorgefallene. Es handelt sich hier fraglos um einen Mord.«
Als es etwa fünf Minuten nachher an die Tür von Nr. 2 klopfte, war Albert Wenzel bereits fix und fertig angezogen. Ahnungslos öffnete er, da er den Kellner mit dem Frühstück vermutete, das er sich für 1/28 bestellt hatte.