Reisen mit leichtem Gepäck. Tove JanssonЧитать онлайн книгу.
»Leute kommen und Leute gehen«, sagte Hanna. »Reg dich nicht auf. Alles hat seine Zeit, und dann kommt eine andere Zeit.«
Das Lästige war, dass Elis seine Fakten auf unwiderlegbare Statistik stützen konnte. Immer, wenn die Nachrichten kamen, klebte er am Radio und nahm neues Elend in sich auf oder bekam das alte bestätigt. Die Nachrichten waren die einzige Sendung, für die er sich interessierte. Aber mitunter kam es vor, dass er reale Katastrophen mit eigenen Fantasien vermischte, Fantasien, die sich so tief in die schrecklichen Möglichkeiten der Zukunft hineinbohrten, dass Tom weder aus noch ein wusste.
Wie dem auch sei, kaum hatte man Elis in der Nähe, war man sofort aufs Schlimmste gefasst – wie zum Beispiel diese Sache mit Großmutter, die in der Stadt als Pflegefall im Krankenhaus lag. Elis kam plötzlich angestürzt und verkündete: »Sie ist eben gestorben!« Aber es ging gar nicht um Großmutter, sondern um eine Krähe mit nur einem Bein, oh weh, die seit einer Woche bei Elis wohnte.
Als Hanna eines Tages den Bus nehmen wollte, um Großmutter zu besuchen, bat Elis darum, sie begleiten zu dürfen. Hanna sagte sich, warum nicht, Elis sei zwar ein Sorgenkind, aber mit starkem Mitgefühl für alle, die es schwerhatten.
Der Besuch wurde nicht wiederholt. Großmutter mochte es nicht, Elis seufzend und stöhnend neben sich zu haben, er schüttelte traurig den Kopf, er drückte ihre Hand wie zu einem letzten Lebewohl, und als er kurz ins Freie ging, sagte sie sehr verärgert: »Was hast du denn da für ein unausstehliches Kind angeschleppt?«
Es ließ sich nicht leugnen, dass alle in der Familie von dem Ferienkind beeinflusst wurden, ja, fast ein bisschen Angst vor ihm hatten. Nach dem Essen genehmigte Axel sich keine Pfeife mehr, sondern stapfte sofort zum Bootsschuppen, er war einsilbig geworden, und eines Tages, als Elis ihn über sein Jahreseinkommen und seine politischen Ansichten verhörte, verließ er mitten in der Fischsuppe die Küche. Die kleine Mia in ihrer kindlichen Unschuld begriff zwar nichts von dem Ganzen, aber sie spürte die Veränderung und wurde weinerlich und schwierig. Was Oswald betraf, war er unverhohlen eifersüchtig. Tom hatte keine Zeit mehr für ihn, und wenn sie ein seltenes Mal beim Fischen waren, lief das nicht mehr auf die alte gemütliche Art, die kameradschaftlich und ruhig gewesen war. Oswald entwickelte eine mörderische Ironie: »Willst du tatsächlich diesen armen kleinen Dorsch erschlagen?« Oder: »Oh, wie viele Leichen haben wir heute denn in den Netzen?« Und so weiter. Alles war ein einziges Elend.
Es war Axel und Hanna klar, dass sie Tom mit dem Ferienkind zu viel aufgebürdet hatten, aber was blieb ihnen anderes übrig, sie hatten mit den Notwendigkeiten des Alltags alle Hände voll, da mussten die Kinder so gut es ging auf eigene Faust klarkommen.
Einmal sagte Axel: »Tom, das mit dem Holzstapeln kannst du heute lassen, pass lieber auf Elis auf.«
»Ich mach lieber mit dem Holz weiter«, antwortete Tom. »Aber da ist er ja auch dabei, also macht es keinen Unterschied.«
»Du machst das so, wie du willst«, versetzte Axel Fredrikson hilflos und entfernte sich, drehte sich aber dann noch einmal um und sagte: »Das alles tut mir leid.«
Da glaubt man, man würde sich um ein bedauernswertes fremdes Kind kümmern, aber nein – man hat einen unerbittlichen Beobachter auf den Hals bekommen, der einen unentwegt an die Schlechtigkeit und das Elend der Welt erinnert. Erzogen diese Städter ihre Kinder womöglich dazu, misstrauisch zu werden, beladen mit einem Gewissen, für dessen Last sie zu jung waren und das sie noch nicht verstehen konnten? Axel besprach das mit seiner Frau, und sie meinte, damit könne er recht haben. Der Junge brauche etwas Abwechslung. Wie wäre es, mit den Kindern eine Bootsfahrt zu unternehmen, wo das Wetter jetzt doch so ruhig und schön sei – Hanna könne derweil in Lovisa einen Verwandtenbesuch machen, und Axel müsse ja ohnehin Gasflaschen zu den Leuchttürmen hinausbringen. Das sei eine gute Idee, fand Axel, genau an diesem Morgen hatte die Küstenwache angerufen, das Leuchtfeuer von Västerbåda sei ausgegangen. Er machte sich daran, Benzin aufzufüllen und die Gasflaschen zu verstauen, und Hanna nahm den Proviant in Angriff.
Elis war sehr aufgeregt, er klopfte immer wieder ans Barometer, weil er fürchtete, es könne Sturm geben, und erkundigte sich mehrmals nach den Leuchtturminseln, waren das tatsächlich richtige Inseln, also wirklich ganz kleine?
»Klein wie Fliegenschisse«, sagte Tom. »Und warum ist das so wichtig?«
Elis antwortete ernsthaft, er habe einmal eine Erzählung gelesen, die hieß ›Die Insel der Seligen‹, und diese Insel sei sehr klein gewesen.
»Aha«, versetzte Tom. »Komm jetzt, Papa wartet.«
»Auf ins Boot mit euch!«, rief Axel. »Jetzt fahren wir in den Urlaub und lassen alle Sorgen hinter uns!«
Alle vier Kinder saßen im Boot. Hanna stand auf dem Steg und winkte ihnen zum Abschied, als das Boot Fahrt aufnahm und hinaussteuerte. Es war ein strahlender, milder Tag, die hohen Haufenwolken spiegelten sich im Meer, und den Horizont gab es gar nicht. Elis hing an der Reling und hielt Ausschau nach Inseln, manchmal wandte er den Kopf und grinste Tom an, er sah tatsächlich aus, als würde es ihm ausnahmsweise einmal gutgehen.
Du nimmst dir also frei, du Mistkerl, dachte Tom, jetzt gerade hast du vergessen, dass die Welt untergehen wird, und interessierst dich nur für dich selbst.
Eine bittere Welle aus Gekränktheit stieg in ihm hoch, und er beschloss, auf der ganzen Fahrt hinaus und wieder zurück keine Spur von Interesse zu zeigen.
Der erste Leuchtturm war auf einer sehr niedrigen Schäre errichtet, auf deren Mitte sich ein windzerzauster Schopf aus Gestrüpp befand. Als sie anlegten, flogen Möwen hoch und kreisten schreiend über der Insel. Axel hievte die Reserveflaschen an Land und zog sie über den Felsen zum Leuchtturm hinauf.
Zuerst stand Elis nur da, steif wie ein Stock, und guckte, dann schoss er los und raste in das struppige Wäldchen hinauf und wieder herunter, die Eiderenten flatterten mit großem Getöse aus ihren Nestern, doch das merkte er kaum, er rannte hin und her, rief laut und warf sich schließlich der Länge nach ins Krähenbeerkraut.
»Der ist verrückt, das hab ich dir doch gesagt«, sagte Oswald verächtlich. »Und so einen lässt du von morgens bis abends hinter dir herrennen. Da hast du dir einen feinen Freund zugelegt.«
Tom ging langsam zu Elis hin, der ausgestreckt dalag, an den Himmel schaute und ganz unverschämt zufrieden wirkte.
Elis sagte: »Ich bin bisher noch nie auf einer richtigen Insel gewesen, auf einer, die wie eine Insel aussieht. Die hier ist so klein, dass sie mir selbst gehören könnte.«
»Was du daherredest«, sagte Tom. »Übrigens gehört sie auch den Eiderenten.« Damit ging er wieder.
Als Axel zurückkam, um zum nächsten Leuchtfeuer weiterzufahren, wollte Elis nicht mitkommen. »Ich bleibe hier«, teilte er mit. »Diese Insel gefällt mir.«
»Aber wir bleiben vielleicht mehrere Stunden weg«, wandte Axel ein. »Wie müssen zu Leuchttürmen, die weit draußen liegen. Und dort ist es viel schöner, hohe Felsen und alles Mögliche, was dir gefallen könnte.«
»Das macht nichts«, sagte Elis. »Ihr könnt ruhig fahren. Ich bleibe hier.«
Es war unmöglich, den Jungen auf andere Gedanken zu bringen. Schließlich nahm Axel Tom ein wenig beiseite und sagte: »Am besten, du bleibst bei ihm, bis ich zurückkomme und euch wieder einsammle. Sonst fällt er uns womöglich ins Wasser oder stellt sonst was Verrücktes an, und immerhin haben wir die Verantwortung für den Jungen.«
Die kleine Mia rief: »Ich will jetzt zum nächsten Leuchtturm, ich will jetzt zum nächsten Leuchtturm!«
»Aber Papa«, protestierte Tom. »Ich kann doch nicht stundenlang mit ihm auf diesem kümmerlichen Felsen hocken!«
»Klar kannst du das«, antwortete sein Vater und stieß ab.
»Manchmal muss man sich mit Dingen abfinden, die nicht unbedingt lustig sind.«
»Such ihm doch ein paar alte verfaulte Vögel!«, schrie Oswald übers Wasser. »Bist ja sein Kindermädchen!«
Erst