Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
Vertrauen in die Menschen haben, die dich lieben«, machte Daniel einen Vorschlag, der ein Lächeln über Marlas Lippen huschen ließ.
»Vielleicht«, gestand sie und trocknete sich die Tränen. Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Dann atmete Marla tief durch und nahm allen Mut zusammen. »Und jetzt sag schon, wo sie ist.«
In diesem Moment wusste Dr. Norden, dass zumindest diese erste Hürde endlich genommen war. Er lächelte der jungen Frau zu und stand auf, um sie zu ihrer Mutter zu bringen.
*
Als Heike Moebius sah, wer in ihr Zimmer kam, hielt sie die Luft an. Mit kreisrunden Augen sah sie ihrer Tochter dabei zu, wie sie sich einen Stuhl ans Bett zog und sich setzte.
»Hallo, Mama.«
Heike schluckte.
»Schön, dich zu sehen, Marla.« Heike klang schüchtern. »Du siehst gut aus.«
»Mir geht’s auch gut.« Marla zögerte. »Warum hast du das getan, Mama?«
»Es … es war ein Unfall. Ich wollte nicht gegen die Ampel fahren. Aber ich war so damit beschäftigt, durch das Schaufenster zu schauen, dass ich nichts anderes mehr im Kopf hatte«, bestätigte Heike die Vermutung ihres Arztes.
Schon wieder brannten die Tränen in den Augen der Tochter.
»Aber warum bist du überhaupt gekommen?«
In diesem Moment gab es kein Halten mehr für Heike. Sie richtete sich im Bett auf und streckte die Hände nach ihrer Tochter aus. Als Marla sie ihr reichte, zog sie sie an sich und schloss sie in die Arme.
»Weil ich dich liebe, mein Mädchen. Und weil mein Leben öde und leer ist, seit du nicht mehr da bist«, gestand sie dicht an Marlas Ohr.
Die spürte die Wärme der Umarmung und roch das Parfum ihrer Mutter. Es war der Geruch ihrer Kindheit. Tröstend und aufwühlend zugleich.
»Das hätte nicht so sein müssen. Wenn du deine Krankheit behandelt hättest …« Das Ende des Satzes schwebte in der Luft. Marla atmete ein paar Mal tief ein und aus. Dann löste sie sich aus der Umarmung und sah ihre Mutter an. »Aber darüber haben wir ja schon so oft geredet, und es hat sich nichts geändert«, seufzte sie und wirkte plötzlich wie eine alte Frau. »Ich will dir keine Vorwürfe mehr machen. Wenn du dich kaputt machen willst, dann tu es. Aber ohne mich. Ich habe jetzt ein neues Leben und werde bald heiraten.«
»Was?« Heikes Augen wurden groß und rund vor Staunen, und ihr Blick wanderte zu Marlas Bauch. »Ich wollte ja nicht fragen, aber … aber … bist du schwanger? Werde ich Oma?«
Marla schluckte und nickte.
»Ja.« Sanft streichelte sie über die kleine Kugel, die sich unter ihren Berührungen bewegte, als wollte der kleine Bewohner antworten. »Und mehr als alles andere auf der Welt wünsche ich mir, dass du eine richtige Oma sein kannst. Mit allem, was dazugehört.«
Heike verstand diese indirekte Botschaft und konnte es kaum glauben.
»Das ist ja so, als würde ich eine zweite Chance bekommen«, flüsterte sie.
»Wenn du das so sehen willst, ja!« Marla lächelte und fühlte plötzlich, wie die Kraft nach und nach zu ihr zurückkehrte. »Aber nur …«
Heike Moebius ließ ihre Tochter nicht ausreden.
»Ich weiß, ich weiß.« Abwehrend hob sie die Hände. »Aber das werde ich nicht mit dir besprechen. Dafür gibt es diesen großartigen, gutaussehenden Arzt.«
Über diese Bemerkung konnte Marla schon wieder lachen.
»Mach dir keine Hoffnungen, Mama. Er ist schon vergeben.«
»Hat er einen Bruder?«
»Nein.«
Heike lächelte und zuckte mit den Schultern.
»Na, dann muss ich mich eben auf einen geschäftlichen Umgang beschränken. Aber der ist ja auch schon eine Freude.«
*
Marlas Augen glänzten, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie das Zimmer ihrer Mutter verließ. Sie hatte Daniel versprochen, ihn vom Ergebnis der Unterhaltung zu unterrichten, und wollte sich eben auf den Rückweg in sein Büro machen, als sie eine Stimme hörte, die sie so gut kannte wie keine andere.
»Marla, da bist du ja!« Pascal war sichtlich nervös, als er auf sie zueilte. Ihre Tasche baumelte über seiner Schulter. »Ich hab dich überall gesucht. Du hast deine Tasche mit dem Geschenk für die Kleine vergessen.«
Als Marla ihren Bräutigam sah, sackte ihr das Blut in die Beine und ihre Wangen wurden blass. Sie musste sich an der Wand festhalten, um nicht zu fallen.
»Oh, Pascal …«, stammelte sie und suchte händeringend nach einer Ausrede. »Ich wusste nicht …«
»Gib dir keine Mühe.« Er stand vor ihr und sie konnte sein Aftershave riechen. Und doch schien er in diesem Augenblick ihr Feind zu sein, so scharf war seine Stimme. »Du warst nicht auf der Kinderstation. Ich hab einen Arzt getroffen, Lammers oder so, und er hatte keine Ahnung, dass du erwartet wirst.«
»Selbst die Halbgötter in Weiß sind nicht allwissend«, erwiderte Marla mit spitzer Stimme, wusste aber genau, dass sie diese Bemerkung nicht retten würde.
Pascal stand vor ihr und ballte die Hände zuFäusten.
»Welches Spiel spielt ihr mit mir?«, fragte er, und seine Stimme zitterte.
Er wirkte so zornig, dass Marla es mit der Angst zu tun bekam.
»Es gibt kein Spiel. Bitte, Pascal. Du musst mir glauben.«
»Dann sag endlich, was los ist. Ich bin doch nicht blöd. Seit Tagen bist du völlig verändert. Schlecht gelaunt, ungeduldig, unkonzentriert, nervös, abwesend«, zählte er nur einen Teil der Eigenschaften auf, die sie an den Tag legte, seit sie wusste, dass ihre Mutter in der Nähe war. »So warst du noch nicht mal, als unser Kind in größter Gefahr war. Also will ich jetzt, verdammt noch mal, von dir wissen, was los ist.«
So aufgebracht hatte Marla ihren Bräutigam noch nie zuvor gesehen. Sie wusste: Wenn sie ihm jetzt nicht die Wahrheit sagte, würde er das Vertrauen in sie für immer verlieren. Doch würde er das nicht so oder so? In diesem Moment fielen ihr wieder Daniel Nordens Worte ein. Sie durfte die Menschen, die sie liebten, nicht unterschätzen. Dieses Rezept hatte bei ihrer Mutter gewirkt. Vielleicht wirkte es auch bei Pascal. Wenn sie nicht alles verlieren wollte, musste sie es versuchen.
*
»… dass die Frau Opfer eines Racheaktes wurde.« Janine Merck saß an ihrem Schreibtisch und beugte sich über die Tageszeitung, die der Postbote wie jeden Morgen in die Praxis gebracht hatte. Ihre Kollegen standen am Tresen und lauschten ihrem Bericht. »Es war nicht etwa ein Geist, der aus dem Reich des Todes zurückgekehrt war, sondern lediglich eine Person, die dem Verunglückten sehr ähnlich sieht.« Die Enttäuschung stand der Assistentin ins Gesicht geschrieben.
Danny grinste seinen Vater an.
»Zum Glück verfügen wir über genügend naturwissenschaftliche Bildung, um zu wissen, dass es solche Phänomene nicht gibt.«
Zu seiner Enttäuschung ging sein Vater nicht auf seine Worte ein. Sein ganze Aufmerksamkeit ruhte auf Janine.
»Und wie geht es weiter? Ich meine, steht da noch mehr? Um welche Art von Racheakt hat es sich gehandelt?«, stellte er eine Frage nach der anderen, dass sich Wendy nur wundern konnte.
»Seit wann interessieren sich Naturwissenschaftler denn für Klatsch und Tratsch?«, fragte sie.
»Auch wenn wir nicht an Übersinnliches glauben, sind wir trotzdem Menschen, die Anteil nehmen an ihrer Umwelt«, verteidigte sich Daniel. »Außerdem kann man sich ja nicht den ganzen Tag nur mit hochtrabenden Themen beschäftigen.« Mit diesen Worten wendete er sich wieder an Janine. »Bitte lesen Sie vor.«
Die Assistentin hatte den Artikel inzwischen zu Ende