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Menschen, die Geschichte schrieben. Christine StroblЧитать онлайн книгу.

Menschen, die Geschichte schrieben - Christine  Strobl


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des Theaters wird damit zum Rollenspiel auf dem Theater und zieht auf diese Weise das gesamte Publikum in den Bannkreis einer theatralen Selbsterkundung und kulturellen Reflexion.

      Aus diesem Grund, so meine ich, lässt sich der Faustus-Mythos zutreffend als ein Theater-Mythos auffassen, denn solche Selbstreflexion – was ja nichts anderes als Selbstbeobachtung eines Beobachters bedeutet – ist es eben, was das frühneuzeitliche Theater beabsichtigt und für die Kultur der Renaissance leistet. Was der Faustus-Figur an magischer Macht und Praxis zugeschrieben wird, entspricht exakt der Macht und Praxis des Theaters: Verstorbene zu neuem Leben zu erwecken. Im Rahmen der mantischen Künste nennt man diese Kunst „Nekromantie“, was ja, wie wir an der Visitenkarte sehen konnten, zu Faustens Berufsbezeichnungen gehört. Im Rahmen des Theaters aber nennt man diese Kunst schlicht „Schauspielkunst“, denn das genau unternimmt ja jeder Schauspieler, wenn er vor unseren Augen einer historischen Figur, die längst verstorben ist, für die Dauer einer Aufführung neues Leben gibt. Heutzutage scheint uns dieser magische Theater-Akt vielleicht nicht mehr bemerkenswert, für die Renaissance jedoch lag darin etwas ebenso Faszinierendes wie Beunruhigendes – wie ist es möglich, dass wir als Zuschauer mit einem Mal die alten Helden leibhaftig vor Augen haben? –, weshalb die Schauspielkunst in England in der Tat lange heftig umkämpft war und gerade von den glaubensfesten Protestanten kategorisch abgelehnt wurde.

      Die besondere Pointe der Kaiser-Szene in Marlowes Stück ist allerdings, dass ihr diese ablehnende, theaterfeindliche Position bereits eingeschrieben ist. Das ist der zweite Punkt, der daran kurz betrachtet werden soll. Der Kaiser ist keineswegs der einzige Zuschauer der Alexander-Erscheinung auf der Bühne. In seinem Gefolge gibt es eine weitere Figur, einen Höfling namens Benvolio, der ebenfalls dem Spiel im Spiel zusieht, sich allerdings ganz unbeeindruckt davon gibt. Für ihn ist Faustus schlicht ein Schwindler oder Aufschneider, dessen Kunststücken man besser keinen Glauben schenken sollte. Damit entspricht die Position dieses Höflings recht genau jenen gelehrten Autoritäten des 16. Jahrhunderts, die, wie wir gesehen haben, Doktor Faustus grundsätzlich als Negativbeispiel darstellen, ihn als Scharlatan verurteilen, ausweisen und sich mit seiner Magie nicht weiter einlassen wollen. Interessant ist allerdings, was bei Marlowe mit dieser Figur passiert. Faustus reagiert auf die Kritik und kündigt an, er werde sich an Benvolio rächen, indem er ihm ein Geweih aufsetzt. Und eben dies geschieht: „In bold Acteon’s shape to turn a stag“, wie es gegen Ende der Passage im Text heißt. Diese Formulierung gibt einen präzisen Hinweis auf einen weiteren Mythos, den die Renaissance aus der Antike übernommen hatte, den Aktaion-Mythos. Dieser erzählt von einem Jäger, der einst Diana heimlich beim Baden zusah, zur Strafe von ihr in einen Hirsch verwandelt und anschließend von seinen eigenen Jagdhunden in Stücke gerissen wurde.

      Für Marlowes Publikum war dies zweifellos eine bekannte Geschichte. Mit der Figur des lüsternen und gestraften Jägers erzählt sie von der Lust am Schauen und von der machtvollen Gefahr, in die man sich durchs Zuschauen begibt. Damit aber erzählt sie wiederum von der Macht und Gefahr des Theaters, wo wir ja gleichfalls zuschauen und alle Lust daraus gewinnen. Wieder also geht es um die Verführbarkeit durchs Auge – und darum ist es, wie erwähnt, so vielsagend wie stimmig, dass bei Faustens schauerlichem Ende ausgerechnet die Augen übrigbleiben und auf dem Boden herumkullern. Ganz offensichtlich bilden sie das entscheidende Organ, um das es geht. Auf diese Weise dienen in Marlowes Bühnenversion der Geschichte der gebannte Kaiser wie sein gestrafter Höfling zur Reflexion auf das performative Medium des Theaters, das hier zum Einsatz wie auch zur Betrachtung kommt. Solche Reflexion und Selbstreflexion aber, in der sich das Bewusstsein für die eigene Kontingenz ausdrückt, lässt sich im Übrigen als Kennzeichen eines spezifisch modernen Bewusstseins sehen. Mit der Arbeit am Mythos der europäischen Theaterfigur Doktor Faustus arbeiten wir also an einer Geschichte der europäischen Modernisierung.

      ZUSAMMENFASSUNG

      Faustus ist ein Wiedergänger und ein Zwischengänger der Epoche einer Umbruchszeit. In seinem Wirken fasst die Renaissance zusammen, was sie selbst umtreibt. Das geschieht zumeist in kritischer und polemischer Absicht, so dass Faustus – wie bei Trithemius oder Luther – als Negativbeispiel dient. Manchmal aber geschieht es auch in emphatischer Absicht, so dass Faustus als Modellfigur zum Einsatz gebracht wird, wie es besonders Marlowe zeigt, wenn er mit ihr die magische Wirksamkeit des Bühnenmediums erkundet. Genauso selbstbewusst wie Faustus vor dem Kaiser historische Figuren zur Erscheinung bringt, so bietet der Dramatiker uns den Auftritt längst verstorbener Figuren. Solches Selbstbewusstsein und zugleich das kulturelle Unbehagen daran, manifestieren sich im Faust-Mythos. Wenn wir das Zeitalter der Renaissance als die Zeit eines neuen Individualisierungsschubes sehen, d. h. als die Epoche eines veränderten Selbstbewusstseins, das sich nicht länger allein an überkommenen Autoritäten orientieren, sondern selbst die Welt erkunden will, dann verstehen wir, warum Faustus in genau dieser Zeit seinen großen Auftritt hat. Er verkörpert die Verlockung wie die Gefahr, die sich daraus ergeben und die mit ihm als „Fürwitz“ bekämpft werden. Dass dieser kulturelle Kampf aber zugleich eine kulturelle Faszination darstellt und die Gefahr auch eine Chance, das zeigt nicht nur der Kaiser, wenn er in Marlowes Stück bekennt, seine Gedanken seien davon überwältigt. Auch wir sind als Leser oder Zuschauer noch im 21. Jahrhundert davon fasziniert, wenn wir über die Mythen der Renaissance nachdenken.

      ANMERKUNGEN

      1 Historia, S. 79 (wie auch die vorigen Zitate).

      2 Die Angaben dazu folgen Riggs 2004, S. 233.

      3 Historia, S. 77.

      4 Historia, S. 79.

      5 Historia, S. 122 f.

      6 Vgl. Müller 1986, S. 572.

      7 Zur hermetischen Tradition und ihrer Wirkung in der europäischen Renaissance, vgl. Ebeling 2005 und Yates 1991.

      8 Die folgenden Angaben folgen Baron 1982, S. 16, 34 f., 156.

      9 So jedenfalls die Ansicht von Frank Baron, dem ich hier (und im Weiteren) folge, Baron 1982, S. 24 f.

      10 Baron 1982, S. 78 f.

      11 Luthers Tischreden (Nr. 1059, in der Edition von Aurifaber, Weimar 1912–21), hier zitiert nach Baron 1982, S. 49.

      12 Baron 1982, S. 27.

      13 Vgl. Riggs 2004, S. 235.

      14 Doctor Faustus, 4.2.1–100, Marlowe 1986, S. 308–12.

      LITERATURHINWEISE

      Baron, Frank 1982: Faustus: Geschichte, Sage, Deutung, München.

      Ebeling, Florian 2005: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos: Geschichte des Hermetismus, München.

      Historia von D. Johann Fausten. Kritische Ausgabe, hg. v. Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart: 1988.

      Marlowe, Christopher 1986: The Complete Plays. Ed. J. B. Steane, Harmondsworth.

      Müller, Maria E. 1986: „Der andere Faust: Melancholie und Individualität in der Historia von


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