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Die Seele Chinas. Richard WilhelmЧитать онлайн книгу.

Die Seele Chinas - Richard Wilhelm


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Boxerzeit war der Anfang des Neuen in China. In einem heftigen Fieberparoxismus war die chinesische Reaktion zusammengebrochen. Gegen die europäischen Kanonen halfen keine geheimen Waffensegen. Das war vor aller Augen sichtbar geworden. Nun kam der große Umschwung. Die Kaiserin-Witwe Tsi Hsi kam aus ihrer Zuflucht im fernen Westen wieder nach ihrer Hauptstadt Peking zurück. Es war ein Triumphzug. Die Damen der Gesandtschaften hatten es sich nicht nehmen lassen, das Schauspiel mit anzusehen. Noch vor kurzem gehasst als schlimmster aller Teufel, der die Europäer ausrotten wollte, wurde sie nun zum Gegenstand der allgemeinen Neugier. Auf dem Tsiänmen, dem großen Südtor der inneren Kaiserstadt Peking, standen die Damen versammelt, als die alte Frau die meilenlange, kerzengerade Südstraße der äußeren Chinesenstadt in ihrer gelben Sänfte in kaiserlichem Pomp herangetragen wurde. Sie wurde nicht einmal böse über diesen Verstoß gegen die altheiligen Gesetze, die vorschrieben, dass alles Volk sich in den Häusern verbergen musste, wenn die Sänfte des Herrschers durch die Straßen getragen wurde. Sie brachte ihre Opfer dar in den beiden kleinen roten Tempelchen mit den gelbglasierten Dächern, die das Südtor flankieren, von denen das eine der Kuanyin, der Mutter der Barmherzigkeit, und das andere dem Schutzgenius der Dynastie, Kuanti, geweiht ist. Ja, sie winkte freundlich nach oben, als sie die fremde Versammlung dort sah, und die Gesandtschaftsdamen winkten begeistert mit den Taschentüchern.

      Aber die alte Herrscherin hatte aus den Erlebnissen gelernt. Sie, die früher der Schrecken auch der mächtigsten Satrapen gewesen war, von denen keiner ohne Zittern vor dem Throne kniete, gefiel sich nun in der Rolle der gütigen Mutter. Der alte Bodhisatva Kuanym wurde sie genannt. Sie trug bei einem Hoffest die Gewänder der Gottheit Kuanyin, die ihrem Herzen so nahe stand, und ließ sich auch so mit ihren Hofdamen und ihrem Lieblingseunuchen fotografieren. Miss Carl, die amerikanische Malerin, die noch jetzt die Gesellschaft Pekings ziert, wurde berufen, ein Ölgemälde von der betagten neuen Heiligen anzufertigen. Die ganze Zeit über wurde ihr ein Schloss in einem prächtigen Park angewiesen mit Hunderten von Dienern in der Nähe des Altersaufenthaltes der Herrin, des Sommerpalastes I Ho Yüan (Park der öffentlichen Ruhe), der wegen des fatalen Anklangs an die Boxerzeit nun Wan Schou Schan (Berg der zehntausendjährigen Lebensdauer) genannt wurde. Für die fremden Damen wurden Teegesellschaften veranstaltet. Fern lagen die Zeiten, in denen darum gekämpft wurde, ob die fremden Barbaren von der Kniebeugung, mit der jeder Chinese seinen Herrscher ehrte, befreit werden könnten in Anbetracht ihrer verstockten Unwissenheit, oder ob die geheiligten Formen des Altertums auch von den Fremden zu wahren seien. Jetzt konnten alle kommen, groß und klein, alt und jung. Lächelnd übersah die gütige Mutter die Unzulänglichkeiten ihrer fremden Gäste in Beziehung auf Ordnung und Sitte, und diese waren für ihr Leben lang beglückt, wenn sie die goldenen Schutzhülsen der prächtigen langen Fingernägel der zierlichen Frauenhand küssen durften, deren Wink schon so vielen Hunderten den Kopf gekostet hatte.

      Aber die Fürstin ließ es nicht bei Äußerlichkeiten bewenden. Sie nahm die Reform, die sie so heiß bekämpft hatte, nun selber in die Hand.

      Der Übergang Chinas aus der alten in die neue Zeit vollzog sich in mehreren Stufen, die sich über mehr als ein halbes Jahrhundert hin erstreckten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Kriegeradel der Mandschus, der bis dahin an den entscheidenden Stellen des Reichs gesessen hatte, seine alte Kraft und Ursprünglichkeit verloren. Er war versunken in den Genuss der Macht und üppiges Wohlleben, wie das gegen Ende der verschiedenen Herrschergeschlechter in China zu geschehen pflegt. Im Süden, in Kanton, war ein durchgefallener Examenskandidat, der viel mit christlichen Missionaren verkehrt hatte, aufgetreten, um das Reich des großen Friedens zu begründen. Gleichzeitig mit der Änderung der Dynastie sollte eine Änderung der Religion erfolgen; das Christentum sollte von nun an über China herrschen. Er hatte himmlische Offenbarungen und wusste, dass er der jüngere Bruder Christi sei. Wie ein Sturmwind fegte der Aufruhr durch die morschen Wälder. In einem immer mehr durch Raub und Verwüstung gezeichneten Siegeszug durchtobte er das Land. Die südliche Hauptstadt, Nanking, fiel in die Hände der Aufständischen, die dort die Hauptstadt ihres neuen Reichs T’ai P’ing, des großen Friedens, einrichteten. Der Mandschu-Adel hatte vollständig den Kopf verloren und stand wehrlos diesem Ungewitter gegenüber. Und als sei die Natur selbst gegen das Herrscherhaus, so trat die Sorge Chinas, der Gelbe Fluss, aus seinen Ufern und überschwemmte einmal wieder die weite Tiefebene, die sich um die Halbinsel Schantung im Westen herumlegt. Jahrelang dauerte es, bis die Wasser sich verlaufen hatten. Da ward auch das Bett des großen Flusses trocken, und erst allmählich gelang es, ihn in dem stark angeschwollenen Tatsin-Ho wiederzuerkennen. Während er früher südlich der Halbinsel Schantung ins Gelbe Meer sich ergossen hatte, fließt er nun seit siebzig Jahren nördlich davon in den Golf von Tschïli. – Es ist eine Umwälzung, wie wenn etwa die Elbe von da ab, wo sie aus Böhmen nach Deutschland eintritt, die ganze norddeutsche Tiefebene überschwemmen und dann nachher im Bett der Memel sich ins Kurische Haff ergießen würde. Das Herrscherhaus schien vor dem Ende zu stehen.

      Da erhob sich ein Retter aus der Klasse der Literaten: Tsong Kuo Fan. Er erzählt, wie sie ihre langen Literatengewänder ausgezogen und Kriegerkleidung angelegt. »Ich ließ durch unsere jungen Gelehrten die Bauern befehligen um den Frieden des Reichs herzustellen«, sagt er einmal. So gelang es, des Aufstandes Herr zu werden und außer ihm noch andere gefährliche Bewegungen niederzuwerfen, die im Norden, Westen und Süden sich erhoben hatten. Bekanntlich waren bei der Niederwerfung dieses Aufstandes auch einige europäische und amerikanische Bandenführer in chinesischen Diensten tätig, über die der edle Gordon sowohl an Tüchtigkeit als auch an Charakter weit hervorragte. Die Taiping-Rebellen wurden von Position zu Position zurückgetrieben. Schließlich waren sie in Nanking eingeschlossen und es entspann sich nun das Schauspiel eines ausgehungerten religiösen Fanatismus, das in allen Stücken auf das merkwürdigste an das Los der Wiedertäufer in Münster erinnert.

      Nun galt es, einmal die Trümmer des Reichs neu zu organisieren und andererseits Mittel und Wege zu finden zur Anpassung der chinesischen Welt an die neue Zeit und ihre Anforderungen. Das erste gelang mit bewundernswürdiger Schnelligkeit. Als die chinesischen Literaten in die Bresche getreten waren, taten sie es keineswegs aus sklavischer Unterwürfigkeit unter das landesfremde Geschlecht der Mandschus. Sie taten es, weil die Herrscher dieses Geschlechts sich mit der alten chinesischen Kultur identifiziert hatten. Man findet in der chinesischen Geschichte wenige Herrscher, die so groß und rein die wesentlichen Ideen des Konfuzianismus vertreten haben wie z. B. der Mandschuherrscher, der unter der Devise Kanghsi von 1662 bis 1723 das Reich regierte. Dass die Mandschus von diesen Grundsätzen einer hohen und strengen Staatsmoral abgewichen waren, hatte zum Zusammenbruch geführt. Nun galt es, das Reich nach diesen Grundsätzen neu zu organisieren. So ging der wesentliche Einfluss aus den Händen der vornehmen Mandschugeschlechter auf die Klasse der chinesischen Gelehrten über, die in Tsong Kuo Fan ihr geistiges Haupt verehrten. Die Größe der Kaiserin-Witwe war es, dass sie diese Bewegung stützte und förderte. Tsong Kuo Fan hatte in Tso Tsung T’ang, Li Hung Tschang u. a. Gehilfen, die mit bemerkenswerter Fähigkeit die schwere Aufgabe der Reorganisation des Reichs durchführten. Damals sind Dinge erreicht worden, die in der ganzen vieltausendjährigen Geschichte vergebens erstrebt worden waren. Durch das Wirken dieser Männer ist die Gefahr der Mohammedaneraufstände, die zu verschiedenen Malen den Bestand des Reichs bedrohten, endgültig beseitigt worden. Das große und zukunftsreiche Gebiet von Chinesisch-Turkestan kam unter dem Titel Sinkiang (Das neue Gebiet) unter die unmittelbare Verwaltung der Zentralregierung. Die Ureinwohner im Süden wurden endgültig zur Ruhe gebracht. Eine Zeit des inneren Friedens folgte, während der die Bevölkerung des chinesischen Reiches nach den besten zugänglichen Quellen auf eine bisher ungeahnte Höhe stieg. Man darf diese positiven Seiten nicht vergessen, wenn man sich von dem China des 19. Jahrhunderts, das sich den Europäern gegenüber immer wieder versagte, ein richtiges Bild machen will.

      Die andere Aufgabe freilich, vor die die chinesische Regierung gestellt war, misslang. Tsong Kuo Fan lebte in den konfuzianischen Vorstellungen des chinesischen Mittelalters. Für ihn und die Seinen waren die westlichen Ideen, die im Taipingaufstand so unerwünschte Früchte gezeitigt hatten, etwas zu Meidendes. So fand er kein Verhältnis zu diesen Problemen. Li Hung Tschang, der ihm als Senior der Gelehrten folgte, hatte lässlichere Anschauungen. Er hatte schon während der Taipingrebellion Europäer kennengelernt, schätzte sie aber nicht hoch. Die Söldner waren geldgierig und roh gewesen. Der Einzige, der moralisch ganz auf der Höhe stand, war Gordon.


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