Gesammelte Erzählungen von Rudyard Kipling (116 Titel in einem Band). Rudyard 1865-1936 KiplingЧитать онлайн книгу.
und euch selbst das seltsame Leben ausmalen, das Mogli unter den Wölfen führte; denn alles im einzelnen zu erzählen, würde Bände füllen. Mit den Wolfsjungen wuchs er auf, aber diese waren natürlich schon groß und stark, ehe noch Mogli alle seine Milchzähne hatte. Vater Wolf lehrte ihn alles, was ein Wolf wissen mußte, und weihte ihn in das Leben der Dschungel ein, bis jedes Rascheln im Grase, jeder Hauch der warmen Nachtluft, jeder Ruf der Eule über seinem Kopf, jeder Kratzer von den Krallen der Fledermäuse, wenn sie eine Weile im Baum gerastet hatten, und jeder klatschende Sprung des kleinsten Silberfisches im Teiche – bis dies alles seine genaue Bedeutung für ihn hatte. Und wenn er nicht lernte, dann lag er in der Sonne und schlief und aß und legte sich wieder schlafen. War er durstig oder heiß, schwamm er in den Weihern des Waldes. Hatte er ein Gelüste nach Honig (Balu sagte ihm nämlich, daß Honig und Nüsse mindestens so gut schmeckten wie Fleisch), dann kletterte er in den Bäumen umher, und Baghira zeigte ihm, wie er das tun müsse. Der schwarze Panther war ein verständiger Lehrer. Er sprang zuerst selbst den Baum hinauf, als sei es gar kein Kunststück, streckte sich bequem auf einem Aste aus und rief: »Komm her zu mir, kleiner Bruder!« Anfänglich wollte Mogli sich anklammern wie das Faultier, aber später schwang er sich durch die Baumkronen fast so kühn wie der graue Affe.
Er hatte bald auch seinen Platz bei dem Ratsfelsen in der Versammlung. Und hier machte er eines Tages die seltsame Entdeckung, daß die Wölfe seinen Blick nicht aushalten konnten. Starrte er einem von ihnen gerade ins Gesicht, so senkte der Wolf die Augen. Und so gewöhnte er sich daran, rein aus Mutwillen, sie anzustarren.
Oft aber auch zog er mit seinem kleinen, flinken Händen die Dornen aus den Ballen seiner Freunde, denn Wölfe leiden schrecklich unter Dornen und Splittern in ihren Pfoten und ihrem Fell. Zuweilen schlich er sich des Nachts nahe an die Dörfer und betrachtete neugierig die braunen Bewohner der Hütten; aber er mißtraute den Menschen, denn Baghira hatte ihm eine Kastenfalle gezeigt, die mit schweren Fangeisen so geschickt im Grase verborgen war, daß Mogli beinahe hineingeraten wäre. Am liebsten ging Mogli mit dem Panther so recht in das dunkle, feuchtwarme Herz des Urwaldes, um dort den schwülen Tag über zu schlafen und des Nachts Baghira auf der Jagd zu begleiten. Wenn der Panther hungrig war, würgte er rechts und links alles, was ihm in den Weg kam, und so tat auch Mogli – mit einer einzigen Ausnahme. Sobald er alt und verständig genug geworden, sprach Baghira zu ihm: »Die ganze Dschungel gehört dir, und du darfst alles erlegen, was du zu töten vermagst – aber um des Bullen willen, für den du erkauft wurdest, darfst du niemals Rindvieh töten oder essen, es sei jung oder alt. So lautet das Gesetz der Dschungel.«
Und Mogli gehorchte gewissenhaft. Er wuchs und wurde so stark, wie ein Knabe werden muß, der nicht weiß, was lernen heißt, und an nichts zu denken hat, als was man essen kann.
Mutter Wolf erzählte ihm ein-oder zweimal, daß man Schir Khan nicht trauen dürfe und daß er die Pflicht habe, eines Tages den Tiger zu töten. Ein Jungwolf würde zu jeder Stunde dieser Mahnung gedacht haben; Mogli aber vergaß sie immer und immer wieder, denn er war nur ein Knabe. Er selbst würde sich allerdings einen Wolf genannt haben, hätte er die Sprache der Menschen reden können.
Häufig kreuzte Schir Khan herausfordernd Moglis Pfad in der Dschungel; denn Akela wurde älter und schwächer, und der lahme Tiger schloß Freundschaft mit den Jungwölfen des Rudels, die ihm folgten um des Beuteabfalls willen. Das aber wäre nie geschehen in den Tagen von Akelas Macht. Schir Khan schmeichelte den jungen Wölfen und fragte oft verwundert, warum sich so starke, junge Jäger von einem verreckenden alten Wolfe und einem nackten Menschenjungen leiten ließen.
»Man erzählt sich in der Dschungel«, näselte er dann wohl höhnisch, »daß ihr in der Ratsversammlung nicht wagt, dem Menschenkind in die Augen zu schauen!« Dann knurrten die jungen Wölfe und sträubten das Fell.
Baghira, der seine Augen und Ohren überall hatte, erfuhr davon; und er warnte Mogli, daß Schir Khan ihm eines schönen Tages auflauern und ihn erwürgen werde. Aber Mogli lachte nur und antwortete: »Ich habe doch das Rudel und habe dich und habe Balu, der zwar faul geworden ist, aber immer noch für mich ein paar Schläge austeilen würde. Warum also mich fürchten?«
An einem sehr heißen Tage war es, da überkam den schwarzen Panther ein neuer Gedanke – vielleicht hatte er etwas gehört, oder Ikki, das Stachelschwein, hatte ihm davon erzählt. Kurz und gut, zu Mogli sagte er plötzlich in der tiefsten Dschungel, als des Knaben Kopf auf Baghiras schwarzem, schimmerndem Fell ruhte:
»Kleiner Bruder, wie oft sagte ich dir schon, daß Schir Khan dein Feind ist?«
»So oft, als Nüsse an der Palme dort hängen«, antwortete Mogli, der natürlich nicht zählen konnte. »Doch, was soll’s? Schläfrig bin ich, Baghira, und Schir Khan ist nichts als ein langer Schwanz und ein großes Maul, wie Mao, der Pfau.«
»Aber jetzt ist nicht Zeit zum Schlafen. Balu weiß es; ich weiß es; das Rudel weiß es, und sogar die dummen, dummen Rehe wissen’s. Dir hat es auch Tabaqui erzählt.«
»Ho, ho«, höhnte Mogli. »Tabaqui kam vor kurzem zu mir, das Maul voll frecher Redensarten: ich sei ein nacktes Menschenjunges und tauge nicht einmal, um Erdnüsse auszugraben. Aber ich, ich packte ihn beim Schwanze und schwang ihn zweimal gegen eine Palme, um ihn Anstand zu lehren.«
»Dummheit war das! Tabaqui ist zwar ein Unheilstifter, dennoch hätte er dir von Dingen erzählen können, die dich nahe angehen. Sperr die Augen auf, kleiner Bruder. Schir Khan wird es nicht wagen, dich in der Dschungel zu würgen; aber bedenke, Akela ist sehr alt geworden, und bald wird der Tag kommen, an dem er nicht mehr den Bock zu reißen vermag, und dann – hört er auf, Führer des Rudels zu sein. Viele Wölfe, die dich damals im Rat musterten, sind nun schon ergraut; die Jungen aber hängen Schir Khan an, der ihnen vorschwatzt, daß für ein Menschenjunges kein Platz ist im Rudel. In kurzem wirst du ein Mann sein.«
»Und was ist denn ein Mann, daß er nicht mit seinen Brüdern laufen soll?« fragte Mogli erregt. »In der Dschungel bin ich geboren, nach dem Gesetz der Dschungel habe ich gelebt. Keiner ist im Rudel, dem ich nicht schon einen Dorn aus der Pfote zog. Es sind doch meine Brüder.«
Baghira streckte sich in seiner ganzen Länge aus und schloß halb die Augen. »Kleiner Bruder«, sagte er, »fühle mir einmal unter den Kiefer.«
Mogli hob seine starke braune Hand, und gerade unter Baghiras seidigem Kinn, dort, wo die gewaltigen Muskeln spielten unter dem glänzenden Fell, da fühlte er eine kleine, kahle Stelle.
»Keiner in der Dschungel weiß, daß ich, Baghira, dieses Zeichen trage – die Spur eines Halsringes; und doch, mein kleiner Bruder, ist es wahr, daß ich unter Menschen geboren bin, und unter Menschen siechte meine Mutter dahin und verendete – in den Käfigen des Königspalastes zu Udaipur. Das war der Grund, warum ich den Preis für dich zahlte, als du noch ein kleines, nacktes Junges warst. Ja, auch ich kam unter Menschen zur Welt. Ich hatte niemals die Dschungel gesehen. Sie fütterten mich hinter eisernem Gitter, bis ich eines Nachts fühlte, daß ich Baghira sei, der Panther! … und kein Spielzeug für Menschen. Da zerbrach ich mit einem Schlag meiner Tatze das Schloß, das dumme, und war frei … und wurde erst wirklich Baghira, der Panther. Und weil ich Menschenbrauch kannte, wurde ich furchtbarer in der Dschungel als Schir Khan. Ist es nicht so?«
»Ja, mein Bruder, alle in der Dschungel fürchten Baghira, alle, außer Mogli.«
»Oh, du bist ein Menschenkind!« sagte der schwarze Panther mit zärtlichem Knurren. »Und so wie ich zur Dschungel heimkehrte, so wirst du zuletzt zu den Menschen zurückfinden, den Menschen, deinen Brüdern – wenn man dich nicht vorher im Rate tötet.«
»Aber warum? Warum sollten sie mich töten?«
»Sieh mich an!« sagte Baghira, und Mogli blickte ihm fest in die Augen. Nach einer halben Minute wandte der große Panther den Kopf zur Seite. »Deshalb«, sagte er und verschob die Pranke auf dem raschelnden Laubwerk. »Sogar ich vermag dir nicht gerade in die Augen zu sehen, und doch wurde ich unter Menschen geboren und liebe dich, mein kleiner Bruder. Aber die anderen hassen dich, weil deine Augen ihnen wehe tun, weil du weise bist und ihnen Dornen aus den Tatzen gezogen hast … kurz, weil du ein Mensch bist!«
»Von alledem wußte ich nichts«,