Gesammelte Erzählungen von Rudyard Kipling (116 Titel in einem Band). Rudyard 1865-1936 KiplingЧитать онлайн книгу.
mit meinen Händen zwingen und brauchte nicht mehr die Hilfe von Büffeln. Und dann habe ich oft in der Regenzeit gewünscht, die Sonne möge scheinen, und im hohen Sommer, Regenwolken möchten die Sonne verdunkeln. Niemals ging ich leer aus bei der Jagd, aber ich wünschte immer, ich hätte eine Ziege erlegt, und hatte ich eine Ziege, dann wünschte ich, es wäre ein Bock, war es ein Bock, sollte es lieber ein Nilghai sein. Aber so geht es uns allen.«
»Und andere Wünsche hattest du nicht?« fragte die große Schlange.
»Was könnte man noch wünschen? Die Dschungel habe ich, und die Gunst der Dschungel. Gibt es noch mehr zwischen Sonnenaufgang und Nacht?«
»Nun, die Kobra sagte …«, begann Kaa.
»Welche Kobra? Die eben fortglitt, sagte nichts, sie war auf der Jagd.«
»Eine andere war es.«
»Gibst du dich viel mit dem Giftvolke ab? Ich lasse sie ihrer Wege gehen. Tod tragen sie im Vorderzahn, das aber ist nicht gut, denn sie sind klein. Was war es für eine Kobra, mit der du sprachst?«
Kaa rollte sich langsam im Wasser wie ein Schiff in schwerer See. »Drei oder vier Monde sind es her, da jagte ich in ›Cold Lairs‹, einem Ort, den du wohl kaum vergessen wirst. Und das Ding, das ich hetzte, flog kreischend an dem Brunnen vorbei nach dem Hause, dessen Wand ich einbrach deinetwegen, und verschwand dann im Boden.«
»Aber die Völker von ›Cold Lairs‹ leben nicht in unterirdischen Höhlen.« Mogli wußte, daß Kaa vom Affenvolk sprach.
»Das Ding lebte nicht, es wollte leben«, erwiderte Kaa mit schwachem Zittern der Zunge. »Es verkroch sich in einem Gang unter der Erde, der sehr weit führte. Ich folgte, tötete und schlief. Als ich erwachte, drang ich weiter vor.«
»Unter der Erde?«
»Ja. Und zuletzt traf ich auf eine weiße Kobra. Sie redete von Sachen, die mir unverständlich waren, und zeigte mir vieles, das ich nie zuvor gesehen hatte.«
»Neues Wild? Gute Jagd gab es?« fragte Mogli und warf sich rasch auf die Seite. »Nein, kein Wild, ich würde mir alle Zähne daran ausgebrochen haben. Aber die Weiße Haube raunte, daß ein Mensch – sie schien die Brut gut zu kennen –, daß ein Mensch den Atem unter seinen Rippen hergeben würde, wenn er nur diese Dinge erschauen könnte.«
»Wir wollen nachsehen«, sagte Mogli. »Einst war ich ein Mensch, entsinne ich mich.«
»Gemach – gemach! Hast tötete die gelbe Schlange, die den Sonnenball fraß. Tief unter der Erde redeten wir zwei miteinander, und ich sprach auch von dir, nannte dich einen Menschen. Da sagte die Weiße Haube (wahrlich so alt ist sie wie die Dschungel selbst): ›Lange schon ist es her, seit ich Menschen sah. Laß ihn kommen, auf daß er sehe alle diese Dinge, für deren geringstes viele Menschen ihr Leben hingeben würden.‹«
»Das muß neues Wild sein. Dennoch, die Giftvölker melden uns nie, wenn neues Wild zu spüren ist. Ungefällig sind sie.«
»Es ist kein Wild. Es ist – es ist – ich kann nicht sagen, was es ist.«
»Laß uns hingehen. Noch nie erblickte ich eine Weiße Haube. Und auch die anderen Dinge möchte ich sehen. Hat sie die alle getötet?«
»Es sind alles tote Dinge. Sie sagt, sie sei der Wächter über sie alle.«
»Aha! So wie der Wolf über dem Fleisch steht, das er in sein Lager verschleppt hat. Gehen wir!«
Mogli schwamm zum Ufer, rollte sich im Grase, um sich zu trocknen; und beide machten sich auf den Weg nach »Cold Lairs«, der verlassenen Stadt, von der ihr schon vernommen habt. Damals fürchtete sich Mogli nicht im geringsten mehr vor dem Affenvolk, wohl aber packte die Affen Entsetzen, wenn Mogli erschien. In jener Nacht trieben sich die Affenherden gerade in der Dschungel umher, so lag »Cold Lairs« verlassen und schweigend im Mondlicht. Kaa führte die Terrassen hinauf zu den Ruinen des Sommerhauses der Königin, schlüpfte über das Geröll und glitt die halb verschüttete Treppe hinab, die von der Mitte des Pavillons in die Erde führte. Mogli gab den Schlangenruf: »Wir sind vom gleichen Blute, du und ich!« und ging ihr nach, auf Händen und Knien kriechend. Lange folgten sie dem schrägen Gang, der in Windungen abwärts führte, und kamen zuletzt an ein gähnendes Loch im Mauerwerk, gesprengt von den knorrigen Wurzeln eines Baumriesen, um dessen Wipfel, dreißig Fuß über ihnen, der Nachtwind pfiff. Sie zwängten sich durch das Loch und gelangten dann in eine weite, gruftartige Höhlung, deren gewölbte Decke ebenfalls von Baumwurzeln gesprengt war, so daß bläuliche Streifen des Mondlichts die Dunkelheit ein wenig erhellten.
»Ein sicheres Lager das«, sagte Mogli und richtete den sehnigen Körper auf, »nur zu weit ab, um täglich einzufahren. Nun, was gibt es hier zu sehen?«
»Bin ich nichts?« fragte eine Stimme in der Mitte der Gruft. Und Mogli sah etwas Weißliches sich bewegen. Langsam, ganz langsam richtete sich die ungeheuerste Kobra vor ihm auf, die er je gesehen hatte, beinahe acht Fuß lang und durch die ewige Dunkelheit zu elfenbeinernem Weiß verblichen. Selbst die Brillenzeichnung auf der gespreizten Haube war zu mattem Gelb verblaßt. Ihre Augen leuchteten rubinrot, und höchst wundersam war sie anzuschauen.
»Gute Jagd!« rief Mogli, den seine Höflichkeit so wenig wie sein Messer je verließ.
»Was Neues von der Stadt?« zischelte die weiße Kobra, ohne des Grußes zu achten. »Was Neues von der mächtigen, mauerumwallten Stadt – Stadt der hundert Elefanten, der zwanzigtausend Rosse und zahllosen Rinder –, dem Herrschersitze des Königs über zwanzig Könige? Taub werde ich hier, und schon lange ist es her, seit ich die Schlachtengongs vernahm.«
»Die Dschungel breitet sich über unseren Köpfen«, antwortete Mogli. »Von Elefanten kenne ich nur Hathi und seine Söhne. Baghira zerriß alle Pferde im Dorf; und – was ist ein König?«
»Ich sagte dir«, sprach Kaa sanft zu der Kobra, »ich sagte dir schon vor drei Monden, deine Stadt stünde nicht mehr.«
»Die Stadt – die machtvolle Feste im Walde, deren Tore beschirmt sind von den Türmen des Königs –, sie kann niemals vergehen. Gebaut wurde sie, bevor meines Vaters Vater aus dem Ei kroch, und bestehen wird sie noch, wenn meines Sohnes Söhne weiß sind wie ich. Salomdhi, Sohn des Tschandrabija, Sohn des Viyeja, Sohn des Yegasuri, schuf sie, die leuchtende Stadt in den Tagen von Bappa Rawal. Wessen Vieh seid ihr?«
»Eine verlorene Fährte ist es«, sagte Mogli zu Kaa. »Ich verstehe ihre Rede nicht.«
»Ich auch nicht. Sehr alt ist sie – Urahn der Kobras, nur die Dschungel ist hier und war es von Anbeginn an.«
»Wer aber ist er«, forschte die weiße Kobra, »der da vor mir sich niedersetzt, der ohne Angst ist, den Namen des Königs nicht kennt und unsere Sprache spricht mit Menschenlippen? Wer ist der mit dem Messer und der Schlangenzunge?«
»Mogli nennt man mich«, war die Antwort. »Von der Dschungel bin ich. Die Wölfe sind mein Volk, und Kaa hier ist mein Bruder. Ahn der Kobras, wer bist du?«
»Ich bin der Wächter der Schätze des Königs. Kurrun Radscha baute den Stein über mir in den Tagen, da meine Haut dunkel war, auf daß ich Tod bringe über alle, die kommen, um zu rauben. Dann senkten sie den Schatz durch die Steinplatte hernieder, und ich hörte den Gesang der Brahmanen, meiner Meister.«
»Hm«, brummte Mogli vor sich hin. »Mit einem Brahmanen habe ich schon einmal zu tun gehabt bei dem Menschenvolk – ich weiß, was ich weiß: Böses wird auch hier bald kommen.«
»Seitdem sitze ich zur Wacht. Fünfmal wurde der Stein gehoben, immer um noch mehr und mehr zu versenken, nie, um etwas fortzunehmen. Keine Schätze in der Welt gleichen diesen – den Schätzen von Hunderten von Königen. Aber lange, lange ist es her, seit der Stein zum letztenmal gehoben ward, ich glaube, daß meine Stadt mich vergaß.«
»Es ist keine Stadt da!« rief Kaa. »Schau hinauf. Wurzeln uralter Bäume spalten die Steine. Bäume und Menschen wachsen und wuchern nicht an ein und demselben Ort.«
»Zweimal, dreimal haben Menschen den Weg hierher gefunden«, antwortete grimmig die