Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
wiederholte Anatol mit aufrichtigem Erstaunen vor diesem Gedanken an die Zukunft. »Was dann? Ich weiß nicht, was dann! Was sprichst du für Unsinn! – Es ist Zeit!«
Anatol ging in das Hinterzimmer.
»Nun, habt ihr bald alles beisammen?« rief er den Dienern zu.
Dolochow nahm das Geld zusammen und befahl einem Diener, Essen und Trinken für die Reise aufzutragen. Dann ging er in das Zimmer, wo Chwostikow und Makarin saßen.
Anatol lag gähnend auf dem Diwan, den Kopf auf die Hände gestützt, lächelte gedankenvoll und flüsterte zärtliche Worte vor sich hin.
»Komm! Iß etwas und trink!« rief ihm Dolochow aus dem anderen Zimmer zu.
»Ich will nicht«, erwiderte Anatol noch immer lächelnd.
»Komm! Balaga ist gekommen!«
Anatol stand auf und ging in das Speisezimmer. Balaga war ein bekannter Mietkutscher, welcher schon seit sechs Jahren Dolochow und Anatol kannte und sie mit seinem Dreigespann gefahren hatte. Nicht selten hatte er Anatol, als dessen Regiment in Iwer stand, abends aus Iwer fortgefahren, in der Dämmerung nach Moskau gebracht und in der folgenden Nacht wieder nach Hause gefahren. Mehr als einmal hatte er sie mit Zigeunerinnen und »Dämchen«, wie Balaga sagte, durch die Stadt gefahren, mehr als einmal hatte er dabei Leute und Fahrzeuge überfahren und immer hatten ihn »seine Herren«, wie er sie nannte, herausgebissen. Mehr als einmal hatte er ein Pferd für sie zu Tode gejagt, oft hatten sie ihn geschlagen, mit Champagner und Madeira betrunken gemacht, den er so sehr liebte, und mehr als einen Spaß wußte er von jedem von ihnen, der einen gewöhnlichen Menschen schon lange nach Sibirien gebracht hätte. Aber er liebte dieses unsinnige Fahren, achtzehn Kilometer in der Stunde, er liebte es, Droschken anzurennen, Fußgänger zu überfahren, und durch die Straßen Moskaus zu rasen. »Das sind wirkliche Herren«, meinte er. Auch Anatol und Dolochow liebten Balaga wegen seiner Meisterschaft im Fahren. Von anderen nahm Balaga fünfundzwanzig Rubel für eine zweistündige Fahrt und fuhr auch nur selten selbst mit ihnen, sondern sandte meist seine Knechte, aber mit »seinen Herren« fuhr er immer selbst und verlangte nie etwas dafür. Aber er wußte durch die Diener zu erfahren, wenn Geld da war und kam einmal im Laufe einiger Monate des Morgens, betrunken, verbeugte sich tief und bat, ihn herauszubeißen. »Väterchen, Erlaucht«, sagte er, »ich habe kein Pferd mehr! Ich muß auf den Jahrmarkt fahren, bitte, leihen Sie mir, so viel Sie können!« Und Anatol und Dolochow, wenn sie bei Geld waren, gaben ihm tausend oder zweitausend Rubel. Balaga war ein untersetzter Bauer von etwa siebenundzwanzig Jahren mit rotem Gesicht und besonders rotem, dickem Hals, mit Stumpfnase, funkelnden kleinen Augen und kleinem Bart. Er trug einen feinen blauen Kaftan mit Seidenfutter. Er bekreuzigte sich in der Ecke des Vorzimmers.
»Guten Tag, Euer Erlaucht!« sagte er zu Anatol und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich sage dir, Balaga«, sagte Anatol, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte, »liebst du mich oder nicht? Was? Du mußt mir einen Dienst erweisen! Das ganze Dreigespann mag zum Teufel gehen, aber um drei Uhr müssen wir dort sein!«
»Wohin fahren wir?« fragte Balaga, indem er die Augen zusammenkniff.
»Ich werde dir die Schnauze zerschlagen! Mach keine Scherze« schrie Anatol plötzlich, die Augen aufreißend.
»Scherze?« sagte lachend der Kutscher. »Hat es mir je um etwas leid getan für meine Herren? Ich werde fahren, so schnell die Pferde laufen können.«
»Nun, setze dich!« sagte Anatol.
»Was? Setzen?« fragte Dolochow.
»Ich kann stehen; gnädiger Herr.«
»Setze dich, Dummkopf! Trink!« sagte Anatol und goß ihm ein großes Glas Madeira ein.
Balagas Augen funkelten. Anstandshalber weigerte er sich, zu trinken, dann leerte er das Glas und wischte sich mit einem rotseidenen Tuch den Mund ab, das in seiner Mütze lag.
»Wann befehlen Sie zu fahren, Erlaucht?«
Anatol sah nach der Uhr.
»Sogleich! Nimm dich in acht, Balaga, wirst du zu rechter Zeit ankommen?«
»Warum nicht?« fragte Balaga. »Erinnerst du dich, Erlaucht, wie wir nach Iwer fuhren?«
127
Anatol verließ das Zimmer und kam nach einigen Augenblicken zurück, in einem Pelz, der mit einem silbergestickten Gürtel zusammengehalten wurde, und einer Zobelmütze, die er auf die Seite gesetzt hatte und die seinem schönen Gesicht sehr gut stand. Er betrachtete sich im Spiegel und nahm ein Glas Wein.
»Nun, Fedja, lebe wohl! Ich danke dir für alles!« sagte Anatol zu Dolochow. »Nun, Freunde und Genossen meiner Jugend, lebt wohl!« wandte er sich Makarin und den anderen zu.
Obgleich alle mit ihm fuhren, wollte Anatol doch etwas Rührendes und Feierliches sagen.
»Nehmt alle die Gläser! Auch du, Balaga! Nun, Genossen, Freunde meiner Jugend, wir haben gelebt und geschwärmt, nicht wahr? Jetzt aber, wann werden wir uns wiedersehen? Ich fahre nach dem Ausland! Lebt wohl, Kinderchen! Auf eure Gesundheit! Hurra!« sagte er. Er trank sein Glas aus und warf es auf den Fußboden.
»Bleiben Sie gesund!« sagte Balaga, nachdem er auch sein Glas ausgetrunken hatte. Makarin umarmte Anatol mit Tränen in den Augen.
»Ach, Fürst, wie schwer ist es für mich, mich von dir zu trennen!«
»Fahren! Fahren!« schrie Anatol.
Balaga ging schon nach der Tür. »Nein, halt!« sagte Anatol. »Schließt die Tür! Setzt euch alle! So, so!« Man schloß die Tür und alle setzten sich. »Nun, jetzt marsch, Kinder!« sagte Anatol aufspringend. Joseph, der Diener, reichte Anatol ein Täschchen und den Säbel und alle gingen in das Vorzimmer hinaus.
»Und wo ist der Pelz?« fragte Dolochow. »Heda! Ignati! Geh zu Matrena Matwejewna, ich lasse sie um den Pelz bitten! Den Zobelpelz! Ich weiß, wie es bei einer Entführung zugeht!« sagte Dolochow mit den Augen blinzelnd. »Sie kommt herausgelaufen, halb tot, halb lebend, hat sich etwas verspätet, dann kommen Tränen, und ›Papachen und Mamachen‹, und dann fängt sie an zu frieren und will zurück! Dann wickelst du sie gleich in den Pelz und trägst sie in die Troika!«
Der Diener brachte einen Damenfuchspelz.
»Dummkopf! Ich habe dir ja gesagt, den Zobelpelz! Heda, Matrena, den Zobelpelz!« rief er so laut, daß seine Stimme weit durch die Zimmer ertönte.
Eine hübsche, schlanke, bleiche Zigeunerin mit glänzenden schwarzen Augen und schwarzen lockigen Haaren, in einem roten Schal, lief mit einem Zobelpelz in der Hand herbei.
»Nun, es tut mir nicht leid darum, nimm ihn!« sagte sie etwas schüchtern, indem sie ihrem Herrn den Pelz wehmütig überreichte.
Ohne ihr zu antworten, nahm Dolochow den Pelz, warf ihn um Matrena und hüllte sie ein.
»Siehst du, so!« sagte Dolochow, »und dann«, sagte er und schlug ihr den Kragen auf, so daß von dem Gesicht nur eine kleine Öffnung blieb, »dann siehst du, so!« Und er schob Anatols Kopf zu der Öffnung, die im Kragen frei geblieben war, aus welcher die glänzenden Augen Matrenas hervorsahen.
»Nun, lebe wohl! Lebe wohl, Matrena! Wünsche mir Glück!«
»Nun, Gott gebe Ihnen großes Glück, Fürst!« sagte Matrena mit ihrer Zigeuneraussprache. Vor dem Hause standen zwei Dreigespanne, welche zwei junge Kutscher hielten. Balaga setzte sich auf das erste, hob die Ellenbogen in die Höhe und ergriff langsam die Zügel. Anatol und Dolochow stiegen ein, Makarin, Chwostikow und der Diener setzten sich in die zweite Troika.
»Ist alles fertig?« fragte Balaga. »Los!« schrie er und wickelte die Zügel um die Hände. Die Troika fuhr den Nikizkiboulevard hinab. Am Arbatskoiplatz fuhr sie einen Wagen an, etwas krachte,