Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
Nach ihr eilte auch Peter fast im Lauf ins Vorzimmer hinaus. Er konnte die Tränen der Rührung und des Glücks kaum zurückhalten. Er vermochte nicht den Ärmel zu finden, warf den Pelz um und setzte sich in den Schlitten.
»Wohin befehlen Sie?« fragte der Kutscher.
»Wohin?« wiederholte Peter. »Wohin kann ich jetzt fahren. In den Klub oder in Gesellschaft?« Alle Menschen schienen ihm jetzt so armselig im Vergleich mit dem Gefühl der Verehrung und Liebe, das er empfunden hatte.
»Nach Hause«, sagte Peter.
Es war eine helle Frostnacht. Über den schmutzigen, halbdunklen Straßen, über den schwarzen Dächern wölbte sich der dunkle Himmel. Dort oben stand der helle, ungeheure Komet von 1812, derselbe, welcher, wie man sagte, alle Schrecken und das Ende der Welt voraussagte. Aber in Peter erregte dieses Gestirn mit seinem langen, feurigen Schweif kein Gefühl des Schreckens, im Gegenteil, mit tränenfeuchten Augen blickte er hinauf nach dem feurigen Kometen, welcher mit unbeschreiblicher Schnelligkeit unermeßliche Strecken in parabolischer Linie durchlief. Die Erscheinung dieses Gestirns entsprach vollkommen dem, was in seiner zu neuem Leben erwachten Seele vorging.
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Am 29. Mai verließ Napoleon Dresden, wo er drei Wochen zugebracht hatte, umgeben von einem Hof von Fürsten, von Herzögen, Königen und sogar einem Kaiser. Vor seiner Abreise schmeichelte Napoleon den Prinzen und Königen, welche das verdient hatten, und gab den Königen und Fürsten, mit denen er unzufrieden war, seine Ungnade zu erkennen, beschenkte die österreichische Kaiserin mit Brillanten und umarmte zärtlich die Kaiserin Maria Luise, welche die Trennung kaum noch ertragen zu können schien. Obgleich die Diplomatie noch fest an die Möglichkeit des Friedens glaubte, und obgleich Napoleon selbst an Kaiser Alexander einen Brief geschrieben hatte, worin er ihn »mein Herr Bruder« nannte und versicherte, er wünsche keinen Krieg, fuhr er doch zur Armee ab und gab auf jeder Station neue Befehle, um den Marsch der Armee gegen Osten zu beschleunigen. Er fuhr in einem sechsspännigen Reisewagen, umgeben von seinen Adjutanten, über Posen, Thorn, Danzig, nach Königsberg; überall kamen ihm Tausende von Menschen zitternd und zögernd entgegen.
Am 10. Juni holte er die Armee ein und übernachtete im Walde von Wilkowischki, wo auf dem Gute eines polnischen Grafen Quartier für ihn bereitgehalten wurde.
Nachdem Napoleon am anderen Tag die Armee überholt hatte, fuhr er im Wagen an den Niemen, um die Örtlichkeit des Übergangs zu besichtigen. Er trug eine polnische Uniform und fuhr ans Ufer.
Als er am jenseitigen Ufer Kosaken und die unabsehbare Ebene erblickte, gab er, für alle unerwartet und allen strategischen und diplomatischen Rücksichten entgegen, den Befehl zum Einmarsch, und am nächsten Morgen begann die Armee den Niemen zu überschreiten.
Frühmorgens am 12. Juni trat er aus dem Zelt, welches am Ufer des Niemen für ihn errichtet worden war, und blickte durch ein Fernrohr nach den Heersäulen, welche aus dem Wald von Wilkowischki hervorkamen und sich über die drei Brücken, die über den Niemen geschlagen waren, ergossen. Den Truppen war es bekannt, daß der Kaiser zugegen war, sie suchten ihn mit ihren Blicken, und als sie vor dem Zelt auf der Höhe seine Gestalt im Mantel und Hut erblickten, warfen sie die Mützen in die Höhe und riefen: »Vive l’empereur!« – »O, wenn der Kaiser selber da ist, dann geht’s vorwärts! Jetzt gibt’s einen lustigen Feldzug!« – »Sieh doch, da ist er! Hurra!« – »Und dort sind diese asiatischen Steppen! Wirklich ein sonderbares Land! Auf Wiedersehen. Beaugieu! Wenn ich Gouverneur von Indien bin, mache ich dich zum Minister von Kaschmir.« – »Hurra! Siehst du, da ist er! Ich habe ihn zweimal gesehen, den kleinen Korporal!« riefen die Stimmen alter und junger Soldaten von den verschiedensten Charakteren und Lebensstellungen. Auf allen diesen Gesichtern sah man nur Freude über den Anfang des langersehnten Feldzugs und Enthusiasmus für den Mann im grauen Rock, der auf dem Berge stand.
Am 13. Juni brachte man Napoleon ein kleines, arabisches Vollblutpferd. Er stieg auf und ritt im Galopp zu einer der Brücken über den Niemen, unaufhörlich von den enthusiastischen Zurufen der Soldaten begleitet, die er augenscheinlich nur ertrug, weil man den Soldaten nicht verbieten konnte, ihre Begeisterung für ihn auf diese Weise auszudrücken. Aber diese Zurufe waren ihm lästig und störend. Er ritt über die schwankende Schiffbrücke hinüber, wandte sich scharf zur Linken und ritt im Galopp in der Richtung nach Kowno weiter, wohin seine glückstrahlenden, reitenden Gardejäger ihm vorausgaloppierten. Als er an die Wilja kam, hielt er neben einem polnischen Ulanenregiment an, das am Ufer stand.
»Vivat!« schrien die Polen ebenso enthusiastisch. Ihre Reihen lösten sich auf und sie drängten einander, um ihn zu sehen. Napoleon stieg vom Pferde und setzte sich auf einen Balken, der am Ufer lag. Auf ein stummes Zeichen reichte man ihm das Fernrohr. Er legte es auf die Schulter eines herbeigeeilten Pagen und blickte nach dem anderen Ufer hinüber. Dann betrachtete er lachend die Landkarte, welche auf dem Balken ausgebreitet war. Ohne den Kopf zu erheben, sagte er etwas, und zwei seiner Adjutanten galoppierten zu den polnischen Ulanen.
»Was hat er gesagt?« fragten die polnischen Ulanen, als einer der Adjutanten sie erreichte.
Sie brachten den Befehl, die Furt aufzusuchen und auf das jenseitige Ufer überzusetzen. Der polnische Ulanenoberst, ein schöner, alter Mann, blickte errötend vor Aufregung den Adjutanten an und fragte, ob es ihm erlaubt sein werde, mit seinen Ulanen den Fluß zu durchschwimmen, ohne die Furt aufzusuchen. Wie ein Knabe, der um die Erlaubnis bittet, ein Pferd zu besteigen, erwartete er gespannt die Erlaubnis, den Fluß unter den Augen des Kaisers zu durchschwimmen. Der Adjutant sagte, wahrscheinlich werde der Kaiser über diesen Eifer nicht unzufrieden sein.
Kaum hatte der Adjutant dies gesagt, als der alte Offizier mit strahlenden Augen den Säbel in die Höhe hob und rief: »Vivat!« und den Ulanen befahl, ihm zu folgen. Er gab dem Pferde die Sporen und ritt im Galopp an den Fluß. Er trieb sein Pferd an und ritt in den reißenden Strom. Die Ulanenschwadron galoppierte ihm nach. Es war kalt in der Mitte des Stroms. Die Ulanen hingen sich aneinander, einige Pferde sanken ein und die Leute bemühten sich, nach dem anderen Ufer zu schwimmen, und obgleich eine halbe Werst weiter ein Übergang war, waren sie doch stolz darauf, über diesen Fluß zu schwimmen oder zu ertrinken unter den Augen des Mannes, der auf dem Balken saß und nicht einmal nach ihnen sah, was sie machten. Der zurückkehrende Adjutant wählte einen passenden Augenblick, um den Kaiser auf die Hingebung der Polen für seine Person aufmerksam zu machen. Der kleine Mann im grauen Mantel stand auf, rief Berthier zu sich und ging mit ihm am Ufer auf und ab, gab Befehle und blickte zuweilen gemütlich nach den ertrinkenden Ulanen.
Es war ihm nicht neu, daß seine Anwesenheit an allen Enden der Welt überall die Soldaten in einen sinnlosen Enthusiasmus versetzte.
Etwa vierzig Ulanen ertranken im Fluß, obgleich man Boote zur Hilfe sandte. Die meisten kehrten an das diesseitige Ufer zurück, der Oberst und einige Ulanen aber durchschwammen den Fluß und erstiegen mit Mühe das andere Ufer. Sobald sie es erstiegen hatten, riefen sie: »Vive l’empereur!« und blickten entzückt nach der Stelle, wo Napoleon stand.
Am Abend gab Napoleon den Befehl, dem polnischen Obersten, der sich ganz ohne Not in den Fluß gestürzt hatte, den Orden der Ehrenlegion zu verleihen, dessen Haupt Napoleon war.
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Währenddessen hielt sich der russische Kaiser seit mehr als zwei Wochen in Wilna auf, wo er Revuen und Manöver abhielt. Nichts war zum Kriege vorbereitet, den alle erwarteten. Es existierte kein Kriegsplan, von den drei Armeen hatte jede ihren besonderen Oberkommandierenden, aber einen Befehlshaber über alle Armeen gab es nicht und der Kaiser übernahm diesen Posten nicht.
Je länger der Kaiser in Wilna war, desto weniger geschah für den bevorstehenden Krieg. Die Umgebung des Kaisers schien nur an Bälle und Festlichkeiten zu denken.