Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
173
Heftig erschrocken sprang Peter auf und lief zur Batterie zurück, als einziger Zufluchtsort gegen alle Schrecken, die ihn umgaben. Als er den Graben erreichte, bemerkte er, daß in der Batterie keine Schüsse mehr hörbar waren. Er erblickte den Oberst am Walle liegend, als ob er hinabblicken wollte. Ein Soldat, den er früher bemerkt hatte, suchte sich von einigen Leuten loszureißen, die ihn hielten, und schrie: »Zu Hilfe!« Dann aber wurde er vor Peters Augen von einem Bajonett durchbohrt. Noch ehe er klar erkennen konnte, daß der Oberst gefallen und dieser Soldat gefangen war, stürzte ein hagerer, gelber Mensch mit schweißbedecktem Gesicht, in blauer Uniform, mit einem Degen in der Hand, auf Peter zu. Dieser schützte sich unwillkürlich gegen den Feind, streckte den Arm aus und ergriff diesen Menschen, einen französischen Offizier, mit einer Hand an der Schulter und mit der anderen an der Kehle. Der Offizier ließ den Degen sinken und faßte Peter am Rock an. Einige Sekunden sahen sich beide mit erschrockenen Augen an und schienen nicht zu begreifen, was sie taten oder tun sollten. »Bin ich gefangen? Oder ist er mein Gefangener?« dachte jeder von ihnen. Peter drückte dem Franzosen in unwillkürlichem Schrecken immer fester die Kehle zu. Dieser wollte etwas sagen, als plötzlich ganz niedrig über seinem Kopf mit schrecklichem Pfeifen eine Kanonenkugel wegflog. Peter glaubte, der Kopf des französischen Offiziers sei abgerissen, so rasch hatte er ihn herabgebogen.
Auch Peter bückte den Kopf und ließ die Hand los. Sie dachten nicht mehr daran, wer von ihnen gefangen sei. Der Franzose lief in die Batterie zurück und Peter den Berg hinab. Bald aber kamen ihm dichte Massen von russischen Soldaten entgegen, welche feuernd und mit lautem Geschrei stürmisch auf die Batterie zuliefen. Das war jener Angriff, den Jermolow sich zuschrieb, indem er behauptete, nur seiner Tapferkeit und seinem Glück sei es möglich gewesen, diese Tat und diesen Angriff auszuführen, bei welchem er Georgenkreuze auf den Hügel geworfen habe, die er in der Tasche gehabt habe.
Die Franzosen, welche die Batterie weggenommen hatten, flohen, unsere Soldaten verfolgten mit Hurrageschrei die Franzosen so weit, daß es schwer war, sie anzuhalten. Von der Batterie führte man Gefangene fort, darunter auch einen verwundeten französischen General, den die Offiziere umgaben. Peter ging den Hügel hinauf, wo er mehr als eine Stunde zugebracht hatte. Viele Tote lagen da, die ihm unbekannt waren, einige aber erkannte er. Der kleine Offizier lag noch immer am Rande des Walles in einer Blutlache. Peter lief den Hügel hinab. »Nein, jetzt werden sie sich selbst davor entsetzen, was sie getan haben«, dachte Peter. Doch das Gewehrfeuer und die Kanonade verstärkten sich noch immer, namentlich auf dem linken Flügel.
174
Die Schlacht bei Borodino entwickelte sich hauptsächlich auf einer Strecke von tausend Faden zwischen Borodino und den Schanzen Bagrations. Auf dem übrigen Schlachtfeld wurden auf dem einen Flügel durch die Russen während der Hälfte des Tages Demonstrationen von der Kavallerie Uwarows gemacht, und auf dem anderen Flügel bei Utiza fand der Zusammenstoß Poniatowskys mit Tutschkow statt. Aber das waren zwei getrennte und schwache Vorgänge im Vergleich mit dem, was in der Mitte des Schlachtfeldes vorging. Die Schlacht begann mit Geschützfeuer von beiden Seiten aus einigen hundert Kanonen. Dann, als der Rauch das ganze Feld bedeckte, rückten von französischer Seite zuerst zwei Divisionen, Dessaix und Compans, gegen die Schanzen vor und zur Linken die Regimenter des Vizekönigs Eugen gegen Borodino. Von der Redoute bei Schewardino, auf welcher Napoleon stand, waren die Schanzen nur eine Werst entfernt, Borodino aber mehr als zwei Werst, und deshalb konnte Napoleon nicht sehen, was dort vorging, weil der Rauch alles verhüllte. Die Soldaten der Division Dessaix, welche gegen die Schanzen vorrückten, waren nur so lange sichtbar, bis sie die Schlucht erreichten, die sie von den Schanzen trennte. Sobald sie die Schlucht hinabstiegen, war der Rauch so dicht, daß die andere Seite der Schlucht ganz verhüllt war.
Die Sonne brach hell hervor und traf mit ihren schiefen Strahlen gerade das Gesicht Napoleons, welcher unter der Hand nach den Schanzen blickte. Bald hörte man aus den Rauchwolken vor den Schanzen hervor Zurufe der Leute, aber man konnte nicht wissen, was sie dort taten. Napoleon stand auf dem Hügel und blickte durch ein Fernrohr, ohne etwas deutlich wahrnehmen zu können. Er ging auf und ab, horchte zuweilen auf die Schüsse und blickte wieder nach dem Schlachtfeld.
Beständig kamen zu Napoleon Adjutanten und Ordonnanzen seiner Marschälle mit Meldungen über den Verlauf der Schlacht. Aber alle diese Meldungen waren falsch, sowohl deshalb, weil man in der Hitze des Gefechts nicht sagen konnte, was in einem gegebenen Augenblick vorging, als auch deshalb, weil viele Adjutanten nicht bis zum wirklichen Kampfplatz gekommen waren und nur berichteten, was sie von anderen gehört hatten, und endlich auch deshalb, weil in der Zeit, während der Adjutant zwei bis drei Kilometer weit ritt, die Umstände sich veränderten und die Nachrichten, die er brachte, schon wieder unrichtig waren. So brachte ein Adjutant vom Vizekönig Eugen die Nachricht, Borodino und die Brücke über die Kolotscha seien genommen und in den Händen der Franzosen. Der Adjutant fragte, ob Napoleon befehle, den Fluß zu überschreiten. Napoleon befahl, an dem eroberten Ufer sich festzusetzen und zu warten. Aber schon als der Adjutant von Borodino wegritt, war die Brücke von den Russen wieder genommen und verbrannt worden bei jenem Angriff, an welchem Peter am Anfang der Schlacht teilgenommen hatte.
175
Die Generale Napoleons, Davoust, Ney, Murat, welche sich in der Nähe dieser Feuerzone befanden und sogar zuweilen sich in dieselbe begaben, führten mehrmals starke Massen Soldaten hinein. Aber allen Erwartungen zuwider kamen diese Massen von dort in erschütterten und erschreckten Haufen zurück. Sie ordneten sie wieder, aber die Leute verringerten sich mehr und mehr. Gegen Mittag sandte Murat zu Napoleon seinen Adjutanten mit dem Verlangen nach Verstärkung.
Napoleon stand am Abhang des Hügels und trank Punsch, als ein Adjutant von Murat kam, mit der Versicherung, die Russen würden geschlagen werden, wenn Seine Majestät noch eine Division geben wolle.
»Verstärkung?« fragte Napoleon verwundert mit einem ernsten Blick auf den stutzerhaften Adjutanten. »Sagen Sie dem König von Neapel, es sei noch nicht Mittag, und ich könne noch nicht deutlich genug die Sachlage überblicken. Gehen Sie!«
Bald darauf kam ein General auf schweißbedecktem Pferde auf den Hügel zu. Das war Belliard. Er stieg vom Pferde, ging mit raschen Schritten auf den Kaiser zu und begann lebhaft und mit lauter Stimme die Notwendigkeit von Verstärkung zu beweisen. Er schwor, die Russen seien verloren, wenn der Kaiser noch eine Division gebe. Napoleon zuckte mit den Achseln und ging auf und ab.
»Sie sind sehr stürmisch, Belliard«, sagte Napoleon. »Es ist leicht, sich im Pulverdampf zu irren. Reiten Sie hin und sehen Sie sich alles an, dann kommen Sie wieder zu mir!«
Kaum war Belliard verschwunden, als von der anderen Seite wieder ein Adjutant kam.
»Was gibt es wieder?« fragte Napoleon.
»Sire, der Herzog von …« begann der Adjutant.
»Verlangt Verstärkung!« ergänzte Napoleon mit einer zornigen Bewegung, wandte sich ab und rief Berthier.
»Man muß die Reserven vorführen«, sagte er. »Was soll man dorthin senden? Wie denken Sie?« fragte er Berthier, »diesen Gänserich, den ich zum Adler gemacht habe«, wie er ihn später nannte.
»Sire, man muß die Division Claparèdes senden«, erwiderte Berthier, der alle Divisionen und Regimenter auswendig wußte.
Napoleon nickte bestätigend mit dem Kopfe. Ein Adjutant wurde an Claparèdes gesandt, und nach einigen Augenblicken setzte sich die junge Garde in Bewegung. Napoleon blickte schweigend nach ihnen hin.
»Nein«,