Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
den Bündeln etwas hinter der Alten und blickte starr zur Erde, augenscheinlich kannte sie ihre Schönheit und fürchtete für sie. Jetzt sah Peter, wie zwei französische Soldaten auf diese Gruppe zugingen. Einer derselben, ein kleiner beweglicher Mensch, trug einen blauen Mantel, der mit einem Strick zusammengebunden war. Der andere, der Peter besonders auffiel, war ein langer, hagerer Mensch mit langsamen Bewegungen und idiotischer Miene. Dieser trug einen Friesmantel, blaue Beinkleider und große, zerrissene Reiterstiefel. Der kleine, barfüßige Franzose trat auf den Armenier zu, sprach einige Wort und griff nach den Füßen des Alten. Dieser zog hastig seine Stiefel ab. Der andere blieb mit den Händen in der Tasche vor der schönen Armenierin stehen und starrte sie schweigend an.
»Da! Da, nimm das Kind!« sagte Peter und reichte das Mädchen hastig und mit befehlender Gebärde der Alten. »Bringe es zu seinen Eltern!« rief er ihr zu, setzte das schreiende Mädchen auf die Erde und blickte sich nach den Franzosen und der armenischen Familie um. Der Alte saß schon barfüßig da, der kleine Franzose hatte ihm eben den letzten Stiefel abgenommen. Aber Peter blickte gespannt nach dem Franzosen im Friesmantel, welcher in diesem Augenblick sich langsam der jungen Frau näherte, die Hand aus der Tasche nahm und ihren Hals ergriff.
Die schöne Armenierin saß noch immer ebenso unbeweglich und schien nicht zu bemerken, was der Franzose tat. Als Peter die wenigen Schritte, die ihn von dem Franzosen trennten, zurückgelegt hatte, war es dem langen Marodeur im Friesmantel schon gelungen, ihr den Halsschmuck abzureißen. Die junge Frau griff mit den Händen nach ihrem Hals und schrie mit durchdringender Stimme auf.
»Lassen Sie diese Frau!« schrie Peter mit zorniger Stimme, ergriff den Soldaten an der Schulter und stieß ihn zur Seite. Der Soldat fiel nieder, erhob sich wieder und lief davon, aber sein Kamerad warf die Stiefel weg, griff nach seinem Säbel und ging drohend auf Peter zu.
»Nun, nun, mach keine Dummheiten!« schrie er. Peter befand sich jedoch in einer solchen Wut, daß er nichts begriff und seine Kräfte sich verzehnfachten. Er stürzte auf den barfüßigen Franzosen zu, und ehe dieser seinen Säbel herausnehmen konnte, hatte er ihn bereits niedergeworfen und bearbeitete ihn mit den Fäusten unter dem beifälligen Geschrei der Menge.
In diesem Augenblick erschien eine französische Ulanenpatrouille. Die Franzosen umringten Peter und den Soldaten. Peter wußte nicht mehr, was vorging, er konnte sich später nur erinnern, daß er jemand schlug, daß er geschlagen wurde und daß schließlich seine Hände gebunden wurden und einige französische Soldaten ihn umringten und seine Taschen durchsuchten.
»Herr Leutnant, er hat einen Dolch!« waren die ersten Worte, welche Peter verstand.
»Ah, eine Waffe!« sagte der Offizier und wandte sich an den barfüßigen Soldaten, der mit Peter ergriffen worden war.
»Gut, gut, vor Gericht kannst du alles sagen«, bemerkte der Offizier und wandte sich an Peter.
»Verstehst du Französisch?«
Peter wandte sich mit wütenden Blicken um und gab keine Antwort. Wahrscheinlich sah sein Gesicht schrecklich aus. Der Offizier flüsterte etwas, und vier Ulanen stellten sich zu beiden Seiten Peters auf.
»Sprichst du Französisch?« wiederholte der Offizier, der sich etwas entfernt von ihm hielt. »Ruft den Dolmetscher!«
Ein kleiner Mensch in russischer Kleidung erschien. An seinem Äußern und seiner Aussprache erkannte Peter sogleich einen Franzosen aus einem moskauischen Kaufladen.
»Er sieht nicht aus wie ein gewöhnlicher Mensch«, sagte der Dolmetscher.
»O, er gleicht sehr einem Brandstifter«, bemerkte der Offizier. »Fragen Sie ihn, wer er sei!«
»Wer bist du?« fragte der Dolmetscher. »Du mußt der Obrigkeit antworten.«
»Ich werde Ihnen nicht sagen, wer ich bin. Ich bin Ihr Gefangener, führen Sie mich fort!« sagte Peter plötzlich französisch.
»Ah! Ah!« rief der Offizier mit finsterer Miene. »Nun marsch!«
Um die Ulanen hatte sich eine Menschenmenge gesammelt. Ganz nahe bei Peter stand die Frau mit dem kleinen Mädchen. Als die Patrouille sich in Bewegung setzte, lief sie auf Peter zu.
»Wohin führen sie dich, mein Täubchen?« sagte sie. »Und wo soll ich das Mädchen lassen?«
»Was will sie?« fragte der Offizier.
Peter war wie betrunken. Beim Anblick des Mädchens, das er gerettet hatte, stieg seine Aufregung noch.
»Was sie will?« fragte er. »Sie bringt meine Tochter fort, die ich aus dem Feuer gerettet habe! Lebe wohl!« Und ohne zu wissen, wie er zu dieser zwecklosen Lüge gekommen war, schritt er mit entschlossenen, feierlichen Schritten inmitten der Franzosen weiter.
Die Patrouille war ausgesandt worden, um die Marodeure in den Straßen Moskaus und besonders die Brandstifter einzufangen, welche nach der bei den Franzosen herrschenden Ansicht das Feuer angesteckt haben mußten. Die Patrouille setzte ihren Weg noch durch einige Straßen fort und fing noch etwa fünf verdächtige Russen, einen Kaufmannsdiener, zwei Seminaristen und zwei Bauern, sowie verschiedene Marodeure. Von allen Verdächtigen aber war Peter der Verdächtigste. Als man sie alle in ein großes Haus am Subowschen Wall geführt hatte, in welchem die Hauptwache errichtet worden war, wurde Peter unter strenger Wache ein besonderes Zimmer angewiesen.
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In Petersburg wurde in den höchsten Kreisen mit größerer Heftigkeit als jemals ein Kampf der Parteien Rumjazows, der Franzosen, Maria Petrownas, des Thronfolgers, ausgefochten. Äußerlich aber ging alles nach alter Weise, und es wäre schwer gewesen, ein Anzeichen der Gefahr zu entdecken, in der sich das russische Volk befand. Man besuchte dieselben Gesellschaften, Bälle, dasselbe französische Theater. Man war mit denselben Hofgeschichten, mit denselben Interessen des Dienstes und der Intrige beschäftigt.
Bei Anna Pawlowna, der Hofdame, war am 26. August, dem Tage der Schlacht von Borodino, eine Abendgesellschaft versammelt, bei welcher einige vornehme Personen zugegen sein wollten, die man beschämen mußte, weil sie das französische Theater besucht hatten. Schon ziemlich lange hatten sich die Gäste versammelt, aber immer noch fehlten einige derselben, die Anna Pawlowna erwartete.
Die Neuigkeit des Tages war die Krankheit der Gräfin Besuchow. Vor einigen Tagen war die Gräfin plötzlich erkrankt, hatte einige Gesellschaften, deren Zierde sie sonst war, versäumt, und man sagte, sie empfange niemand, und anstatt der berühmten Petersburger Ärzte, die sie gewöhnlich behandelten, habe sie sich einem italienischen Arzte anvertraut, der eine ganz neue, ungewöhnliche Kur anwende.
Alle wußten sehr gut, daß die Krankheit der entzückenden Gräfin von der Unmöglichkeit herrührte, zwei Männer auf einmal zu heiraten, und daß die Heilmethode des Italieners darin bestand, diese Unmöglichkeit zu beseitigen. Aber in Gegenwart von Anna Pawlowna wagte niemand dies zu denken oder auch nur zu wissen.
»Man sagt, es stehe sehr schlecht mit der armen Gräfin. Der Arzt sagt, es sei Halsbräune.«
»Wie ich hörte, haben sich die Rivalen ausgesöhnt.«
»Man sagt, der alte Graf sei sehr gerührt. Er weinte wie ein Kind, als der Arzt sagte, der Fall sei gefährlich.«
»O, das wäre ein großer Verlust, solch eine entzückende Dame!«
»Ich habe mich nach ihrer Gesundheit erkundigen lassen«, sagte Anna Pawlowna, »es soll ihr etwas besser gehen. Ach, sie ist die entzückendste Dame der Welt! Wir gehören verschiedenen Lagern an, aber das hält mich nicht ab, sie nach ihrem Verdienst zu verehren. Sie ist so unglücklich!«
Bald berührte das Gespräch in flüchtiger Weise die Tagesneuigkeiten. »Sie werden sehen«, sagte Anna Pawlowna, »morgen am Geburtstag des Kaisers erhalten wir neue Nachrichten, ich habe ein Vorgefühl.«
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