Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
Marie und küßte sie.
»Mein Kind, ich liebe und kenne Sie schon lange.«
Ungeachtet ihrer Aufregung begriff Marie, daß das die Gräfin war und daß sie ihr etwas sagen mußte. Nach einigen höflichen französischen Worten fragte sie hastig nach ihrem Bruder.
»Der Arzt sagt, es sei keine Gefahr«, erwiderte die Gräfin, aber ihre Miene widersprach ihren Worten.
»Wo ist er? Kann ich ihn sehen?« fragte Marie.
»Sogleich, Fürstin! Sogleich! Ist dies sein Sohn?« fragte sie, als Nikolai mit Desalles eintrat. »Wir können alle unterbringen, das Haus ist groß. Ach, welch ein entzückender Knabe!«
Die Gräfin führte die Fürstin in den Salon. Sonja war im Gespräch mit Mademoiselle Bourienne, und die Gräfin liebkoste den Knaben. Da trat der alte Graf ins Zimmer, um die Fürstin zu bewillkommnen. Er hatte sich sehr verändert, seit die Fürstin ihn zum letztenmal gesehen hatte. Damals war er lebhaft und rüstig gewesen, jetzt aber erschien er als müder Greis. Nach der Zerstörung Moskaus und seines Vermögens aus seinem gewohnten Geleise geworfen, hatte er augenscheinlich das Bewußtsein seiner Bedeutung verloren. Obgleich ungeduldig darüber, daß sie bei ihrem dringenden Verlangen, den Bruder zu sehen, genötigt war, sich mit leeren, höflichen Phrasen aufzuhalten, bemerkte Marie doch alles, was vorging, und fühlte die Notwendigkeit, sich für den Augenblick den Umständen zu fügen.
»Das ist meine Nichte«, sagte der Graf, indem er Sonja vorstellte. »Sie kennen Sie noch nicht, Fürstin.«
Marie wandte sich zu ihr, und indem sie sich bemühte, das in ihrem Innern sich regende feindliche Gefühl gegen dieses Mädchen zu bezähmen, küßte sie Sonja. »Wo ist mein Bruder?« fragte sie wieder.
»Er ist unten, Natalie ist bei ihm«, erwiderte Sonja errötend. »Ich habe jemand abgeschickt, um sich nach ihm zu erkundigen. Sie werden ermüdet sein, Fürstin!«
Mit Tränen des Verdrusses in den Augen wandte sich die Fürstin ab und wollte wieder nach dem Weg zu ihrem Bruder fragen, als leichte, hastige Schritte sich näherten. Die Fürstin erblickte Natalie, welche fast im Lauf in das Zimmer eilte, dieselbe Natalie, die ihr in Moskau so sehr mißfallen hatte. Aber beim ersten Blick auf Natalies Gesicht begriff Marie, daß das ihre aufrichtige Genossin im Kummer und darum ihre Freundin sei. Sie eilte ihr entgegen und umarmte sie weinend. Auf Natalies Miene lag nur der eine Ausdruck grenzenloser Liebe für ihn und für alles, was ihm nahestand.
»Kommen Sie! Kommen Sie zu ihm, Marie«, sagte Natalie und führte sie ins andere Zimmer. Fürstin Marie wischte die Augen und blickte Natalie an, sie war überzeugt, daß sie von ihr alles erfahren werde.
»Wie? …« begann sie, unterbrach sich aber sogleich wieder, weil sie fühlte, daß man mit Worten weder fragen noch antworten könne. Die Miene und die Augen Natalies mußten ihr alles deutlicher sagen. Natalie zögerte und schien im Zweifel zu sein, ob sie alles sagen sollte, was sie wußte. Ihre Lippen zuckten, eine häßliche Falte bildete sich über ihrem Mund und weinend verbarg sie ihr Gesicht mit den Händen.
Fürstin Marie begriff alles, aber dennoch hoffte sie noch.
»Wie ist seine Wunde?« fragte sie.
»Sie – werden selbst sehen«, konnte Natalie nur sagen. Einige Augenblicke saßen sie unten in einem Zimmer neben dem seinigen, um ihre Tränen zu stillen und mit ruhiger Miene einzutreten. Natalie erzählte ihr den ganzen Verlauf: der Arzt habe Blutvergiftung befürchtet, aber das sei vorübergegangen, dann habe die Wunde begonnen zu eitern, aber der Arzt habe gesagt, das könne zu einem günstigen Verlauf führen, und als Fieber entstand, habe wieder der Arzt dasselbe nicht für gefährlich erklärt. »Aber vor zwei Tagen«, sagte Natalie, »ist plötzlich etwas eingetreten… ich weiß nicht, warum, aber Sie werden selbst sehen, wie er geworden ist.«
»Ist er sehr schwach geworden?« fragte Marie.
»Nein, das nicht, aber – Sie werden selbst sehen! Ach, Marie, er ist so gut und kann nicht leben … weil…«
219
Als Natalie die Tür öffnete, um die Fürstin einzulassen, wußte Marie, daß sie nicht imstande sein werde, ihren Bruder ohne Tränen wiederzusehen. Sie begriff, was Natalie damit meinte: vor zwei Tagen sei plötzlich etwas eingetreten; sie verstand, daß das bedeutete, er sei plötzlich weicher geworden und daß diese Milde und Rührung Vorzeichen des Todes seien. Sie wußte, daß er leise, zärtliche Worte zu ihr sprechen werde, wie ihr Vater vor seinem Tode, und daß sie das nicht ertragen werde. Aber es mußte sein und sie trat ins Zimmer. Immer heftiger drängten ihre Tränen hervor, während sie mit ihren kurzsichtigen Augen immer deutlicher seine Gestalt und seine Züge erblickte, und endlich begegnete sie seinen Blicken.
Er lag auf dem Diwan, auf Kissen, in einem Pelzschlafrock, bleich und hager. Die eine weiße, fast durchsichtige Hand hielt ein Taschentuch. Seine Augen waren nach der Eintretenden gerichtet.
»Sei gegrüßt, Marie!« sagte er. »Wie hast du es möglich gemacht, hierherzukommen?« Seine Stimme war so gleichmütig und fremd wie sein Blick. »Hast du auch Nikolai mitgebracht?« fragte er ebenso gleichmütig.
»Wie ist jetzt deine Gesundheit?« fragte Marie, selbst erstaunt über ihre Worte.
»Du mußt den Arzt fragen«, erwiderte er. »Ich danke dir, daß du gekommen bist!« Es schien ihn Mühe zu kosten, freundlich zu sein.
Fürstin Marie drückte seine Hand; er schwieg, und sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie sah jetzt deutlich, was mit ihm vor zwei Tagen vorgegangen war. In seinen Worten, in seinem gleichgültigen Ton und besonders in diesem kalten, fast feindlichen Blick erkannte sie die für jeden Lebenden schreckliche Entfremdung von allem Weltlichen.
»Siehst du, wie seltsam uns das Schicksal zusammengeführt hat«, sagte er nach längerem Schweigen, auf Natalie deutend. »Sie läuft mir immer nach.«
Fürstin Marie hörte mit Erstaunen an, was er sagte. Wie konnte er das aussprechen in Gegenwart derjenigen, die er liebte und die ihn liebte! Wenn er geglaubt hätte, noch weiterzuleben, so hätte er dies nicht in solchem kühlen, fast beleidigenden Ton gesprochen. Sie fand nur eine Erklärung dafür, nämlich, daß ihm alles gleichgültig geworden war, weil sich ihm etwas anderes, viel Wichtigeres offenbart hatte. Das Gespräch war kühl, ohne Zusammenhang und brach jeden Augenblick wieder ab.
»Marie ist durch Räsan gekommen«, sagte Natalie.
Fürst Andree bemerkte nicht, daß sie seine Schwester einfach Marie genannt hatte, aber Natalie bemerkte dies jetzt selbst zum erstenmal, nachdem sie sie ihm gegenüber immer so genannt hatte.
»Nun, was war da?« fragte er.
»Man hat ihr erzählt, Moskau sei ganz abgebrannt –« Natalie unterbrach sich, sie konnte nicht weitersprechen.
Er schien nur mit Anstrengung zuzuhören. »Ja, man sagt, es sei abgebrannt«, sagte er, »das ist sehr traurig.« Er blickte zerstreut vor sich hin und strich mit den Fingern den Schnurrbart. »Und du hast Graf Nikolai getroffen, Marie?« fragte er plötzlich. »Er hat hierhergeschrieben, daß du ihm sehr gefallen habest«, fuhr er mit einfacher, ruhiger Stimme fort. Er schien nicht mehr die ganze Bedeutung erfassen zu können, welche diese Worte für Lebendige haben. »Wenn er dir auch gefällt, so wäre das sehr schön … wenn ihr euch heiraten würdet«, fügte er etwas schneller hinzu, als ob er darüber erfreut wäre, Worte gefunden zu haben, die er lange suchte. Für Marie hatten diese Worte keine andere Bedeutung, als daß sie bewiesen, wie fern er jetzt schon allem Weltlichen stand.
»Wozu sprechen wir von mir?« sagte sie ruhig, und wieder verstummten alle.
»Andree, willst du Nikolai sehen?« fragte Marie plötzlich mit zitternder Stimme. »Er hat immer von dir gesprochen.«
Zum erstenmal lächelte Fürst Andree kaum merklich, aber