Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
mein Herr, was haben Sie aus all diesen Vorzügen, die Ihnen verliehen worden, gemacht? Sind Sie zufrieden mit sich und Ihrem Leben?«
»Nein, ich verabscheue mein Leben«, sagte Peter düster.
»Wenn du es verabscheust, dann ändere es! Reinige dich, und je weiter die Reinigung vorschreitet, desto mehr wirst du die Weisheit erkennen! Sehen Sie Ihr Leben an, mein Herr, wie haben Sie es verbracht? In stürmischen Orgien. Sie haben alles von der Menschheit erhalten und ihr nichts geliefert. Was haben Sie denn für Ihre Nächsten getan? Haben Sie an die Zehntausende Ihrer Leibeigenen gedacht? Haben Sie ihnen ehrlich geholfen? Sie haben Reichtum erhalten, wie haben Sie ihn genutzt? Sie haben Ihr Leben in Müßiggang verbracht, haben geheiratet, mein Herr. Sie haben die Verantwortlichkeit auf sich genommen, ein junges Weib zu leiten, und was haben Sie getan? Sie haben ihr nicht geholfen, mein Herr, den Weg der Wahrheit aufzufinden, sondern sie in den Strudel der Lüge und des Unglücks hineingestoßen. Ein Mensch hat Sie beleidigt, und Sie haben ihn getötet, und Sie sagen, Sie kennen nicht Gott und verabscheuen Ihr Leben! Darin ist kein Kern von Weisheit, mein Herr.«
Ermüdet vom langen Reden schloß der Alte die Augen. Peter sah in das strenge, unbewegliche, alte Gesicht und bewegte die Lippen. Er wollte sagen: »Ja, ein nichtswürdiges, müßiges, verworfenes Leben«, aber er wagte nicht, das Schweigen zu unterbrechen.
Der Diener erschien an der Tür.
»Sind die Pferde da?« fragte der Alte. »Dann lasse einspannen.«
»Wird er davonfahren und mich allein, ohne Hilfe, lassen?« dachte Peter. Er ging im Zimmer auf und ab und sah zuweilen den Alten an. »Ja, dieser Mensch kennt die Wahrheit, und wenn er wollte, so könnte er sie mir entdecken.« Dies wollte er dem Freimaurer sagen.
Der Fremde ordnete seine Sachen und legte den Mantel um. Dann wandte er sich an Besuchow und fragte in gleichgültig höflichem Tone: »Wohin werden Sie jetzt reisen?«
»Ich? Nach Petersburg«, erwiderte Peter. »Ich danke Ihnen, ich bin in allem mit Ihnen einverstanden, aber glauben Sie nicht, daß ich so dumm sei. Von ganzer Seele wünsche ich mein Leben zu ändern, aber niemals und nirgends habe ich Hilfe gefunden… Übrigens bin ich ganz und gar selbst schuld. Helfen Sie mir, belehren Sie mich, und vielleicht werde ich …« Peter konnte nicht weiter sprechen und wandte sich ab. Der Freimaurer dachte nach und schien etwas zu überlegen.
»Die Hilfe kommt von Gott«, sagte er, »aber die Unterstützung, welche unser Orden zu bieten vermag, wird er Ihnen gewähren, mein Herr. In Petersburg übergeben Sie dies dem Grafen Willarsky!« Er nahm eine Brieftasche heraus und schrieb einige Worte auf ein Blatt Papier. »Einen Rat erlauben Sie mir noch Ihnen zu geben. Wenn Sie in der Residenz angekommen sind, so widmen Sie die erste Zeit der Einsamkeit und Selbstbetrachtung und verfallen Sie nicht wieder in Ihre frühere Lebensweise. Ich wünsche Ihnen glückliche Reise, mein Herr«, sagte er, als er bemerkte, daß ein Diener ins Zimmer trat.
Der Fremde war Ossip Alexejewitsch Basdejew, wie Peter aus dem Fremdenbuch der Station erfuhr. Basdejew war einer der berühmtesten Freimaurer. Lange nach seiner Abreise ging Peter im Zimmer auf und ab, ohne nach Pferden zu fragen, überdachte seine lasterhafte Vergangenheit und stellte sich mit Entzücken seine vorwurfsfreie, tugendhafte Zukunft vor, die ihm so leicht erreichbar schien. Er glaubte nur deswegen lasterhaft gewesen zu sein, weil er zufällig vergessen hatte, wie schön es sei, tugendhaft zu sein. In seiner Seele war nicht eine Spur der früheren Zweifel zurückgeblieben. Er glaubte fest an die Möglichkeit einer Verbrüderung der Menschen zum Zwecke der gegenseitigen Unterstützung auf dem Wege der Tugend, und dies schien ihm das Ziel der Freimaurer zu sein.
76
In Petersburg angekommen, machte Peter niemand Mitteilung von seiner Ankunft, machte keine Besuche und brachte ganze Tage damit zu, Thomas a Kempis zu lesen. Eine Woche nach seiner Ankunft trat der junge polnische Graf Willarsky, den Peter oberflächlich kannte, eines Abends in sein Zimmer, mit demselben offiziellen und feierlichen Wesen, mit dem der Sekundant Dolochows bei ihm eingetreten war, und nachdem er die Tür geschlossen und sich überzeugt hatte, daß außer Peter niemand im Zimmer war, sagte er, ohne sich zu setzen: »Ich komme mit einem Auftrag und einem Vorschlag, Graf. Eine in unserer Brüderschaft sehr hochstehende Persönlichkeit hat darum gebeten, Sie vor dem üblichen Termin aufzunehmen, und hat mir vorgeschlagen, Ihr Bürge zu sein. Ich halte es für eine heilige Pflicht, dem Willen dieser Persönlichkeit zu entsprechen. Wünschen Sie in die Brüderschaft der Freimaurer einzutreten?«
Peter war erstaunt über den kalten und strengen Ton dieses Mannes, den er fast immer auf Bällen mit gewinnendem Lächeln und in Gesellschaft glänzender Damen gesehen hatte.
»Ja, das ist mein Wunsch«, erwiderte er.
»Noch eine Frage, Graf«, fuhr Willarsky fort, »auf die ich Sie als ehrlicher Mann aufrichtig zu antworten bitte. Sind Sie von Ihren früheren Überzeugungen zurückgekommen? Glauben Sie an Gott?«
Peter wurde nachdenklich.
»Ja … ja, ich glaube an Gott!« sagte er.
»In diesem Fall…« begann Willarsky, aber Peter unterbrach ihn.
»Ja, ich glaube an Gott«, sagte er noch einmal.
»Dann können wir fahren«, sagte Willarsky. »Mein Wagen steht zu Ihren Diensten.«
Während des ganzen Weges schwieg Willarsky. Auf Peters Fragen, was er zu tun und zu antworten habe, sagte Willarsky kurz, würdigere Brüder als er würden Peter erforschen, und er habe nur die Wahrheit zu sagen.
Als sie vor einem großen Hause vorfuhren, in dem sich die Loge befand, stiegen sie eine dunkle Treppe hinauf und traten in ein kleines Vorzimmer, wo sie die Pelze abnahmen. Dann traten sie in ein anderes Zimmer; ein Mensch in seltsamer Kleidung erschien an der Tür. Willarsky ging ihm entgegen, sagte ihm leise etwas auf französisch und trat zu einem kleinen Schrank, in welchem Peter eine noch nie gesehene Kleidung bemerkte. Willarsky nahm ein Tuch aus dem Schrank und verband Peter damit die Augen, dann zog er seinen Kopf zu sich herab, küßte ihn, ergriff ihn an der Hand und führte ihn fort. Die Haare, die in den Knoten mit eingebunden waren, schmerzten Peter so sehr, daß er das Gesicht verzog. Nach etwa zehn Schritten hielt Willarsky an.
»Was Ihnen auch widerfahren mag«, sagte er, »müssen Sie mutig ertragen, wenn Sie fest entschlossen sind, in unsere Brüderschaft einzutreten.« Peter neigte bestätigend den Kopf. »Wenn Sie Klopfen an der Tür hören, so nehmen Sie die Binde von den Augen ab. Ich wünsche Ihnen Mut und Erfolg!« Dann drückte er Peter die Hand und ging.
Die fünf Minuten, welche er mit verbundenen Augen zubrachte, erschienen ihm wie eine Stunde. Die verschiedenartigsten Gefühle befielen ihn, vorzugsweise Furcht und Neugierde. Endlich hörte er starkes Klopfen an der Tür, nahm die Binde ab und blickte sich um. Im Zimmer herrschte tiefe Finsternis, nur an einer Stelle brannte ein Lämpchen in etwas Weißem. Peter trat näher und sah, daß die Lampe auf einem schwarzen Tische stand, auf dem ein geöffnetes Buch lag. Das Buch war eine Bibel. Das Weiße, in dem das Lämpchen brannte, war ein Menschenschädel. Er las die ersten Worte des Evangeliums: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.« Peter ging rings um den Tisch und sah eine große, gefüllte, offene Kiste, das war ein Sarg mit Gebeinen. Was er sah, setzte ihn nicht in Erstaunen.
»Gott! Tod! Liebe! Verbrüderung der Menschheit!« sagte er und verband mit diesen Worten unklare, aber freudige Vorstellungen. Die Tür öffnete sich und jemand trat ein.
Bei dem schwachen Licht, an das sich Peter aber schon gewöhnt hatte, erblickte er einen kleinen Mann, der stehenblieb, dann mit vorsichtigen Schritten an den Tisch trat und seine kleinen, mit ledernen Handschuhen bedeckten Hände darauflegte. Er war in einen weißen ledernen Mantel gehüllt, der seine Brust und einen Teil der Beine bedeckte. Um den Hals trug er eine Art von Halsschmuck, aus dem eine hohe weiße Blumenkrause hervorsah.
»Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte der Eintretende, »der Sie nicht an die Wahrheit