Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo TolstoiЧитать онлайн книгу.
Natalie hörte ihm mit Stolz zu und erschrak nur zuweilen, wenn sie sah, daß er sie forschend anblickte.
»Was sucht er in mir?« fragte sie sich verwundert.
Er lachte selten, aber dann gab er sich ganz der Fröhlichkeit hin, und jedesmal fühlte sie sich ihm näher. Natalie wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn nicht der Gedanke an die bevorstehende Trennung sie gequält hätte.
Am Tage vor seiner Abreise brachte Fürst Andree Peter mit, der seit dem Ball nicht mehr bei Rostows gewesen war. Peter schien zerstreut zu sein und sprach mit der Mutter. Natalie saß mit Sonja beim Schach und rief den Fürsten Andree zu sich.
»Sie kennen den Grafen Besuchow schon lange?« fragte er. »Wie gefällt er Ihnen?«
»Er ist ein vortrefflicher Mann, aber sehr lächerlich.« Sie erzählte Anekdoten über seine Zerstreutheit, von denen manche sogar erdacht waren. »Sie wissen, daß ich ihm unser Geheimnis anvertraut habe?« fragte Fürst Andree. »Ich kenne ihn von Jugend auf, er hat ein goldenes Herz. Natalie«, sagte er plötzlich ernst werdend, »ich reise, Gott weiß, was geschehen kann, Sie werden vielleicht aufhören … mich … nun, ich weiß, daß ich darüber nicht sprechen soll! Aber was Ihnen auch zustoßen mag in meiner Abwesenheit…«
»Was soll mir zustoßen?«
»Ich bitte Sie, Fräulein Natalie, was auch vorfallen mag, wenden Sie sich an ihn allein um Rat und Hilfe! Er ist ein höchst zerstreuter und lächerlicher Mensch, hat aber ein goldenes Herz.«
Niemand vermochte vorauszusehen, wie auf Natalie die Trennung von ihrem Bräutigam wirken werde. Ängstlich, mit gerötetem Gesicht und trockenen Augen ging sie an diesem Tag im Hause umher. Sie weinte nicht, als er beim Abschied zum letztenmal ihre Hand küßte.
»Reisen Sie nicht!« sagte sie nur mit so verzweifelter Stimme, daß er sich fragte, ob er nicht wirklich bleiben solle. Noch lange erinnerte er sich dieses Augenblicks. Als er abgefahren war, weinte sie nicht, aber tagelang saß sie in ihrem Zimmer und wiederholte nur zuweilen: »Ach, warum ist er abgereist?«
Aber zwei Wochen später erwachte sie ganz unerwartet von ihrer Betäubung und wurde wieder dieselbe wie früher.
105
Die Gesundheit und der Charakter des alten Fürsten Bolkonsky waren in diesem letzten Jahr nach der Abreise des Sohnes sehr angegriffen. Er wurde noch reizbarer als früher, und die Ausbrüche seiner Wut richteten sich zumeist auf Marie. Er schien absichtlich die empfindlichsten Stellen aufzusuchen, um sie so grausam als möglich zu verwunden. Die Fürstin Marie hatte zwei Leidenschaften und darum zwei Freuden, ihren Neffen Nikoluschka und die Religion, und beide machte der alte Fürst vorzugsweise zum Gegenstand seiner Ausbrüche und Spottreden.
»Du willst wohl aus dem Kleinen eine ebensolche alte Jungfer machen, wie du selber bist? Aber das ist falsch, Fürst Andree braucht einen Sohn und kein Mädchen«, sagte er. Oder er wandte sich an Mademoiselle Bourienne und fragte sie in Maries Gegenwart, wie ihr unsere Popen und Heiligenbilder gefallen, und scherzte darüber.
Beständig beleidigte er Marie auf das grausamste, aber es kostete sie nicht einmal eine Anstrengung, ihm dies zu vergeben. Konnte ihr Vater unrecht haben? Alle menschlichen Gesetze vereinigten sich für sie in dem einen einfachen und klaren Gesetz – im Gesetz der Liebe und Selbstverleugnung. Sie wollte nur leiden und lieben.
Als Fürst Andree im Winter nach Lysy Gory gekommen war, war er heiter und zärtlich, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie fühlte, daß mit ihm etwas vorgefallen war, aber er sagte ihr nichts von seiner Liebe. Vor der Abreise hatte er lange mit dem Vater gesprochen, und Fürstin Marie hatte bemerkt, daß beide miteinander unzufrieden waren.
106
Im Sommer erhielt Marie einen Brief von ihrem Bruder aus der Schweiz mit einer unerwarteten Nachricht. Fürst Andree teilte ihr seine Verlobung mit Natalie mit. Sein ganzer Brief atmete Entzücken und Liebe zu seiner Braut und zärtliche Freundschaft und Zutrauen zur Schwester. Er schrieb, er habe nie so geliebt wie jetzt und jetzt erst das Leben verstehen gelernt. Er bat sie um Entschuldigung, daß er bei seiner Abreise von Lysy Gory von seinem Entschluß nichts gesagt habe, obgleich er denselben dem Vater mitteilte, weil Marie sonst den Vater gebeten haben würde, seine Einwilligung zu geben, wodurch sie ihn gereizt und die ganze Last seines Unmuts zu tragen gehabt hätte. »Übrigens«, schrieb er, »war die Sache damals noch nicht entschieden. Damals hat der Vater einen Aufschub von einem Jahr verlangt, jetzt sind sechs Monate verflossen, und ich bin mehr als je fest in meinem Entschluß. Wenn die Ärzte mich hier nicht zurückhalten würden, so wäre ich schon in Rußland. Aber ich muß meine Abreise noch auf drei Monate aufschieben. Du kennst mich und mein Verhältnis zum Vater, ich verlange nichts von ihm, aber wenn ich gegen seinen Willen handeln und seinen Zorn erregen würde, während er vielleicht nur noch kurze Zeit bei uns ist, so wäre mein Glück zur Hälfte vernichtet. Ich schreibe jetzt einen Brief an ihn und bitte Dich, einen günstigen Augenblick zu benutzen, um ihm den Brief zu übergeben. Benachrichtige mich, wie er ihn aufnimmt und ob Hoffnung vorhanden ist, daß er einwilligt, den Termin um drei Monate abzukürzen.«
Nach langem Schwanken übergab Marie den Brief dem Vater. Am andern Tag sagte er ihr ruhig: »Schreibe deinem Bruder, er solle warten, bis ich sterbe, es wird nicht lange dauern.«
Die Fürstin wollte etwas erwidern, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen und fuhr immer lauter fort: »Heirate! Heirate doch, mein Täubchen! Schöne Verwandtschaft! Kluge Leute! Wie? Reich! Wie? Dein Nikoluschka wird eine nette Schwiegermutter bekommen! Schreibe ihm, er möge sich meinetwegen morgen verheiraten! Wenn Nikolai eine Stiefmutter bekommt, werde ich die Bourienne heiraten! Hahaha! Er muß auch eine Stiefmutter bekommen! Aber eins sage ich dir, in meinem Hause will ich kein Weibervolk weiter haben, er mag heiraten, aber dann soll er für sich leben! Vielleicht wirst du auch zu ihm ziehen? Meinetwegen! Frostig! Frostig! Frostig!«
Nach diesem Gespräch sprach der Fürst nicht mehr über die Sache, aber der verhaltene Zorn über den Kleinmut des Sohnes äußerte sich in seinen Beziehungen zu seiner Tochter. Zu den früheren Gegenständen des Spottes war jetzt ein neuer gekommen – das Gespräch über die Stiefmutter und die Liebenswürdigkeiten gegen Mademoiselle Bourienne.
»Warum soll ich sie nicht heiraten?« sagte er zu Maria. »Sie wird eine prächtige Fürstin sein!« Und zu ihrem unangenehmen Erstaunen bemerkte Marie in der letzten Zeit, daß der Vater wirklich sich mehr und mehr der Französin näherte. Marie schrieb Andree darüber, wie der Vater seinen Brief aufgenommen habe, suchte ihn aber zu trösten und äußerte Hoffnung, den Vater mit diesem Gedanken zu versöhnen.
Je mehr die Fürstin Marie vom Leben sah, desto mehr war sie verwundert über die Kurzsichtigkeit der Menschen, welche hier auf Erden das Glück und Genüsse suchten, sich abmühten, kämpften und einander Böses zufügten, um dieses unmögliche, nebelhafte und lasterhafte Glück zu erreichen. Fürst Andree liebte seine Frau, sie ist gestorben, und nun will er sein Glück mit einer anderen verbinden. Der Vater will das nicht, weil er für Andree eine vornehmere und reichere Gemahlin wünscht, und so streben und kämpfen sie, quälen sich und verscherzen das Heil ihrer Seelen, um ein vergängliches Glück zu erjagen. Wie kommt es, daß niemand das begreift, niemand außer dieser, verachteten Gottesmenschen, die mit dem Bündel auf den Schultern durch die Hintertür zu mir kommen, weil sie sich vor dem Fürsten fürchten, die Familie und Heimat verlassen und alle Sorgen um das irdische Wohl hinter sich lassen, unter fremden Namen in die weite Welt wandern, den Menschen nichts Böses tun, sondern für sie beten, auch für diejenigen, welche sie verfolgen? – Höheres gibt es nicht im Leben.
Eine Pilgerin, Feodosja, eine fünfzigjährige, kleine, stille, pockennarbige Frau, kam schon seit dreißig Jahren barfuß und mit Ketten aufs Schloß. Fürstin