Beschreibung der Welt. Marco PoloЧитать онлайн книгу.
zu, wenn wir bedenken, dass bis dato rund hundertfünfzig mittelalterliche »Marco Polo«-Handschriften aufgetaucht sind (was sich jedoch neben den sechshundert Manuskripten zu Dantes fast gleichzeitig entstandener Commedia [um 1307 bis 1321] geradezu bescheiden ausnimmt): Mal tragen sie den Titel Devisement du monde (»Aufteilung der Welt«), mal Livre des Merveilles (»Buch der Wunder«), mal Il Milione (so viel wie: »Das Buch, worin es um Millionen geht«); mal kommen sie in einem franko-italienischen Idiom daher, mal in lateinischer und altfranzösischer Sprache, mal in venezianischem und toskanischem Dialekt; mal auf Kastilisch und Katalanisch, mal portugiesisch und tschechisch, mal irisch und deutsch; mal sind sie gegeneinander gekürzt und erweitert … mal offensichtlich fehlerhaft.
… und in einer weiteren Darstellung aus dem 19. Jahrhundert (entstanden nach einem Gemälde des 16. Jahrhunderts)
So erwies sich die Behauptung, Marco Polo habe in Yangzhou (= Jan-gui) »im besonderen Auftrag Sr. Majestät« während dreier Jahre den Posten des Statthalters bekleidet, als Flüchtigkeit eines Kopisten, der aus einem »sejourna«, ›sich aufhalten‹, ein »seigneura«, ›herrschen‹, gemacht hatte. Und schon beförderte Alvise Zorzi mit beherztem »Es hat den Anschein« und »gewinnt man den Eindruck« Marco Polo zum »Aufseher oder Leiter der Salzadministration«.
Was prima vista wie das unzulässige Weiterspinnen eines dünnen Erzählfadens wirkt, lässt sich auf den zweiten Blick als Angesteckt-Sein von der Spontaneität der Beschreibung der Welt interpretieren – als ›Mitgehen‹ im wahren Sinn des Wortes. Erzeugt wird diese Unmittelbarkeit unter anderem dadurch, dass der Herstellungsvorgang des Textes immer wieder offengelegt wird: »Da nun hiervon genug gesagt worden ist, wollen wir zu der Landschaft Karkan übergehen«, oder: »In diesem Buche haben wir uns vorgenommen, zu schreiben über alle die großen und bewunderungswürdigen Taten des jetzt regierenden Großkhans, der Kublai Khan heißt«, oder: »Nun erfordert auch die Ordnung, dass wir ebenfalls die anstoßenden Landschaften besichtigen und kürzlich anzeigen, was darin zu finden ist.«
Es ist dieses den Hörer (oder Leser) unablässig mit einbeziehende »Wir«, das diesen bald zu einem Teilnehmer an der Reise macht. Freilich taucht ab und zu auch ein »Ich« auf: »Da ich nun von dieser Stadt gesprochen habe, sollen andere […] demnächst besprochen werden«, oder: »Als ich zehn Meilen von der Hauptstadt hinwegkam, fand ich ein großes fließendes Wasser«, oder: »Nicht den zwanzigsten Teil habe ich beschrieben.« Desgleichen wird die Hauptperson des Berichts durchaus in der dritten Person beim Namen genannt: »Marco Polo wurde selbst in eine solche zauberkünstliche Finsternis gehüllt«, oder: »Marco Polo war zu der Zeit, als sich dieses zutrug, am Orte der Begebenheiten«, oder: »Als Marco Polo sich in der Stadt Singui befand, sah er bei einer Gelegenheit nicht weniger als fünftausend Fahrzeuge.« Ansonsten aber überwiegt – und zwar bei Weitem – das »Wir«: »Wir verlassen diesen Platz und wollen nun von einem anderen reden«, oder: »[Nun wollen wir] zu dem früheren Gegenstand zurückkehren, das heißt zu der großen Ebene, die wir durchschritten, als wir innehielten, um die Geschichte dieses Volkes zu erzählen«, oder: »Wir wollen diese Provinz nun verlassen und von einem anderen Lande reden, das nach (Nord-)Ost liegt und Tenduk heißt.«
Ohne es zu merken, haben »wir« uns längst der Gruppe um Marco Polo und seinen Sprecher Rustichello angeschlossen – nicht anders als wir es heute im Schlepptau jener Cicerones (oder Guides) tun, die uns mit den hochgestreckten Logos ihrer Reiseunternehmen durch Venedig lotsen. »Wenn wir jetzt in den Kanal da vorne einbiegen, sehen wir rechts das Teatro Malibran, das sich an derselben Stelle befindet, an der vor vielen Jahren das Haus von Marco Polo stand!«
Und weil uns in der Suggestivität dieses Stils bis auf wenige Ausnahmen keine Erlebnisse, sondern ausnahmslos Erkenntnisse mitgeteilt werden – wie eine Örtlichkeit heißt, welche Menschen dort wohnen, was für Sitten sie haben und welche Denkwürdigkeiten sich mit dem Platz verbinden –, ist unsere Phantasie ständig in Bewegung: Was muss das rings um Japan für ein eindrucksvolles Meer sein, in dem »siebentausendvierhundertundvierzig Inseln« liegen! Und welch ein Reichtum muss daselbst herrschen, wo es unmöglich ist, »den Wert des Goldes und anderer Dinge, die auf den Inseln gefunden werden, zu schätzen«!
Kolumbus – oder Cristoforo Colombo aus Genua – sollte der Magie der Beschreibung der Welt eines Tages erliegen. »Aurum in copia maxima« hat er in sein 1485 gedrucktes lateinisches Exemplar neben die Zeile geschrieben, in der es heißt: »Ibi est aurum in copia maxima« … »Dort ist Gold im größten Überfluss.«5 Auf diese Randbemerkung muss man sein Augenmerk richten, um im Spektrum der Spekulationen über Kolumbus’ Beweggrund zu seiner Reise nach »Indien« den wahren Antrieb erkennen zu können. Es war nicht bloß so dahergesagt, was er seinen Leuten in Aussicht gestellt und am 10. September 1492 in das Bordbuch eingetragen hatte: »Heute ließ ich die Mannschaft zusammenrufen und sprach von den Ländern, die auf uns warten. Ich schilderte sie, wie ich sie aus dem Bericht Marco Polos kenne. Als ich die Reichtümer erwähnte, das Gold und die Edelsteine, mit welchen sich ein jeder die Taschen würde vollstopfen können, hellten sich die Mienen doch ein wenig auf.« … »Aurum in copia maxima.« Die sich nicht erfüllende Verheißung war Marco Polos Rache für die Haft in Genua.
I viaggi di Marco Polo …: quasi una fantasia?
Alles um sie ist dubios. Doch deshalb Hokuspokus? Einem ›Marco Polo‹ angedichtet? Aus Aufgeschnapptem, Ausgedachtem? Beleg für einen Reisetraum, nicht für eine Traumreise?
Dietmar Henze, der die Beschreibung der Welt mit einer Sorgfalt sondergleichen in Beziehung gesetzt hat zu den darin aufgeführten geographischen Realien, fällte über Marco Polo das Urteil: »Seine ganze lange vorgegebene Reise indes – und das zu klären, war hier erste Aufgabe – ist ein blankes Fabelstück, um es deutlicher zu sagen: der kolossalste Schwindel der globalen Entdeckungsgeschichte.«
Hie Henze, da Kolumbus. Dort ein Leser, der sich auf den Text eingelassen hat. Hier ein Tüftler, der das Buch als arglistige Täuschung verteufelt. Es ist die Spannweite dieser Beurteilungsmöglichkeit, von der die Faszination der Beschreibung der Welt ausgeht.
Eindeutigkeit gibt es nicht. Oder doch?
Als Miguel de Cervantes Saavedra im ersten Teil seines Don Quixote (1605) auf allerlei Räuberpistolen zu sprechen kam – genau in dieser Passage erscheint im Übrigen der Name Marco Polos – sah er Verdammnisse wie die Henze’sche voraus. Darum ließ er einen Domherrn der ausschweifenden Vor- und Darstellungskraft Absolution erteilen mit dem Argument, »dass die Lüge umso besser ist, je mehr sie wahr scheint, und umso mehr gefällt, je mehr sie Wahrscheinlichkeit und Mögliches enthält. Die Dichtung muss sich mit dem Geiste des Lesers vermählen; das heißt, man muss das Erdichtete so gestalten, dass es das Unmögliche begreiflich macht, das allzu Hohe ebnet, die Geister in Spannung versetzt und uns mithin in solchem Grade Verwunderung und Staunen abnötigt, uns aufregt und unterhält, dass Verwunderung und frohe Stimmung stets gleichen Schritt halten.« Punktum!
Was immer die Beschreibung der Welt ist, Dichtung oder Sachbuch: Sie versetzt uns beim Lesen oder Zuhören in »Verwunderung und frohe Stimmung«. Und macht uns reiselustig …
Detlef Brennecke
1Der Auslaut ist wie »-ei« zu sprechen und der Name nicht etwa mit dem der Halbinsel Sinai zu verwechseln!
2Um den Gang der Handlung im Folgenden nachvollziehbar zu machen, werden im Vorwort zuerst die heute gebräuchlichen Länder- und Ortsnamen genannt und danach, gegebenenfalls, die in unserem Band verwendeten alten oder verballhornten Namen in einer Klammer hinzugesetzt. Im Text Marco Polos wurden hingegen die ursprünglichen Ortsnamen beibehalten – vgl. dazu das Ortsverzeichnis ab S. 318.
3Das ist nachzulesen bei Sven Hedin: Durch Asiens Wüsten. Drei Jahre auf neuen Wegen zwischen Pamir, Tibet und China 1893–1895, Edition Erdmann in der marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012 (S. 236 f).
4In der vorliegenden Ausgabe nicht enthalten (vgl. dazu den Hinweis in der Editorischen Notiz am Ende des Bandes).
5Die Stelle steht