Einführung in die Fallbesprechung und Fallsupervision. Oliver KonigЧитать онлайн книгу.
Fremdverstehen. Entscheidende Entwicklungsimpulse für eine theoretische und konzeptionelle Weiterentwicklung ergaben sich seit den 1960er-Jahren durch die Ausformulierung eines interpretativen Paradigmas (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1981) in den Sozialwissenschaften, durch das die qualitative Sozialforschung entscheidende Impulse bekam (vgl. Althoff 2020, S. 272 ff.). Das qualitative Forschungsverständnis und die damit verbundenen Methoden der Datenerhebung und Dateninterpretation helfen dabei zu verstehen, was bei Fallbesprechungen geschieht.
Genauso wie eine Fallbesprechung zielt qualitative Forschung darauf ab, den Sinn eines Einzelfalles zu rekonstruieren. Im Unterschied zur Fallbesprechung tut sie dies aber in der Absicht, über den Einzelfall hinausgehende (theoretische) Aussagen über die zugrunde liegende Strukturiertheit sozialer Praxis zu formulieren. Fallbesprechungen verallgemeinern nicht, höchstens insoweit, als geprüft wird, was aus dem Verständnis des einen Falles eventuell für das Verständnis anderer ähnlicher oder kontrastierender Fälle gewonnen werden kann.
Fallbesprechungen und qualitative Forschungsdesigns zielen beide auf die Analyse von sozialen Praktiken und sozialem Handeln ab. Beide bedienen sich dabei bereits vorliegender Daten (z. B. Dokumenten und Schriftstücken jeglicher Art), oder sie erheben diese Daten in irgendeiner Weise (z. B. in Interviews und/ oder durch Beobachtungen). In der qualitativen Sozialforschung werden am häufigsten Texte ausgewertet, die aus der Abschrift von Tonaufnahmen entstanden sind: Aufnahmen von Interviews, Gruppendiskussionen, Therapie- und Beratungssitzungen oder auch Fallbesprechungen. Qualitative Forschung schafft dadurch Distanz zur untersuchten sozialen Praxis. Der Forschende, der dieses Material auswertet, muss selber gar keinen Kontakt zur Praxis gehabt haben, auch ist der Untersuchung keine enge zeitliche Grenze gesetzt, die interpretative Bearbeitung kann in mehreren Durchgängen erfolgen.
Eine Fallbesprechung schafft ebenfalls Distanz zu der untersuchten sozialen Praxis durch ein abgegrenztes Beratungssystem, in dem aber ein Teil der zu untersuchenden Praxis, nämlich die falleinbringende Person, enthalten ist (vgl. Kap. 3). In einer Fallbesprechung geht es darum, Ideen zu entwickeln, wie es weitergehen soll mit und in der untersuchten Praxis. Der Prozess der Rückkoppelung mit der Praxis beginnt noch in der Untersuchungssituation selber, während er sich in einem wissenschaftlichen Forschungskontext über Jahre erstreckt – wenn der Prozess denn überhaupt stattfindet.
So gesehen, sind Fallbesprechungen in ihren Ansprüchen bescheidener als Forschung – und als Forschungssituation zugleich komplexer. Denn anders als im Studierzimmer der Forschung bleibt das Material nicht brav als Text auf dem Papier, sondern die Daten können einem schon einmal um die Ohren fliegen, manchmal kann sogar der Forschungsgegenstand in Person des Falleinbringers unmittelbar Widerspruch gegen die Ergebnisse einlegen. Auch die qualitative Forschung sucht gegebenenfalls eine Rückkoppelung ihrer Ergebnisse mit der Praxis, kommunikative Validierung genannt; die gewonnenen Hypothesen werden den untersuchten Personen vorgelegt und mit ihnen diskutiert, die Ergebnisse in dem dann wieder getrennten Forschungskontext verarbeitet. In einer Fallbesprechung geschieht diese kommunikative Validierung prozesshaft, d. h. von Anfang an und ständig. Untersuchungsobjekte sind immer zugleich auch Untersuchungssubjekte. Fallbesprechungen stehen damit in der Tradition der Aktionsforschung (Moser 1978).
Die Vor- und Nachteile dieser Nähe-Distanz-Regulierung bei Fallbesprechungen liegen auf der Hand. Sie sind in der Gefahr, an der Überkomplexität ihrer Forschungssituation zu scheitern. Die Falldynamik kann sich im Prozess ihrer Untersuchung unbesehen und unverstanden fortsetzen. Die durch den Fall freigesetzten Gefühle können eine reflexive Distanz zur Praxis erheblich erschweren.
Die Auseinandersetzung mit den auftauchenden Gefühlen gehört in der Fallbesprechung zum Konzept, weil Fallbesprechungen in der Praxis für die Praxis arbeiten und Emotionalität nun einmal ein zentraler Bestandteil dieser Praxis ist. Sie kann dabei auf eine eigene praxiswissenschaftliche Tradition zurückgreifen, insbesondere aus der Sozialen Arbeit, der Psychoanalyse und der Aktions- und Handlungsforschung (Wensierki 1997). Gelingt es mit diesen methodischen Hilfen, die auftauchenden Emotionen für ein Verständnis des Falles zu nutzen, entsteht ein echter Mehrwert.
Qualitative Methoden wiederum sind heute aus der Erforschung psychosozialer Praxis, sei es Beratung, Psychotherapie oder Supervision, nicht mehr wegzudenken. Zunehmend werden sie von Praktikern dafür genutzt, die eigene Arbeit nochmals besser und anders zu verstehen. Mithilfe von Bandaufnahmen bzw. der Abschriften dieser Aufnahmen und der Interpretation dieses Materials mit den Mitteln der qualitativen Sozialforschung kann man ausgezeichnet dem komplexen Geschehen in Fallbesprechungen auf die Spur kommen. In Kapitel 7 werden wir das beispielhaft vorführen.
2.4Grundprinzipien qualitativer Forschung und ihre Bedeutung für Fallbesprechungen
Wenn von qualitativer Forschung, vom qualitativen oder interpretativen Paradigma, von rekonstruktiver Sozialforschung (Bohnsack 2021; Mayring 2016) die Rede ist, dann ist eine Vielzahl von sozialwissenschaftlichen Traditionen und Ansätzen angesprochen. Über alle Unterschiede hinweg gibt es geteilte Prämissen, die wir im Folgenden auf Fallbesprechungen übertragen wollen. Wir finden hier eine Antwort auf die Frage: Was wird verstanden, wenn in einer Fallbesprechung die Erzählung des Falleinbringenden untersucht und vervollständigt wird?
Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Menschen im Alltag die Umwelt und Mitwelt um sie herum in einem ständigen Prozess interpretieren und deuten. Dies folgt den Annahmen eines sozialen Konstruktivismus (grundlegend dazu Berger u. Luckmann 2013), weil uns die Welt nie unmittelbar zugänglich ist, sondern wir sie in unserer jeweiligen Wahrnehmung erst zu dem machen, was sie dann für uns ist. Wir tun dies aber nicht beliebig, sondern greifen dazu auf die Kategorien, Begriffe, Muster, Regeln etc. zurück, die uns unsere jeweilige gesellschaftliche Umwelt zur Verfügung stellt. Wir nutzen nicht nur unsere individuellen Vorerfahrungen, sondern über eingespeichertes Wissen auch die Erfahrungen unserer Mitwelt, d. h. unseres sozialen und kulturellen Umfeldes, in dem wir aufgewachsen sind, inklusive der Generationen vor uns. Dieses praktische Wissen ist den Handelnden zumeist nicht reflexiv zugänglich, es bleibt implizit. Sie folgen diesem Wissen, ohne es benennen zu können, so wie wir auch sprechen, ohne uns über die zugrunde liegende Grammatik Gedanken zu machen.
Der Verstehensprozess befasst sich also mit einem immer schon verstandenen Gegenstand, in der Sprache der qualitativen Forschung: mit Konstruktionen ersten Grades. Die Fallarbeit hat es mit Menschen zu tun, die sich ihrerseits einen Reim auf die Dinge gemacht haben, auch wenn er manchmal auf den ersten Blick absonderlich anmutet. Wenn man versucht, die Sinnhaftigkeit dieses alltagspraktischen Verstehens zu rekonstruieren, also seinerseits in seiner Logik zu verstehen, warum eine Person etwas gerade so versteht, wie sie es versteht, und nicht anders, so spricht man von Konstruktionen zweiten Grades.
Um sie zu rekonstruieren, arbeitet man systematisch die Kontextualität von Daten, Informationen und Erzählungen heraus, indem man danach fragt, vor welchem Hintergrund die gemachten Aussagen, d. h. die Konstruktionen ersten Grades, überhaupt erst einen Sinn ergeben.
Der Verstehensprozess zielt darauf ab, die Menschen in ihrer Ganzheit zu erfassen und nicht vorschnell einzelne Aspekte zu isolieren. Dem analytischen Denken, d. h. dem Zerlegen in einzelne Bereiche und Themenfelder, tritt eine ganzheitliche Betrachtung an die Seite, die das so Getrennte wieder zusammenführt. Eine untersuchte Person ist zudem immer auch in ihrer Historizität zu sehen, in ihrem biografischen Lebensvollzug und Gewordensein, eingebettet in eine spezifische soziale, kulturelle und historische Lebenslage. Dieser Blick in die Vergangenheit verbindet sich mit der Annahme einer prinzipiell offenen Zukunft, selbst wenn sie in vielerlei Hinsicht eingeengt erscheint. Der Verstehensprozess arbeitet daher auch nicht mit der Idee allgemeingültiger sozialer Gesetzmäßigkeiten, sondern bevorzugt die Vorstellung, dass unser Denken und Handeln von Regeln und Strategien geleitet ist, die situationsspezifisch zur Anwendung kommen. Sie gilt es zu verstehen.
Damit man diesen Grundannahmen im Verstehensprozess gerecht werden kann, wird seine