Wilhelm Hauff: Märchen, Romane, Erzählungen & Gedichte. Wilhelm HauffЧитать онлайн книгу.
Schöne schien so eifrig darauf zu hören, daß ich nicht mehr wagte, sie anzureden. Unmutig lehnte ich mich an eine Säule zurück, Gott und die Welt, den Papst und seine Lamentationen verwünschend.
Unerträglich war mir der monotone Gesang. Denken Sie sich, sechzig der tiefsten Stimmen, die unisono, im tiefsten Grundton der menschlichen Brust, Bußpsalmen murmeln. Der erste Psalm war zu Ende, eine Kerze auf dem Altar verlöschte. Getröstet, die Farce werde ein Ende haben, wollte ich eben den jungen Lord anreden, als von neuem der Gesang anhub.
Jener belehrte mich zu meinem großen Jammer, daß noch alle zwölf übrigen Kerzen verlöschen müssen, bis ich ans Ende denken könne. Die Kirche war geschlossen und bewacht, an ein Entfliehen war nicht zu denken. Ich empfahl mich allen Göttern, und gedachte einen gesunden Schlaf zu tun. Aber wie war es möglich? Wie Strahlen einer Mittagssonne strömten die tiefen Klänge auf mich zu. Zwei bis drei Kerzen verlöschten, meine Unruhe ward immer größer.
Endlich aber, als die Töne noch immer fortwogten, drangen sie mir bis ins innerste Mark. Das Erz meiner Brust schmolz vor den dichten Strahlen, Wehmut ergriff mich, Gedanken aus den Tagen meiner Jugend stiegen wie Schatten vor meiner Seele auf, unwillkürliche Rührung bemächtigte sich meiner, und Tränen entstürzten seit Jahren zum erstenmal meinem Auge.
Beschämt schaute ich mich um, ob doch keiner meine Tränen gesehen. Aber die Spieler, wunderbarer Anblick! lagen zerknirscht auf ihren Knieen, der Lord und seine Freunde weinten bitterlich. Zwölf Kerzen waren verlöscht. Noch einmal erhoben sich die tiefen, herzdurchbohrenden Töne, zogen klagend durch die Halle, immer dumpfer, immer leiser verschwebend. Da verlöschte die letzte Kerze, und zugleich mit das Feuermeer der Kirche, und bange Schatten, tiefe Finsternis drang aus dem Chor, und lagerte sich über die Gemeine. Mir war, als war ich aus der Gemeinschaft der Seligen hinausgestoßen in eine fürchterliche Nacht.
Da tönten aus des Chores hintersten Räumen, süße klagende Stimmen. Was jenes tiefe, schauerliche Unisono unerweicht gelassen, zerschmolz vor diesem hohen Dolce der Wehmut. Rings um mich das Schluchzen der Weinenden, vom Chor herüber Töne, wie von gerichteten Engeln gesungen, glaubte ich nicht anders, als in einer zernichteten Welt mit unterzugehen und zu hören, der Glaube an Unsterblichkeit sei Wahn gewesen.
Der Gesang war verklungen, Fackeln erhellten die Szene, die Menge ergoß sich durch die Pforten und auch ich gedachte mich zum Aufbruch zu rüsten, da gewahrte ich erst, daß meine schöne Nachbarin noch immer auf den Knien niedergesunken lag. Ich faßte mir ein Herz.
›Signora‹, sprach ich, ›die Tore werden geschlossen, wir sind die letzten in der Kapelle.‹
Keine Antwort. Ich faßte ihre Rechte, die auf der Seite niederhing, sie war kalt und ohne Leben. Sie lag in Ohnmacht.
Ich befand mich in sonderbarer Lage. Die Nacht war schon weit vorgerückt; nur noch einige Flambeaux zogen durch die Kirche, ich mußte alle Augenblicke befürchten, vergessen zu werden. Ich besann mich nicht lange, rief einen der Fackelträger herbei, um mit seiner Hülfe die Dame aufzurichten.
Wie ward mir, als ich den Schleier aufschlug. Der düstere Schein der halbverlöschten Fackel fiel auf ein Gesicht, wie ich es auch auf den herrlichsten Kartons von Raffael nie gesehen! glänzendbraune Locken hatten sich aufgelöst und fielen herab bis in den verhüllten Busen und umzogen das liebliche Oval ihres Angesichtes, auf dem sich eine durchsichtige Blässe gelagert hatte. Die schönen Bogen der Brauen versprachen ein ernstes, vielleicht etwas schelmisches Auge, und den halbgeöffneten Mund, umkleidet mit den weißesten Perlen, konnte Gram, konnte Scherz so gezogen haben.
Als wir sie aufrichten wollten, schlug sie das herrliche, blaue Auge auf, dessen eigener, schwärmerischer Glanz mich so überraschte, daß ich einige Zeit mich zu sammeln nötig hatte. Sie richtete sich plötzlich auf, stand nun in ihrer ganzen Schöne mir gegenüber. Welch zarte Formen bei so vielem Anstand, bei so ungewöhnlicher Höhe des Wuchses. Sie schaute verwundert in der Kirche umher, ließ dann ihre Blicke auf mich herübergleiten:
›Und Sie hier, Otto?‹ sprach sie, nicht italienisch, nein, in reinem, wohlklingendem Deutsch.
Wie war mir doch so wunderbar! sie sprach so bekannt zu mir, ja sogar meinen Namen hatte sie genannt; woher konnte sie ihn wissen? – Sie schien verwundert über mein Schweigen.
›Nicht bei Laune, Freund? und doch haben Sie mich so freundlich unterstützt? Doch! lassen Sie uns gehen, es wird spät.‹
Sie hatte recht. Die Fackel drohte zu verlöschen. Ich gab ihr den Arm. Sie drückte zärtlich meine Hand.
Was sollte ich denken, was sollte ich machen? Betrug von ihr war nicht möglich – das Mädchen konnte keine Dirne sein. Verwechslung war offenbar. Aber sie wußte mich bei meinem Namen zu nennen, sie war so ohne Arg. – Ich wagte es – ich übernahm die Rolle eines verstimmten Verehrers, und schritt schweigend mit ihr durch die Hallen.
Am Portal geht mein Jammer von neuem an. Welche Straße sollt ich wählen, um nicht sogleich meine wahre Unbekanntschaft zu verraten? Ich nahm allen meinen Mut zusammen, und schritt auf die mittlere Straße zu.
›Mein Gott‹, rief sie aus, und zog meinen Arm sanft seitwärts, ›Otto, wo sind Sie nur heute, hier wären wir ja an die Tiber gekommen.‹
Oh! wie hörte ich so gerne diese Stimme! Wie lieblich klingt unsere Sprache in einem schönen Munde. Schon oft hatte ich die Römerinnen beneidet, um den Wohllaut ihrer Töne; hier war weit mehr, als ich je in Rom gehört; es mußte offenbar ein deutsches Mädchen sein, ich sah es aus allem, und doch so reine, runde Klänge ihrer Sprache! Als ich noch immer schwieg, brach sie in ein leises Weinen aus. Ihr tränendes Auge sah mich wehmütig an, ihre Lippen wölbten sich, wie wenn sie einen Kuß erwarteten.
›Bist du mir nicht mehr gut, mein Otto? Ach könntest du mir zürnen, daß ich die Lamentationen hörte? Oh! zürne mir nicht. Doch du hast recht, wäre ich lieber nicht hingegangen. Ich glaubte Trost zu finden, und fand keinen Trost, keine Hoffnung. Alle meine Lieben schienen dem Grab entstiegen, schienen über die Alpen zu wehen, und mit Tönen der Klage mich zu sich zu rufen. Wie bin ich so allein auf der Erde‹, weinte sie, indem ihr blaues Auge in das nächtliche Blau des Himmels tauchte, ›wie bin ich so allein – und wenn ich dich nicht hätte, mein Otto.‹ –
Meine Lage grenzte an Verzweiflung, das schönste, lieblichste Kind im Arme, und doch nicht sagen können, wie ich sie liebte! Als ihre Tränen noch nicht aufhören wollten, flüsterte ich endlich leise: ›Wie könnte ich dir zürnen?‹
Sie schaute freudig dankbar auf – ›Du bist wieder gut? und oh! wie siehst du heute doch gar nicht so finster aus, auch deine Stimme klingt heute so weich! Sei auch morgen so, und laß nicht wieder einen ganzen langen Tag auf dich warten.‹
Sie näherte sich einem Haus und blieb davor stehen, indem sie die Glocke zog. ›Und nun gute Nacht, mein Herz‹, sagte sie, ›wie gerne säß ich noch zu dir auf die Bank, aber die Signora wartet wohl schon zu lange.‹ Ich wußte nicht wie mir geschah, ich fühlte einen heißen Kuß auf meinen Lippen und weg war sie.
Ich merkte mir die Nummer des Hauses, aber die Straße konnte ich nicht erkennen. Nur einen Brunnen, und gegenüber von ihrem Haus eine Madonna in Stein gehauen, konnte ich als Zeichen für die Zukunft anmerken. Ich wand mich mit unsäglicher Mühe durch das Gewirre der Straßen und war doch nicht froh, als ich endlich mein Haus erreichte. Bis an den lichten Morgen kein Schlaf. Zuerst ließ mich der Mond nicht schlafen, der mich durchs Fenster herein angrinste, und als ich die Gardine vorzog, schien gar der Engelkopf des Mädchens hereinzublicken; mitunter zogen auch die Lamentationen durch meinen wirren Kopf, und ich verwünschte endlich ein Abenteuer, das mich eine schlaflose Nacht kostete.
Sehr frühe am andern Morgen traten Lord Parter und einer seiner Freunde bei mir ein. Sie wollten mir begegnet sein, als ich meine rätselhafte Schöne zu Haus brachte, und schalten mich neckend, daß ich sie gestern gänzlich verleugnet habe. Als ich ihnen mein Abenteuer, dem größern Teil nach, erzählte, wurden sie noch ungestümer und behaupteten, mich deutlich schon mehreremal mit derselben Dame gesehen zu haben. Immer klarer ward mir, daß irgendein Dämon sich in meine Gestalt gehüllt habe, da ja auch das Mädchen mich so genau zu kennen