Die Wahrheit kann warten. Arthur SchopenhauerЧитать онлайн книгу.
vom ganz gemeinen Bewusstsein, sowohl des eigenen Selbst als auch der andern Dinge, aus. – Wie verkehrt ist es hingegen, den Ausgang nehmen zu wollen vom Standpunkte einer angeblichen intellektualen Anschauung hyperphysischer Verhältnisse, oder gar Vorgänge, oder auch einer das Übersinnliche vernehmenden Vernunft. Denn das alles heißt vom Standpunkte nicht unmittelbar mitteilbarer Erkenntnisse ausgehen, wo daher, schon beim Ausgange selbst, der Leser nie weiß, ob er bei seinem Autor stehe oder meilenweit von ihm.
§ 7 Weder unsere Kenntnisse noch unsere Einsichten werden jemals durch Vergleichen und Diskutieren des von andern Gesagten sonderlich vermehrt werden; denn das ist immer nur, wie wenn man Wasser aus seinem Gefäß in ein anderes gießt. Nur durch eigene Betrachtung der Dinge selbst können Einsicht und Kenntnis wirklich bereichert werden: Denn sie allein ist die stets bereite und stets naheliegende lebendige Quelle. Demnach ist es seltsam anzusehen, wie seinwollende Philosophen stets auf dem ersteren Wege beschäftigt sind und den andern gar nicht zu kennen scheinen, wie sie immer es vorhaben mit dem, was dieser gesagt hat und was wohl jener gemeint haben mag, sodass sie gleichsam stets von Neuem alte Gefäße umstülpen, um zu sehen, ob nicht irgendein Tröpfchen darin zurückgeblieben sei, während die lebendige Quelle vernachlässigt zu ihren Füßen fließt. Nichts verrät so sehr wie dieses ihre Unfähigkeit und zeiht ihre angenommene Miene von Wichtigkeit, Tiefsinn und Originalität der Lüge.
§ 11 […] Das, was man weiß, hat doppelten Wert, wenn man zugleich das, was man nicht weiß, nicht zu wissen eingesteht. Denn dadurch wird Ersteres von dem Verdacht frei, dem man es aussetzt, wenn man, wie zum Beispiel die Schellingianer, auch das, was man nicht weiß, zu wissen vorgibt.
§ 14 […] Die Religionen haben sich der metaphysischen Anlage des Menschen bemächtigt, indem sie teils solche durch frühzeitiges Einprägen ihrer Dogmen lähmen, teils alle freien und unbefangenen Äußerungen derselben verbieten und verpönen, sodass dem Menschen über die wichtigsten und interessantesten Angelegenheiten, über sein Dasein selbst, das freie Forschen teils direkt verboten, teils indirekt gehindert, teils subjektiv durch jene Lähmung unmöglich gemacht wird, und dergestalt die erhabenste seiner Anlagen in Fesseln liegt.
§ 15 Um uns gegen fremde, der unsrigen entgegengesetzte Ansichten tolerant und beim Widerspruch geduldig zu machen, ist vielleicht nichts wirksamer als die Erinnerung, wie häufig wir selbst über denselben Gegenstand sukzessive ganz entgegengesetzte Meinungen gehegt und solche, bisweilen sogar in sehr kurzer Zeit, wiederholt gewechselt, bald die eine Meinung, bald wieder ihr Gegenteil, verworfen und wieder aufgenommen haben; je nachdem der Gegenstand bald in diesem, bald in jenem Licht sich uns darstellte.
Desgleichen ist, um unserem Widerspruche gegen die Meinung eines anderen bei diesem Eingang zu verschaffen, nichts geeigneter als die Rede: „Dasselbe habe ich früher auch gemeint, aber …“ usw.
§ 16 Eine Irrlehre, sei sie aus falscher Ansicht gefasst oder aus schlechter Absicht entsprungen, ist stets nur auf spezielle Umstände, folglich auf eine gewisse Zeit berechnet; die Wahrheit allein auf alle Zeit, wenn sie auch eine Weile verkannt oder erstickt werden kann. Denn sobald nur ein wenig Licht von innen oder ein wenig Luft von außen kommt, findet sich jemand ein, sie zu verkündigen oder zu verteidigen. Weil sie nämlich nicht aus der Absicht irgendeiner Partei entsprungen ist, so wird zu jeder Zeit jeder vorzügliche Kopf ihr Verfechter. Denn sie gleicht dem Magneten, der stets und überall nach einem absolut bestimmten Weltpunkte weist; die Irrlehre hingegen einer Statue, die mit der Hand auf eine andere Statue hinweist, von welcher einmal getrennt sie alle Bedeutung verloren hat.
§ 17 Was der Auffindung der Wahrheit am meisten entgegensteht, ist nicht der aus den Dingen hervorgehende und zum Irrtum verleitende falsche Schein, noch auch unmittelbar die Schwäche des Verstandes, sondern es ist die vorgefasste Meinung, das Vorurteil, welches, als ein After-Apriori, der Wahrheit sich entgegenstellt und dann einem widrigen Winde gleicht, der das Schiff von der Richtung, in der allein das Land liegt, zurücktreibt, sodass jetzt Steuer und Segel vergeblich tätig sind.
EINIGE BETRACHTUNGEN ÜBER DEN GEGENSATZ DES DINGES AN SICH UND DER ERSCHEINUNG
§ 61 Ding an sich bedeutet das unabhängig von unserer Wahrnehmung Vorhandene, also das eigentlich Seiende. Dies war dem Demokritos die geformte Materie; dasselbe war es im Grunde noch dem Locke; Kanten war es = x; mir Wille. […]
§ 62 Wie wir von der Erdkugel bloß die Oberfläche, nicht aber die große, solide Masse des Innern kennen, so erkennen wir empirisch von den Dingen und der Welt überhaupt nichts als nur ihre Erscheinung, das ist die Oberfläche. Die genaue Kenntnis dieser ist die Physik, im weitesten Sinne genommen; dass aber diese Oberfläche ein Inneres, welches nicht bloß Fläche sei, sondern kubischen Gehalt habe, voraussetzt, ist, nebst Schlüssen auf die Beschaffenheit desselben, das Thema der Metaphysik. Nach den Gesetzen der bloßen Erscheinung das Wesen an sich selbst der Dinge konstruieren zu wollen ist ein Unternehmen dem zu vergleichen, dass einer aus bloßen Flächen und deren Gesetzen den stereometrischen Körper konstruieren wollte. Jede transzendente dogmatische Philosophie ist ein Versuch, das Ding an sich nach den Gesetzen der Erscheinung zu konstruieren, welcher ausfällt wie der, zwei absolut unähnliche Figuren durch einander zu decken, welches stets misslingt, indem, wie man sie auch wenden mag, bald diese, bald jene Ecke hervorragt.
§ 63 Weil jegliches Wesen in der Natur zugleich Erscheinung und Ding an sich, oder auch natura naturata und natura naturans3, ist, so ist es demgemäß einer zweifachen Erklärung fähig, einer physischen und einer metaphysischen. Die physische ist allemal aus der Ursache, die metaphysische allemal aus dem Willen; denn dieser ist es, der in der erkenntnislosen Natur sich darstellt als Naturkraft, höher hinauf als Lebenskraft, im Tier und Mensch aber den Namen Willen erhält. […]
§ 64 Alles Verstehen ist ein Akt des Vorstellens, bleibt daher wesentlich auf dem Gebiete der Vorstellung. Da nun diese nur Erscheinungen liefert, ist es auf die Erscheinung beschränkt. Wo das Ding an sich anfängt, hört die Erscheinung auf, folglich auch die Vorstellung, und mit dieser das Verstehen. An dessen Stelle tritt aber hier das Seiende selbst, welches sich seiner bewusst wird als Wille. Wäre dieses Sichbewusstwerden ein unmittelbares, so hätten wir eine völlig adäquate Erkenntnis des Dinges an sich. Weil es aber dadurch vermittelt ist, dass der Wille den organischen Leib und, mittels eines Teiles desselben, sich einen Intellekt schafft, dann aber erst durch diesen sich im Selbstbewusstsein als Willen findet und erkennt, so ist diese Erkenntnis des Dinges an sich erstlich durch das darin schon enthaltene Auseinandertreten eines Erkennenden und eines Erkannten und sodann durch die vom zerebralen Selbstbewusstsein unzertrennliche Form der Zeit bedingt, daher also nicht völlig erschöpfend und adäquat. […]
§ 66 Der Grundcharakter aller Dinge ist Vergänglichkeit. Wir sehen in der Natur alles, vom Metall bis zum Organismus, teils durch sein Dasein selbst, teils durch den Konflikt mit anderen, sich aufreiben und verzehren. Wie könnte dabei die Natur das Erhalten der Formen und Erneuern der Individuen, die zahllose Wiederholung des Lebensprozesses, eine unendliche Zeit hindurch aushalten, ohne zu ermüden, wenn nicht ihr eigener Kern ein Zeitloses und dadurch völlig Unverwüstliches wäre, ein Ding an sich, ganz anderer Art als seine Erscheinungen, ein allem Physischen heterogenes Metaphysisches? – Dieses ist der Wille in uns und in allem.
In jedem Lebewesen ist das ganze Zentrum der Welt. Darum ist seine Existenz ihm alles in allem. Darauf beruht auch der Egoismus. Zu glauben, der Tod vernichte es, ist höchst lächerlich, da alles Dasein von ihm allein ausgeht. […]
3Etwa: gewirkte (geschaffene) und wirkende (schaffende) Natur.
EINIGE WORTE ÜBER DEN PANTHEISMUS
§ 68 Die in jetziger Zeit unter den Philosophieprofessoren geführte Kontroverse zwischen Theismus und Pantheismus könnte man allegorisch und dramatisch darstellen durch einen Dialog, der im Parterre eines Schauspielhauses in Mailand während der Vorstellung geführt würde. Der eine Kollokutor, überzeugt, sich in dem großen, berühmten Puppenspieltheater des Girolamo zu befinden, bewundert die