Mami Staffel 7 – Familienroman. Lisa SimonЧитать онлайн книгу.
zu lesen, das seit Tagen auf dem Wohnzimmertisch lag.
Anni warf ihr nur einen kurzen strafenden Blick zu, dann schlug sie erneut an, begann aber gleichzeitig freudig mit der langen Rute zu wedeln.
Dann entdeckte Roberta den Grund für Annis Aufmerksamkeit. Am Zaun stand Stephan Hollrieder und winkte zu ihr herüber. Sie konnte seine Umrisse nur schemenhaft erkennen, aber das quietschgelbe T-Shirt leuchtete selbst in der düstersten Dunkelheit.
»Hallo!« Roberta hob die Hand und winkte zurück. »Guten Abend.«
»Guten Abend.« Stephan sprach gedämpft, aber der laue Wind trug seine Stinne mühelos zu Roberta hinüber. »Schlafen die Kleinen?«
»Ja.« Roberta lehnte sich gemütlich in ihren Korbsessel zurück. »Schön, diese Ruhe, nicht wahr?«
»Mhmm.« Stephan schien zu zögern. »Melinda schläft auch«, teilte er ihr nach einer Weile mit. »Wir waren heute zum ersten Mal am Strand, und sie hat sich gleich einen mörderischen Sonnenbrand geholt. Jetzt hat sie eine Tablette genommen.«
Obwohl Roberta immer geglaubt hatte, Schadenfreude oder gar Häme seien ihr fremd, konnte sie sich jetzt einer gewissen Genugtuung nicht erwehren.
»Quarkumschläge sollen helfen«, raffte sie sich dennoch auf, so etwas wie Mitleid zu zeigen. »Aber wenn sie schläft, dann ist es ja gut. Morgen fühlt sie sich bestimmt wieder besser.«
»Hoffentlich.« Stephans Stimme klang skeptisch. »Was tun Sie gerade?«
Roberta streckte sich genüßlich. Dann war plötzlich wieder dieses kleine Teufelchen da, das ihr dauernd Unmöglichkeiten ins Ohr flüsterte.
»Nichts«, antwortete sie und dann fügte sie, zu ihrem eigenen Erstaunen freundlich hinzu: »Wollen Sie nicht herüberkommen? Wir könnten ein Glas Wein miteinander trinken.«
Anscheinend hatte Stephan nur auf diese Einladung gewartet. Ehe es sich Roberta versah, war er über den niedrigen Zaun gesprungen und stand vor ihr.
»Gern.« Stephan strahlte übers ganze Gesicht. »Wissen Sie, es ist schrecklich langweilig, wenn man so allein herumsitzt.«
Mit einem zufriedenen Seufzer ließ er sich in den Korbstuhl fallen und streckte die langen Beine von sich.
Roberta betrachtete ihn einen Moment lächelnd, dann stand sie auf, um den Wein zu holen.
Goldgelb funkelte die Flüssigkeit in den Gläsern. Durch die geöffneten Terrassentüren rieselte leise Unterhaltungsmusik nach draußen. Roberta hatte einen Sender gefunden, der den ganzen Tag Hits und Informationen für die Urlauber, die während der Sommermonate auf der Insel weilten, in den Äther sprudelte. Leise summte sie die Melodie mit, während sie entspannt in ihrem Stuhl lehnte und ihren Gedanken nachhing.
»Bleiben Sie die gesamten Ferien über hier?« wollte Stephan wissen, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten.
Roberta wurde sich erst jetzt wieder seiner Gegenwart bewußt. Eine feine Gänsehaut überzog ihren Rücken, verbunden mit wohligen Schauern, deren Ursprung sich Robbi nicht erklären konnte.
»Ja, ja, wir hatten vor, die gesamten sechs Wochen hierzubleiben«, erwiderte sie rasch, wobei sie sich wunderte, wie kurzatmig ihre Stimme klang. »Die Kinder leben mitten in Frankfurt. Sie kommen so gut wie nie vor die Tür, weil meine Schwester ständig fürchtet, ihnen könnte etwas passieren. Deshalb dachte ich, daß ihnen die Seeluft sicherlich guttun wird.«
Stephan hob sein Glas an die Lippen und kicherte verstohlen.
»Melinda glaubt, die beiden seien Ihre Kinder«, verriet er Roberta. Ein Gedanke, der ihn zu belustigen schien. »Sie ist lieb, wissen Sie, aber leider bildet sich meine Verlobte manchmal vorschnell ein Urteil und ist dann nicht mehr davon abzubringen. Ich habe sie deshalb bisher in dem Glauben gelassen.«
»Von mir aus.« Roberta war es ziemlich egal, was diese Melinda Bronemann von ihr dachte. »Willy und Julchen sind ja auch so gut wie meine Kinder. Ich war bei ihrer Geburt dabei und habe sie übers Taufbecken gehalten. Das ist so gut wie selbst – äh…« Wie sollte sie das ausdrücken? »Selbst gemacht«, schloß Robbi ihre Rede. Sie hatte keine Lust, umständliche Formulierungen zu suchen.
Das Lächeln auf Stephans Gesicht wurde noch ein bißchen breiter. Offensichtlich amüsierte er sich über Robertas Wortwahl.
»Sie waren bei der Geburt der beiden dabei?« hakte er nach. Das Thema interessierte ihn. Ihn interessierte eigentlich alles, was mit Roberta zu tun hatte.
Sie nickte.
»Ja, das war ich.« Für einen Moment verstummte Roberta, in Gedanken in die Vergangenheit zu-rückgekehrt, zu jenem Aprilabend, als Cynthia und sie gemeinsam die »Dippemeß’« in Frankfurt besucht hatten.
Cyndi hatte, obwohl hochschwanger, unbedingt noch Riesenrad und Schiffschaukel fahren müssen. Und dann war’s passiert. Plötzlich, sie standen gerade vor der Mandelbraterei, war Cyndi mit einem gellenden Schrei zusammengebrochen.
Der Mandelbrater hatte zum Glück sofort die Feuerwehr gerufen. Mit Blaulicht und Sirene war Cynthia ins nächste Krankenhaus gebracht worden und dort, weil die Geburt schon im vollen Gange war, umgehend in den Kreißsaal. Roberta, die sie begleitete, hatte die ganze Zeit über Cyndis Hand gehalten, und ehe sie es sich versah, hatte sich Robbi, neben ihrer Schwester stehend und »Atmen, atmen!« brüllend, ebenfalls im Kreißsaal wiedergefunden.
Den werdenden Vater herzuzitieren, dazu war es dann schon zu spät gewesen. Erstens, weil alle Schwestern, Ärzte und Hebammen mit der Geburt beschäftigt waren, zweitens, weil Cynthia Robertas Hand beinahe zerquetschte und absolut nicht gewillt war, sie loszulassen und drittens – na ja, drittens war es das wundervollste Erlebnis, das Roberta jemals zuteil geworden war.
Als Richard, der Vater der Zwillinge, eine Stunde später in der Klinik erschien, hatte er seine beiden Prachtexemplare bereits fix und fertig gebadet und gewickelt in Empfang nehmen können.
»Aber dieses Mal hat Richi geschworen, es anders zu machen«, erzählte Roberta im entspannten Plauderton. »Deshalb sollten die Zwillinge auch für ein paar Wochen aus dem Haus, damit Cyndi sich in aller Ruhe auf die Geburt vorbereiten und Richi darauf aufpassen kann, daß sie nicht wieder Riesenrad fährt oder sonst irgendeinen Unsinn anstellt. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, bei dieser Geburt dabeizusein.«
»Das kann ich verstehen.« Ste-phans Blick war in eine imaginäre Ferne gerichtet. »Ich möchte auch dabeisein, wenn unser erstes Baby auf die Welt kommt.«
Roberta hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet.
Hastig stieß sie die angestaute Luft aus ihren Lippen und spülte den Kloß in ihrem Hals mit einem kräftigen Schlug Wein hinunter.
»Sie wollen Kinder?«
Stephan seufzte.
»Nun ja…« Es klang gedehnt. »Sagen wir mal so, Melinda ist momentan noch absolut dagegen. Was ich auch verstehen kann. Sie hat wirklich viel getan, um den Posten, den sie heute bekleidet, zu erreichen und sich dafür zu qualifizieren. Aber…«
Er verstummte und starrte erneut in die Dunkelheit.
»Aber Sie hoffen, daß sie es sich eines Tages anders überlegt«, vollendete Roberta den Satz, als Ste-phan keine Anstalten machte, weiterzusprechen.
»Ja.« Er lächelte, ohne sie anzusehen. »Ja, stimmt, genau das hoffe ich.« Jetzt wandte er Roberta doch das Gesicht zu. »Wissen Sie, Melinda kann sehr weich, sehr warm, sehr herzlich sein. Momentan ist sie einfach gestreßt. Sie braucht dringend Erholung. Aber warten Sie ab, wenn Sie sie näher kennenlernen, dann werden Sie sich auch mö-gen.«
Es klang wie eine Beschwörung, die er sich wahrscheinlich in den letzten Tagen im stillen immer wieder vorgebetet hatte. Roberta beschloß, Stephan nicht noch mehr zu entmutigen und nickte, obwohl sie sich nichts weniger wünschte, als Melinda näher kennenzulernen.
»Was macht Ihre Verlobte beruflich?«