Amerikanische Reise 1799-1804. Alexander von HumboldtЧитать онлайн книгу.
verschweigen wie einst die Phönizier ihrer Mitwelt die Entdeckung ferner Welten. Es wurden z. B. stets die beiden zugehörigen Atlanten unterschlagen.
Während seine »Reise durchs Baltikum, nach Rußland und Sibirien 1829« (Edition Erdmann, Stuttgart 1983, zweite verbesserte Auflage 1984) völlig rekonstruiert werden musste, lernt der Leser der Reihe »Alte abenteuerliche Reise- und Entdeckungsberichte« nun in kurzem zeitlichen Abstand mit diesem vorliegenden Werk einen durchaus ähnlichen Versuch kennen.
Tatsächlich hat Humboldt seine klassische amerikanische Forschungsreise nur zum kleineren Teil geschildert:
nämlich den Beginn in La Coruña, in Nordwest-Spanien, am 5. Juni 1799, die Atlantik-Fahrt über die Kanarischen Inseln bis zur Landung in Cumaná (an der Küste des heutigen Venezuelas), die Fahrt zum Orinoco und Casiquiare, die Überfahrt und den ersten Aufenthalt auf Kuba, die Seereise von dort zur Küste des heutigen Kolumbiens und den anfänglichen Aufenthalt in diesem Land bis Barrancas Nuevas am Río Magdalena.
Nicht geschildert hat Humboldt:
den Aufenthalt im Gebiet der heutigen Anden-Staaten Kolumbien, Ecuador, Peru, die Überfahrt von Callao (Peru) und den zweiten Aufenthalt in Ecuador, die Seereise von dort nach Mexiko, den Aufenthalt in diesem damals führenden Land Lateinamerikas, die Überfahrt von dort und den zweiten Aufenthalt auf Kuba, die Überfahrt nach den Vereinigten Staaten von Amerika, den Aufenthalt in diesem Land und die Rückfahrt über den Atlantik bis zur Landung in der Garonne bei Bordeaux am 3. August 1804.
Humboldts zum weitaus größten Teil unvollendeter Reisebericht stellte deshalb längst die lohnende Aufgabe einer erstmals reisegeschichtlich begründeten Rekonstruktion, die ich 1959 und 1961 in meiner zweibändigen Biographie ausgeführt habe (Hanno Beck: Alexander von Humboldt. Band I: Von der Bildungsreise zur Forschungsreise 1769–1804; Band II: Vom Reisewerk zum »Kosmos« 1805–1859, XVIII und 742 Seiten, 2555 Anmerkungen, Humboldt-Bibliographie, Personenregister, mit 28 Tafeln, 4 Abbildungen und 6 Karten, Franz Steiner, Wiesbaden 1959 und 1961). Diese erste zusammenhängende Darstellung habe ich 1971 für die spanische Übersetzung (Fondo de Cultura, México 1971) überarbeitet und bringe sie in dieser Ausgabe – praktisch in dritter Auflage – auf den neuesten Forschungsstand, um sie einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich danke meinem Schüler Wolf-Dieter Grün für die Anregung zu diesem Unternehmen. Merkwürdigerweise hatte es bis 1959/61 einen solchen Rekonstruktionsversuch nicht gegeben.
DIE FRAGMENTARISCHEN AUSGABEN
DES UNVOLLENDETEN HUMBOLDTSCHEN
REISEBERICHTES UND DIE EINZIGE
VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE ÜBERSETZUNG
Einige wenige Kenner meinen, Humboldts »eigentlicher Reisebericht« fände sich in der Relation historique (3 Bde. Paris 1814–1817, 1819–1821 u. 1825–1831, Neudruck mit Einführung und Register von Hanno Beck, Stuttgart 1970), verbunden mit dem Atlas Pittoresque. Vues de Cordillères, et monumens des peuples de l’Amérique (Paris 1810–1813) sowie dem Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent (Paris 1814–1838, zitiert nach dem von Hanno Beck herausgegebenen Neudruck: Amsterdam u. New York 1971–1973). In den genannten drei Bänden hat Humboldt seine Reise bis zur Landung und den ersten Aufenthalt im Gebiet des heutigen Kolumbiens geschildert. Noch in Amerika hatte er einen allgemeinen Reisebericht geplant, sich dann aber für die Form seiner Relation historique entschieden, in welcher der rote Faden meist regelrecht unter der physikalisch-geographischen Problemfülle verschwindet. Die Relation historique ist gewiss immer noch ein Reisebericht; dennoch hat sie dessen Form zu einem großartigen Vollzugsorgan physikalisch-geographischen Denkens ausgeweitet. Alles ist Bruchstück geblieben, wie wir schon erwähnt haben. Oft wird mit Humboldts Worten belegt, der »vierte Band« sei nicht erschienen. Diese gelegentliche Angabe entscheidet das Problem nicht, da die drei Bände der Relation historique nur ein gutes Drittel der gesamten Expedition enthalten; wenn Humboldt sein Werk in der Art der vorliegenden drei Bände vollendet hätte, wäre weit, weit mehr Raum nötig gewesen.
So ergeben sich immer neue Probleme, die nun endlich auch von einer größeren Zahl von Lesern gesehen werden sollten.
Dies alles hat noch zu Humboldts Lebzeiten den Verleger Cotta zum Handeln veranlasst. Er beauftragte Hermann Hauff (1800–1865), den Bruder des Dichters Wilhelm Hauff, mit einer deutschen »Bearbeitung«: Alexander von Humboldt’s Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents. In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff. Nach der Anordnung und unter Mitwirkung des Verfassers. Einzige von A. v. Humboldt anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache. 4 Bde. J. F. Cotta, Stuttgart 1859 u. 1860; später: 6 Bde. ebendort 1861–1862.
Wer wirklich einmal den französischen Originaltext mit der Hauffschen Bearbeitung verglichen hat, weiß, dass den sehr werbewirksamen Sprüchen des Titelblattes nicht zu trauen ist. Der Bibliothekar Hauff hat nur eine teilweise Übersetzung geliefert, ließ aber trotz der ausdrücklichen Vereinbarung mit Humboldt viel, oft einfach zu viel aus, während das Titelblatt sich schwer durchschauen ließ und dem Leser die Überzeugung aufdrängte, hier sei ein Problem mit Humboldts Einverständnis gelöst worden. Das war gewiss nicht der Fall. So brach Hauff die Schilderung der Reise einfach mit der Ankunft in Havanna auf Kuba am 19. Dezember 1800 ab, während Humboldt sie bis zum Beginn der Befahrung des Río Magdalena weiterführte. Schon vom Geist des Spezialistentums bestimmt, verstand Hauff die Reise von allen möglichen Einzelwissenschaften her und übersah Humboldts wegweisende Leitidee, ja er ließ die alles entscheidende Passage mit Humboldts „Einführung“ einfach fort und löschte sie damit im Gedächtnis der folgenden Zeit aus. Es sei hier auf ein Register seiner Untaten verzichtet, wissen wir doch ohnehin nicht, auf wen die schwersten Verstümmelungen zurückgehen: auf ihn oder seinen Verleger? Vieles mag an Hauff gelegen haben, während anderes und vielleicht sogar das meiste vom Verlag manipuliert wurde, so etwa der merkwürdige Satz am Schluss in der »Vorrede des Herausgebers«, Humboldt und er, Hauff, seien übereingekommen, »das Buch als literarisches Product möglichst unversehrt zu erhalten, nirgends auszugsweise zu verfahren, sondern im Ganzen überall dem Texte treu zu bleiben« und nur gar zu wissenschaftliche Betrachtungen »abzulösen«. So mag es vereinbart worden sein, allein der Verlag hat sich nicht daran gehalten. Humboldts Vorwort für die Ausgabe vom 26. März 1859 ist 42 Tage vor seinem Tod unterzeichnet worden, d. h. doch, dass Hauff und nicht zuletzt der Verlag »freie Hand« hatten.
Hauff setzte die einzige vollständige Übersetzung von Ferdinand Gottlieb Gmelin (Band 1) und vor allem von Paulus Usteri (Band 2 bis 6, Teil 1) sehr herab: Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804. J. G. Cotta, 6 Theile, Stuttgart u. Tübingen 1815–32). Sie ist nie sehr einflussreich gewesen und seither zu Unrecht vergessen worden, ein Vorgang, den Hauff leider sehr gefördert hat.
Von Hauff leiteten sich die meisten späteren Ausgaben ab, deren Verfassern offenbar nie bewusst war, dass ein französisches Original existierte. Erst die Darmstädter Ausgabe A. v. Humboldt Hanno Becks hat mit drei Bänden, 1306 Seiten und einem Kommentar von 119 Seiten das Problem für den Leser der Gegenwart gelöst. Insgesamt jedenfalls ein wahrhaft niederschmetterndes Ergebnis, und das 145 Jahre nach dem Tod Alexander v. Humboldts am 6. Mai 1859 in Berlin!
Um die hier vorliegende reisegeschichtliche Rekonstruktion verstehen zu können, werden die eben gewonnenen Einsichten nun zunächst mit Humboldts Leben verbunden.
KURZER BLICK AUF HUMBOLDTS LEBEN UND DAS WERDEN SEINER LEITWISSENSCHAFT
Alexander v. Humboldt wurde am 14. September 1769 in Berlin geboren. Bis zum Alter von 30 Jahren kränkelte er nach eigenem Bekenntnis oft. Seine Eltern, der preußische Major Alexander Georg v. Humboldt und Marie Elisabeth, geb. Colomb, vertrauten seine Erziehung Hauslehrern an, die den für die frühe Kindheit recht erheblichen Altersunterschied zwischen den Brüdern Wilhelm (1767–1835) und Alexander (1769–1859) nicht ausglichen. Da der Unterricht philologisch-geisteswissenschaftlich bestimmt war, kam er der Begabung